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NICHT FÜR MICH GEDACHT

Seattle, Washington · 23. März

 

Ein plötzliches Kratzen am Fenster im vorderen Zimmer, gefolgt von einem neugierigen Miauen Eeries, erregte Heathers Aufmerksamkeit. Sie sah von ihrem Laptop auf. »Jagst du Motten, Katerchen?« Doch dann kam ihr ein anderer Gedanke: nachts. Dante. Morgen Abend. Gleich als Erstes.

Sie schob den Stuhl zurück und stand auf. Falls es nicht Dante war, der schon wieder durch ihr gottverdammtes Fenster stieg, fasste sie vorsichtshalber nach ihrer Tasche und der Achtunddreißiger, die darin versteckt war.

Das Fenster wurde hochgeschoben. Bleiche Hände fassten nach dem Rahmen, und ein schwarz gekleidetes Bein, vom Knöchel bis zur Hüfte mit Vinylriemen und Schnallen besetzt, schwang sich über das Fensterbrett ins Zimmer. Kurz darauf stand Dante in Heathers Wohnung. Eine Kapuze verbarg sein Gesicht, aber nicht das leidenschaftliche Funkeln seiner Augen.

»Hi«, sagte er, während er sich aufrichtete und die Kapuze zurückschob. Ein Lächeln umspielte seine Lippen.

Sein Anblick traf sie im Herzen. Wie immer entspannten sich Heathers Muskeln. »Ich hätte dich erschießen können, weißt du das? Warum zum Teufel benutzt du nicht die Haustür? «

Dante zuckte die Achseln. Als er sich umdrehte, knarzte seine Lederjacke, und er schloss das Fenster.

Er tastete das defekte Schloss ab. »Ich habe etwas mitgebracht, um es zu reparieren.«

»Weißt du überhaupt, wie man einen Schraubenzieher benutzt? «

Dante prustete. »Wie schwer kann das schon sein? Schiebe A in B und drehe. Könnte sogar Spaß machen.«

»Klingt sexy, aber wo ist der Kuss?«

Dante schürzte die Lippen und warf ihr einen Kuss zu. »Reicht das?«

Heather warf einen Blick über die Schulter. »Daneben, Amor. Aber Eerie schnurrt.«

Dante lachte. Er wies mit dem Kopf auf den Computer. »Hast du etwas herausgefunden? Zum Beispiel, wo … er lebt?«

Heather schüttelte den Kopf. »Noch nicht. All seine Aufzeichnungen haben Sicherheitsstufen, die ich noch nie gesehen habe. Die letzte bekannte Adresse war in Maryland, und die ist fünf Jahre alt. Ich habe ihn bis zur Westküste verfolgt, wo er verschwindet. Aber ich suche noch. Dafür habe ich einige andere spannende Entdeckungen gemacht.«

»Ja?«

Heather zögerte. »Wenn du mir dabei hilfst, Dante, dann gerätst du ins Fadenkreuz – noch mehr als bisher.«

»Das ist mir egal. Du warst für mich da, und jetzt bin ich für dich da.«

Heather hielt seinem Blick stand. »Das ist mein Beruf.«

»Ach was. Man hatte dich abgezogen. Fall erledigt. Du bist allein und ohne Rückendeckung geblieben, um mir zu helfen.«

Sie hatte ihn im Stich gelassen. Mehrfach. »Ich habe dir nicht wirklich geholfen.«

»Doch«, widersprach er. Mit schnellen Schritten durchquerte er das Zimmer und trat neben sie. Er umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen – fiebrigen Händen –, und sie blickte in seine dunklen Augen, in deren ungeschützte Tiefen sie gezogen wurde. »Du hast alles für mich riskiert, und du hast nie aufgegeben.«

»Du auch nicht.« Heather nahm seine Rechte und drückte sie auf ihre Brust an die Stelle, wo ihr verheiltes Herz schlug. Etwas in ihr begann zu erklingen, ausgelöst durch seine Berührung, und hallte von seiner Handfläche in ihr Herz und zurück. Ein kristallklarer Klang verband sie einen Augenblick lang, rein und makellos.

Sie hielt den Atem an, und einen Atemzug lang glaubte sie, dunkle Flügel hinter Dantes Rücken zu sehen, die sich aufklappten und um sie legten.

Seine Augen strahlten fasziniert. »Horch«, flüsterte er und senkte sein Gesicht zu ihr herab.

Mit rasendem Puls sah Heather zu ihm auf. Er küsste sie. Seine Lippen waren ebenso fiebrig wie seine Hände, sein Kuss schien voller Begehren und war ein wenig rau. Als er leidenschaftlicher wurde, glaubte sie, ein Lied zu hören – wild und düster –, dessen komplizierte Melodie sich um den kristallklaren Refrain zwischen Hand und Herzen schlang, der noch immer zwischen ihnen erklang. Das Lied setzte ihr Herz und ihre Seele unter Strom und steckte ihr Inneres in Flammen.

Sie hört das Rauschen von Flügeln.

Viel zu schnell beendete Dante den Kuss und trat zurück. Seine Hände glitten von ihrer Brust und von ihrem Gesicht und ballten sich zu Fäusten. Der Gesang verstummte. Seine Kiefermuskeln spannten sich an.

»Was ist?«, fragte Heather.

Er schüttelte den Kopf und fuhr sich dann mit der Hand durchs Haar. »Wie geht es Annie?«

Verwirrt von seinem jähen körperlichen und emotionalen Wandel zuckte Heather die Achseln. »Im Augenblick geht es ihr gut. Sie ist zum Supermarkt gegangen, um sich Zigaretten zu holen.«

»C’est bon.« Dante wies mit dem Kopf auf den Tisch. »Was hast du herausgefunden?«

»Setz dich«, sagte Heather. »Ich zeige es dir.«

Dante zog seine Lederjacke und den darunter befindlichen Kapuzenpulli aus und hängte beides über die Rückenlehne eines Stuhls. Unter einem dunklen T-Shirt trug er ein langärmliges Netzshirt. Auf der Brust stand in großen Lettern »Leck mich«. Wie üblich drehte er den Stuhl um und setzte sich rücklings darauf. Dann verschränkte er die Arme und wartete.

Heather zog ihren Stuhl heran, damit sie sich neben ihn setzen konnte. Durch das rasche Drücken einer Taste weckte sie den Laptop aus seinem Standby-Modus, und eine Datei zeigte sich auf dem Bildschirm. Sie öffnete sie. Ein Foto erschien.

»Senior Agent Alexander Lyons«, erläuterte Heather. »Von der Dienststelle in Portland. Er hat mich zu dem Ort begleitet, wo man meine Mutter tot auffand. Einwandfreier Ruf, außerordentliche Testergebnisse, ausgezeichnete Arbeit. Vor fünf Jahren ließ er sich von Washington nach Portland versetzen.«

»Weshalb?«

»Anscheinend wegen einer Krankheit in der Familie. Seine Mutter hatte Krebs, soweit ich weiß.«

»Wieso hat man gerade ihn damit beauftragt, dich im Auge zu behalten, statt jemanden etwas weiter unten auf der Leiter? «

»Gute Frage«, sagte Heather. »Soweit ich das herausfinden konnte, gab ihm Rodriguez in Seattle den Auftrag … oh, verzeih, ich meine natürlich, er bat ihn, sich um meine Sicherheit zu kümmern, und genau das ist auch spannend.«

»Wieso?«

Heather klickte Alex Lyons Datei weg und öffnete eine andere. Eine Weile scrollte sie durch den Text, ehe sie die Stelle fand, die sie suchte, und sie markierte. »Lies«, flüsterte sie.

»William Ricardo Rodriguez, dessen Schreckensherrschaft als der Güterwagen-Würger vor zehn Jahren endete, als er von Agenten gestellt wurde, starb im Gefängnis, nachdem er zu mehrmals lebenslänglich verurteilt worden war. Er wurde bei einem Streit von einem Mithäftling ermordet. Rodriguez’ Vater, FBI-Agent Alberto Rodriguez, hatte erheblich dazu beigetragen, dass sein Sohn gefasst wurde.« Dante sah auf und stieß einen leisen Pfiff aus. »Heiliger Strohsack.«

Heather nickte. »Kannst du dir das vorstellen? Dein Sohn ist nicht nur ein Serienmörder, sondern du bist auch noch maßgeblich an seiner Festnahme beteiligt. Doch wie unfassbar und tragisch das auch sein mag, das ist noch nicht der interessante Teil.«

»Nein?«

Heather sah Dante lange schweigend an, dann sagte sie: »Den nächsten Teil zu lesen könnte schwierig sein, vielleicht sogar unmöglich. Ich werde …«

In Dantes Augen glomm plötzliches Begreifen auf. »Nein, ich lese es selbst«, sagte er leise. »Du machst nur weiter, falls ich …« Er zeichnete Kreise in die Luft.

»Gut.«

Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Computer zu. »Einige Jahre zuvor hatte Senior Agent Rodriguez Anzeige wegen Fahrlässigkeit gegen Dr. Robert …« Dante brach ab. Er schloss die Augen und massierte sich die Stirn. »Warte. Ich versuche es noch einmal.«

Heather legte eine Hand auf seinen Arm und drückte ihn sanft. »Du musst das nicht.«

»Doch, irgendwie schon.« Er öffnete die Augen wieder und sah auf den Bildschirm. »Anzeige wegen Fahrlässigkeit gegen Dr. Robert …« Wieder brach er ab und blinzelte mehrfach. Er warf Heather einen fragenden Blick zu. Seine Pupillen waren erkennbar geweitet. »Was habe ich gesagt?«

Heather starrte ihn an. Ihre Finger klammerten sich automatisch fester an seinen Arm. Ihr lief es eiskalt über den Rücken. »Du hast vorgelesen, weißt du noch?«

An Dantes Haaransatz und seinen Schläfen glitzerte Schweiß. »Ein FBI-Agent …«

»Schau mich an, Dante, nicht den Bildschirm.«

»D’accord.« Seine geheimnisvollen Augen richteten sich auf Heather. Er wirkte wieder konzentrierter.

»Ein FBI-Agent namens Rodriguez«, sagte sie. »Er hat Anzeige wegen Fahrlässigkeit gegen den Mann erstattet, an den du dich nicht erinnern kannst, weil dieser Mann Rodriguez’ Sohn wegen einer emotionalen Störung behandelte.«

»Dieser Sohn wurde dann der Güterwagen-Würger«, fügte Dante hinzu. Mit beiden Händen strich er sich die Haare aus der Stirn. Sein bleiches Gesicht wirkte nachdenklich, doch in seinen Augen schimmerte Schmerz auf. »Wollen wir wetten, dass Rodriguez’ Sohn Teil von Bad Seed war?«

»Da kannst du Gift darauf nehmen«, sagte Heather. »Das würde auch erklären, dass Rodriguez einen Senior Agent wie Lyons beauftragte, mich zu begleiten. Jemanden wie mich oder dich, der auf irgendeine Weise mit Bad Seed in Kontakt kam, will Rodriguez bestimmt im Auge behalten, und dazu braucht er Leute, denen er trauen kann, Leute mit bestimmten Fähigkeiten. Er muss Lyons sehr vertrauen.«

Sie drehte sich zur Seite und legte ihre Hand auf Dantes Wange. »Alles in Ordnung? Ich hätte dich das nicht lesen lassen sollen …«

»Nein, es war meine Entscheidung.«

»Ich mache uns Kaffee«, sagte sie, zog ihre Hand fort und stand auf. »Ich würde dir ja gerne was Stärkeres anbieten, aber solange Annie hier ist, tue ich das lieber nicht.«

»Je comprend, catin.«

Eerie gab Dantes Stuhl einen kleinen Kopfstoß und schnurrte. Dante hob ihn hoch und setzte ihn auf seinen Schoß.

»Er scheint dich sehr zu mögen«, sagte Heather und ging in die Küche. »Ich hatte eigentlich angenommen, Tiere hätten vor Nachtgeschöpfen Angst oder Respekt, so von Raubtier zu Raubtier, weißt du. Aber bisher hat Eerie das Gegenteil gezeigt. «

»Nein, ich habe mit Tieren nie Probleme«, antwortete Dante. »Manchen Nachtgeschöpfen fällt der Umgang nicht so leicht, aber das sind nur die Idioten, weißt du? Ich glaube, es liegt daran, dass wir alle ein Teil der natürlichen Welt sind.«

Merkwürdiger Gedanke. Vampire als Teil der Natur. Heather gab einige Löffel Kaffeepulver in den Filter, schüttete Wasser in die Kaffeemaschine und schaltete diese ein. Dann kehrte sie zum Tisch zurück, an dem Dante noch saß.

Eerie hatte es sich auf seinem Schoß bequem gemacht. Er lag mit geschlossenen Augen schnurrend da, während Dante ihn mit der linken Hand unterm Kinn kraulte. In der rechten hielt er ein Bild. Heather warf einen Blick darauf. Es zeigte Shannon und James, wie sie nebeneinander auf einer Couch mit Blumenmuster saßen und war kurz vor ihrer Hochzeit, also auch vor Heathers Geburt, aufgenommen worden.

Es zeigte Shannon, wie sie James einen Kuss auf die Wange gab. Ihre Hände mit zart lila lackierten Fingernägeln hielten seinen Schenkel fest, der in einer Jeans steckte. Ihr langes rotes Haar, im damaligen Stil etwas toupiert, umrahmte ihr Gesicht. James lachte, und die Augen hinter seiner Brille waren geschlossen. Eine honigblonde Locke fiel ihm in die Stirn. Beide sahen unglaublich jung und glücklich aus.

Wenn Heather ihren Vater gefragt hätte, hätte er sich dann überhaupt noch an jene Minute des Glücks erinnern können, die mehr als zwanzig Jahre zurücklag? Minuten des Lachens und des Glücks verschwanden so schnell, wehten davon wie eine Sommerbrise. Aber Tragödien und Unglück brannten sich in die Herzen und Seelen wie ein Blitzeinschlag, der innerhalb einer Sekunde alles veränderte …

Eure Mutter wird nicht mehr heimkommen.

… auf immer.

»Du siehst ihr sehr ähnlich«, murmelte Dante mit einer belegt klingender Stimme.

»Vielleicht ein wenig«, gab Heather zu. »Seit sie gestorben ist, träume ich immer wieder von ihrem Tod, Alpträume, meine ich wohl.«

Dante nickte.

»Allerdings sind diese Träume seit Washington irgendwie verständlicher und detaillierter geworden, und sie fühlen sich nicht mehr wie Träume an. Ich habe das Gefühl, die Welt durch ihre Augen zu sehen. Letzte Nacht hatte ich tatsächlich den Eindruck, Shannon Wallace zu sein.« Heather hielt einen Augenblick lang inne, ehe sie weitersprach. »Liegt das an dir?«

Behutsam legte Dante das Bild ihrer Eltern auf den Tisch zurück. Er sah Heather gedankenvoll und beunruhigt an. »Könnte sein. Aber falls dem so ist, habe ich es jedenfalls nicht absichtlich gemacht.«

»Das weiß ich«, sagte Heather sanft. »Ich mache dir keine Vorwürfe. Ich versuche es nur zu verstehen. Eventuell hat ja auch mein Nahtoderlebnis etwas in mir ausgelöst.«

Dante nickte. »Das wäre möglich.«

Das war es tatsächlich, auch wenn sie fast sicher war, dass Dante diese Veränderung in ihr ausgelöst hatte. Die wichtige Frage – eine Frage, die auch Dante nicht beantworten konnte – lautete jedoch: Hatte er noch andere Veränderungen in sie gewebt, als er ihr Leben rettete?

»Was ist mit dir? Hast du etwas über deine Mutter erfahren? «

»Ich habe Trey nach Informationen über sie suchen lassen«, sagte Dante. »Wir haben nichts gefunden. Als hätte sie nie existiert. Die haben sie nicht nur umgebracht, sondern auch alle beschissenen Spuren von ihr vernichtet.«

»Es muss etwas zu finden sein«, sagte Heather. »Sie lebte in New Orleans. Jemand muss sie gekannt haben. Mit ihr zusammengearbeitet. Irgendwas.« Sie streichelte seinen Arm. Ihre Finger strichen sanft über den Netzstoff, unter dem sie die heiße Haut und die festen Muskeln spürte. »Vielleicht solltest du Lucien fragen.« Die Muskeln unter Heathers Fingerkuppen spannten sich an.

»Nein.« Dantes Augen funkelten einen Moment lang zornig, und er schien die Zähne zusammenzubeißen.

»Du siehst ihr ähnlich, weißt du«, sagte Heather sanft. »Sehr sogar. Sie war eine attraktive Frau. Schwarzes Haar, dunkle Augen, ein warmes Lächeln.«

Dante nickte und wandte den Blick ab. »Ja, das sagt Lucien auch.«

Heather wünschte sich, De Noir hätte die Bad-Seed-CD nicht zerstört, auf der Dantes Geburt und seine grauenvolle Kindheit dokumentiert gewesen waren. Sie wünschte, sie hätte ein Bild Genevieve Baptistes, das sie Dante hätte geben können – eine Erinnerung, die er anschauen konnte, wann immer er wollte, eine Erinnerung, die er behalten durfte. Wells und Moore konnten Genevieves Existenz nicht ganz und gar ausgelöscht haben. Nicht völlig. Heather und Dante mussten nur noch etwas tiefer graben, um sie zu finden. Da war sie ganz sicher.

Das Aroma frischen Kaffees drang zu ihnen herüber. Heather ließ Dante los, stand auf und ging in die Küche, um Kaffee einzuschenken. Als sie sich umdrehte, trat Dante gerade hinter ihr ein und klopfte sich Katzenhaare von seiner Samt-Vinyl-Hose.

»Ich kann mir schon selbst einschenken, weißt du«, sagte er.

Heather gab ihm seinen Becher. »Ja, klar – es ist ja auch so schwer, sich zu merken, wie du deinen Kaffee willst: schwarz.«

Er lächelte. »Merci beaucoup.«

»Ich wollte dir für gestern Abend danken«, antwortete sie.

Er sah sie an. Sein bleiches Gesicht war verdutzt. »Wofür?«

»Weil du aufgeräumt hast und nett zu Annie warst, obwohl sie Lügen über dich verbreitet hat. Dafür wollte ich mich auch noch entschuldigen.«

»Das musst du nicht«, antwortete Dante. »Du schuldest mir nichts.«

»Doch, Dante, doch«, widersprach sie. »Ich habe dir vorgeworfen, meine Schwester geküsst zu haben, und dabei hatte ich kein Recht …«

»Psst.« Er legte einen Finger auf ihre Lippen. »Vergiss es.« Er beugte sich vor und drückte statt seines Fingers die Lippen auf ihren Mund. Es war ein warmer, langer Kuss. Sie schlang die Arme um seine Taille, und sein erdig-vertrauter Geruch stieg ihr in die Nase. In ihrem Bauch loderte eine Glut, ein Feuer, von dem sie bisher gar nicht gewusst hatte, dass es in ihr schlummerte.

Er sah ihr in die Augen. »Annie ist wieder da«, flüsterte er.

Heather hörte, wie sich die Haustür öffnete und wieder schloss. »Euer Gehör ist wirklich beeindruckend«, antwortete sie leise. Sie ließ seine Taille los und ging an ihm vorbei aus der Küche ins Wohnzimmer. Dort warf sich Annie gerade aufs Sofa und schaltete mit der Fernbedienung den Fernseher an.

»Hi«, grüßte Heather sie. »Ich habe gerade angefangen, mir Sorgen zu machen.«

Annie rollte mit den Augen. »Musstest du nicht. Ich war brav. Ich habe nichts getrunken und nichts Ungesetzliches gekauft, ich …« Sie verstummte abrupt, und ihr Blick ging an Heather vorbei. Ihre Augen weiteten sich.

Heather spürte Dante neben sich treten.

»Hey, Annie«, sagte er.

»Heilige Scheiße«, hauchte Annie. »Es waren also nicht der Tequila und das Oxy. Du siehst wirklich so verflucht gut aus.«

»Danke, das hat man mir schon mal gesagt. Ist mir egal. Nur damit du Bescheid weißt.«

»Du würdest anders reden, wenn du nicht so attraktiv wärst«, erklärte sie und lehnte sich auf dem Sofa zurück. Ihre Augen blitzten. »Dann brächte jedes Kompliment dein Herz zum Schmelzen und dich dazu, dich in denjenigen zu verlieben, der es gemacht hat.«

»Annie …«, seufzte Heather.

»Nein, sie könnte Recht haben«, sagte Dante. »Aber woher willst du das so genau wissen, Annie?«

Sie hob eine Hand und winkte ab. Dante zeigte auf sein T-Shirt mit der Aufschrift »Leck mich« und zog eine Braue hoch.

»So?«, antwortete sie herausfordernd. Sie wies auf ihren Schritt. »Du zuerst.«

»Ist das ein neues Spiel?«, fragte Heather bewusst unschuldig. »Wie geht es? Man zeigt auf Körperteile, bis jemand daneben zeigt und sich aus Versehen ein Auge aussticht, oder was?«

Annie starrte sie einen Augenblick lang an und sagte dann: »Weißt du was? Als Saufspiel würde das bestimmt funktionieren. «

Dante sah Heather an. Seine Augen blitzten belustigt. Er wirkte glücklich, heiter und entspannt. Sie genoss es, ihn so zu erleben, und es freute sie zu wissen, dass sie der Grund dafür war. Sogar sehr.

Ihr wurde auf einmal klar, dass sie viele düstere, schmerzhafte Dinge über Dantes Leben wusste – mehr als er selbst –, doch von den einfachen Dingen, die ihn ausmachten, wusste sie kaum etwas. Was waren seine Lieblingsfarbe und seine Lieblingsband, was las er gern oder welche Kleidergröße hatte er? Wann hatte er Geburtstag? Oh, der war in … genau vierundzwanzig Tagen.

Er ging zum Tisch und stellte seinen Becher auf die übersäte Platte. »Ich sollte dein Fenster reparieren, ehe ich ins Vespers zurückgehe«, sagte er und holte einige Werkzeuge und ein neues Schloss aus der Tasche seiner Lederjacke. Damit ging er zum Fenster. Eerie folgte ihm mit ein paar Sprüngen. Dante beugte sich über das Fensterbrett und setzte den Schraubenzieher an.

Heather lächelte. »Du weißt also wirklich, wie man einen Schraubenzieher benutzt.«

»Nützlich, um Schlösser aufzubrechen.«

»Zwing mich nicht, dich zu verhaften.«

Dante lachte. »Nein, Ma’am. Das haben wir ja schon hinter uns.«

»Ja.«

Ein paar Minuten später hatte er das neue Schloss befestigt. Eerie sprang aufs Fensterbrett und lobte ihn laut miauend. Schmunzelnd kraulte Dante den orangebraunen Kopf des Katers. »Ohne deine Hilfe hätte ich es nicht geschafft, Minou«, sagte er. Dann warf er Heather einen Blick zu. »Er bewegt sich außerordentlich elegant, obwohl er nur drei Beine hat.«

»Stimmt«, antwortete sie. »Im Tierheim, aus dem ich ihn habe, meinten sie, ein Hund habe ihn angegriffen. Irgendwie hat er überlebt, und es scheint ihn nicht zu behindern.«

»Nein, behindert ist er nicht, was, Minou?«, sagte Dante und kraulte Eerie ein letztes Mal.

Dann nahm er seinen Pulli und seine Jacke und zog beides an. Einige Ketten klirrten leise. Er steckte den Schraubenzieher wieder ein, setzte die Kapuze auf und verdeckte so sein schönes Gesicht. Heather verstand, warum er sich so verbarg, aber es stimmte sie auch etwas traurig, dass er es für nötig hielt. Sie ging mit ihm zum Fenster.

»Also – was wünschst du dir zum Geburtstag?«, fragte sie.

»Zum Geburtstag?« Sein Gesichtsausdruck war ebenso überrascht wie der Klang seiner Stimme. »Welchem Geburtstag?«

Heather starrte ihn an. »Hast du nie Geburtstag gefeiert? Keine Kindergeburtstage und so?«

»Nicht, dass ich mich erinnern könnte. Ich dachte einfach, das gibt es bei mir nicht, so wie auch Schule oder Tageslicht nie etwas für mich waren.« Er wirkte sachlich und gelassen.

Sie wurde plötzlich wütend. Ein tosender Sturm des Zorns brauste durch ihre Adern. Ihr Herz raste so, dass ihr ganzer Körper zu beben schien. Dante hatte keine Ahnung, wie alt er war oder wann er Geburtstag hatte. Niemand hatte es ihm gesagt. Diese Bastarde hatten ihm selbst das genommen.

»Heather? Alles in Ordnung?« Dantes schwarze Brauen zogen sich zusammen.

Sie holte tief Luft. Beruhigte sich. »Ja, alles in Ordnung«, entgegnete sie. »Du hast am sechzehnten April Geburtstag.«

»Wirklich? Am sechzehnten April – und wie alt werde ich?«

»Vierundzwanzig, Dante«, sagte sie voller Trauer. »Vierundzwanzig. «

»Ja?« Ein Lächeln huschte über seine Lippen und erhellte auch seine Augen. »Gut zu wissen.«

»Wirst du je die Haustür benutzen?«, fragte sie, als er wieder durch das offene Fenster glitt.

»Weiß nicht.« Dante kletterte hinaus. »Möglich. Bis später im Vespers, chérie