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NUR EIN MYTHOS

Seattle, Washington – Vespers · 22. März

 

Dante schritt in die Garderobe hinter der Bühne des Vespers. Von, der es sich auf einem schäbigen Sessel bequem gemacht hatte, blickte von einer Ausgabe der Newsweek auf, die er gerade las.

»Wurde auch langsam Zeit«, sagte er, die Vokale auf Südstaatenart langziehend. »Du hast den Soundcheck verpasst.«

»Nö«, gab Dante zurück. »Bei unseren Soundchecks verpasst man echt nichts.« Er packte einen Klappstuhl aus Metall, der vor einem Schminktisch mit Spiegel stand, drehte ihn um und setzte sich rücklings darauf. Im Spiegel beobachtete er, wie Von seine Zeitschrift über die Armlehne des Sessels drapierte.

»Der Witz kommt immer wieder gut«, meinte der Nomad.

»Freut mich zu hören. So bin ich nun mal, immer darauf bedacht, die Leute zu erfreuen.«

Von schnaubte.

Dante nahm die Sonnenbrille ab und warf sie auf den Tisch. Er schloss die Augen. Er sah immer noch Heather am Fenster vor sich, wie sie in die Nacht blickte, roch sie noch, nahm ihren Duft von Flieder, Salbei und bittersüßem Leid wahr und spürte die Weichheit ihrer Wange unter seinen Fingerspitzen.

Er öffnete die Augen und schob die Kapuze zurück. Dann fuhr er sich durchs Haar. Ihm war kalt, und er zitterte. Er rieb sich mit den Händen das Gesicht und merkte, wie dringend er Blut brauchte. Vor allem nach dem Gig. »Du und Silver, hattet ihr schon zu trinken?«, fragte er.

»Ja … aber ist das ein Riss da in deinem Hemd?« Vons Stimme klang misstrauisch. »Hast du es wieder wild getrieben? Oder hat dich die zähe kleine Heather mit einem großen, bösen Messer begrüßt?«

Dante betrachtete Vons aufmerksam amüsierte Miene im Spiegel. »Nein. Ihre Schwester.«

Der Spott verschwand aus Vons Gesicht. Er setzte sich auf. »Echt? Bist du in Ordnung?«

»Ja, alles im grünen Bereich.« Dante zog den Kapuzenpulli aus und hängte ihn über die Rückenlehne des Stuhls. Seine Sachen lagen auf dem Tisch neben einer großen Flasche mit grünem europäischen Absinth vom Schwarzmarkt. Er öffnete seine Schminktasche und suchte nach dem schwarzen Kajal. Als er ihn hatte, zog er ihn heraus und begann, die Umrandung um die Augen aufzufrischen.

»Die Nachtgeschöpfe Seattles sind für die Show gekommen«, sagte Von. »Nun, jedenfalls einige von ihnen. Die Dame des führenden Hauses hat gebeten, dich noch vor dem Gig zu sprechen, wenn das ginge.«

»Sie kann wie alle anderen warten, dass ich mich nach dem Konzert zeige«, antwortete Dante. »Warum sollte sie eine Sonderbehandlung kriegen, nur weil sie ein Nachtgeschöpf ist?«

»So bist du nun mal – immer darauf bedacht, die Leute zu erfreuen.«

»Mein verdammter Lebenszweck«, stimmte Dante zu. Er hielt inne, den Kajal gegen den Augenwinkel gepresst. Eine plötzliche Bewegung hatte ihn aufmerken lassen.

Eli eilte durch die Vorhänge in den Raum. »Dante! Ich habe gerade begonnen, mir Sorgen zu machen«, sagte er müde und angespannt. »Welche Set-Liste willst du heute Abend?« Er ging neben Dantes Stuhl in die Hocke. Dieser nahm den Geruch von Patschuli und Hasch wahr, den Eli ausströmte.

»Die erste. Wieso so gehetzt, mon ami

Eli schüttelte den Kopf, wodurch seine Dreadlocks hin und her schwangen. Seine Miene wirkte gespannt. »Ich hatte Programmierprobleme mit den Keyboards.«

»Gut, ich schaue es mir nachher an«, meinte Dante. »Vielleicht finde ich ja heraus, was los ist.«

»D’accord.«

Dante warf den Kajal auf den Tisch. Noch immer wirkten Elis haselnussbraune Augen besorgt. »Was verschweigst du mir? Warum bist du so angespannt?«

»Im Publikum sind Nachtgeschöpfe«, antwortete Eli.

»Das ist doch nichts Neues.«

»Sie suchen nach schnellen Mahlzeiten von außerhalb.«

»Ja? Wo sind Jack und Antoine?«

»Sie schauen Dogspit beim Aufbauen zu. Silver ist bei ihnen und versucht, alles im Blick zu behalten.«

»Ich richte ein paar Worte an die Nachtgeschöpfe, ehe wir mit dem Konzert anfangen. Ja?« Dante legte einen Finger an Elis Kehle. Sein schwarz lackierter Fingernagel ließ die winzige, schimmernde Fledermaus-Tätowierung noch stärker hervortreten, die sich dort befand – eine Tätowierung, die nur Nachtgeschöpfe sehen konnten. »Pass auf, dass du das nicht aus Versehen verdeckst, und erinnere auch die anderen daran: Man muss das Zeichen sehen können. Sonst nützt es nichts.«

»Mache ich.«

»Sonst noch was?«

Eli schüttelte wieder den Kopf und lächelte. »Das war alles.«

Dante drehte sich zu ihm um und beugte den Kopf nach vorn. Eli richtete sich gleichzeitig auf, so dass Dante mit einer Hand sein Gesicht umfasste und seine dargebotenen Lippen küsste. »Bonne chance, ce soir«, flüsterte er.

»Et toi.« Eli richtete sich ganz auf und verließ die Garderobe.

»Warum ist Heather nicht mitgekommen?«, wollte Von wissen. »So wie sie vorher nach dir gesucht hat, hätte man meinen können, du würdest gleich in Flammen aufgehen, und sie wäre die Einzige mit einem Eimer Wasser.«

Dante stand auf und drehte sich um. Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Ihre Schwester hat dem Augenblick irgendwie den Zauber genommen. Ihr geht es nicht gut. Heather musste bei ihr bleiben.«

Von wies mit dem Kopf auf den Schnitt in Dantes Latex-shirt. »Kann ich mir vorstellen.«

»Das FBI will sie nicht gehen lassen«, flüsterte Dante. »Sie planen, ihr so richtig wehzutun, wenn sie sich weigert, ihre Seele zu verkaufen. Sie hat bis Montag, um sich zu entscheiden.«

»Das hat sie gar nicht erwähnt«, meinte Von und wirkte ein wenig gekränkt. »Sie hat nur von den Problemen geredet, die du möglicherweise haben könntest. Hat mir ein bisschen von Bad Seed erzählt.«

»Tja, ich hingegen mache mir nur Sorgen um Heather«, sagte Dante. »Ich werde ihr helfen, ihre Freiheit zurückzugewinnen, auch wenn ich noch nicht weiß, wie.«

»Ich hoffe, du weißt, dass du auf mich zählen kannst.«

»Ja?«, fragte Dante sanft. »Gut, mon ami. Merci.« Ein unsteter Teil in ihm trommelte einen ungestümen Rhythmus in seinem Inneren – einen Rhythmus, in dem er nun durchs Zimmer zu tigern begann. »Wenn ich weiß, dass sie in Sicherheit ist, verschwinde ich.«

»Verschwinden? Wovon redest du?«

Vons Tonfall, angespannt und alarmiert, ließ Dante aufblicken. Er hielt inne. Von schob die Sonnenbrille auf seine Stirn. In den grünlichen Augen des Nomad zeigte sich ein Gefühl, das Dante nicht benennen konnte.

»Es muss sein.«

»Hast du mit Heather darüber geredet?«

Dante schüttelte den Kopf. »Warum? Was gibt es da noch zu besprechen?«

Er tigerte wieder auf und ab, doch seine Stiefel gaben auf dem Holzboden keinen Laut von sich, während er mit jedem Schritt dem Rhythmus in seinem Inneren folgte. Hinter dem Rhythmus flüsterten Stimmen, summten wie aufgebrachte Wespen, die über seine Haut zu kriechen schienen.

Sie hat dir vertraut. Ich würde sagen, dann hat sie es nicht besser verdient.

Beschmutzt. Alles, was du berührst, stirbt, mein Junge.

Ich wusste, dass du kommen würdest.

Verdammter kleiner Psycho.

Dante fuhr herum und trat gegen den Metallstuhl, auf dem er gerade noch gesessen hatte, so dass dieser durchs Zimmer schlitterte – ein verschwommenes graues Band. Mit einem lauten Klappern knallte er gegen die Wand und fiel zu Boden. Das Geräusch hallte in Dantes Kopf wider und kratzte seine Wirbelsäule entlang wie Kreide auf einer Tafel. Schmerz bohrte sich in sein Bewusstsein.

Plötzlich umschlossen Hände seinen Bizeps, drehten ihn um und hielten ihn fest. Vons Geruch nach Kälte, Leder und Waffenöl hüllte ihn ein. Dante sah in Vons Gesicht. In dessen Augen schimmerte ein Licht, das an den Rändern des tätowierten Halbmonds entlangzublitzen schien.

»Du weißt es wirklich nicht, was?«

»Was weiß ich nicht?«

Ein Lächeln zeigte sich auf Vons Mund. Doch er wirkte weder belustigt noch lachte er. Vielmehr schien er unglücklich zu sein, was Dante verwirrte. Was zum Teufel? Er spannte sich an. »Komm schon, lass los.«

»Du bist verliebt, kleiner Bruder.«

Dante starrte ihn an. »Ja? Ich weiß, wie sich Liebe anfühlt, aber das … das, Mann … das macht mich fertig. Verknotet mich. Verbrennt mich.«

Von schüttelte den Kopf. »Nein, so fühlt es sich an, wenn man Liebe leugnet, Mann. Warum leugnest du, was in deinem Herzen vorgeht?«

Dante schüttelte die Hände des Nomads ab, der ihn noch immer festgehalten hatte, und trat einen Schritt zurück. Hinter seinen Lider flackerten Bilder, die wirkten, als sähe er sie in einem Stroboskop.

Blitz: Ginas tränenüberströmtes Gesicht, das in Richtung Tür schaut, die Augen leblos.

Blitz: Jay in einer Zwangsjacke, aus seinem Hals läuft Blut, bildet unter ihm eine Lache, färbt seine blonden Haare rot.

Blitz: Heather stürzend, mit einem roten Kreis aus Blut, der sich auf ihrem Pulli ausbreitet, ihren dämmerblauen Blick auf ihn gerichtet.

Blitz: Eine Kinderhand, die Finger nach innen, zur Handfläche hin, gekrümmt …

Dante-Engel?

Hier, Prinzessin.

Chloe.

Schmerz schoss durch Dantes Kopf. Er versuchte, die Bilder festzuhalten, die gerade wie ein Blitz durch sein Bewusstsein geschossen waren, vermochte das letzte nicht zu fassen, konnte sich nicht einmal an den Namen erinnern, der wie eine Kerze in seinem Inneren aufgeleuchtet und genauso schnell wieder verloschen war.

Blut rann ihm aus der Nase, und er wischte es sich mit dem Handrücken weg. Zog die Nase hoch, schmeckte Blut. Schmerz bohrte sich wie ein Eispickel von hinten in sein linkes Auge. »Buße«, flüsterte er.

»Scheiße. Setz dich und leg den Kopf zurück«, sagte Von. »Du blutest.«

Dante schüttelte den Kopf. »Tracassé toi pas. Es geht mir gut.« Als er zum Tisch ging, bemerkte er Eli, Antoine und Jack, die sich hinter dem halboffenen Vorhang versammelt hatten und ihn ernst beobachteten. Silver stand hinter ihnen, die Arme vor der Brust verschränkt, die violette Stachelfrisur vor Gel glänzend, die Miene nachdenklich. Dante hielt inne und wischte sich nochmals mit der Hand über die Nase. »Es geht mir gut«, wiederholte er. Ihre Mienen änderten sich nicht.

»Wie die Sau«, brummte Von, packte ihn am Arm, riss ihn zu sich und setzte ihn entschlossen auf den Sessel. »Kopf zurück, du renitenter Hurensohn.«

»Es ist nichts«, sagte Dante, gehorchte aber. Seine Schläfen kribbelten quälend, und hinter seinen Augen breitete sich ein Brennen aus. Er massierte sich den Nasenrücken. »Das verdammte Ding hat sie mir heute Abend gebrochen«, erklärte er.

»Heathers Schwester?«

»Ja. Sie verteilt fiese Kopfstöße.«

Von schnaubte. »Klingt, als müsste sie den Trick mal Heather beibringen.«

Dante stellte sich das vor und lächelte. »Du kannst mich mal.«

Von lachte. »Danke. Meine Arbeit ist getan.«

Der hinter Dantes Auge verhakte Eispickel glühte rot. Weiße Lichtschnörkel umrahmten sein Sichtfeld. Schweiß rann ihm über die Schläfen. Eine plötzliche Brise, die nach Kaneel und Haargel roch, wehte ihm entgegen, wodurch ihm einige Haarsträhnen aus dem Gesicht flogen. Silver. Von murmelte seinen Dank.

»Hier«, sagte er und legte Dantes Finger um eine kalte Kompresse.

»Brauchst du uns?«, fragte Silver. »Oder können wir weitermachen? «

»Die Show ist vorbei«, antwortete Dante und legte sich die Kompresse auf den Nasenrücken. »Danke.« Er setzte sich auf und musste plötzlich an Lucien denken, der das tobende Feuer in seinem Kopf mit einer Berührung löschen konnte.

»Hast du etwas von Lucien gehört?«, fragte er Von.

Der schüttelte den Kopf. »Keinen Ton.« Er sah Dante lange an, ehe er leise fragte: »Wirst du ihm je vergeben?«

»Ich weiß nicht.«

»Er hat verdammt großen Mist gebaut, aber du bedeutest ihm viel. Verdammt, er ist dein Vater.«

»Ja, das ist das Problem, nicht wahr?«

»Du musst dich mit ihm aussprechen, kleiner Bruder.«

»Vergiss es.«

»Dann musst du eben selbst daran denken«, sagte Von und ließ seinem Südstaatenakzent freien Lauf. »Ich glaube, ich werde mich jetzt mal im Publikum nach Typen in Trenchcoats und mit Sonnenbrillen umschauen. Nur für den Fall.«

Dante ließ die Kompresse sinken. Der himmelblaue Stoff war blutbefleckt. Er sah dem Nomad nach, der durch den Raum ging. Leder knarzte, und winzige Glöckchen klingelten, ehe er hinter dem Vorhang verschwand.

Fahrig stand Dante auf, trat zu dem Schminktisch und öffnete die halbleere Flasche Absinth. Er nahm sie am Hals und führte sie an die Lippen. Die Flüssigkeit roch nach Anis, Ysop, Wermut und versprochenen Antworten. Bisher hatte sie jedoch nur einige wenige Erinnerungssplitter an die Oberfläche getrieben, die sich schnell wieder seinem Zugriff entzogen hatten. Verdammt naturellement. Genau wie bei Heather.

Er hat dich auf die Welt gebracht und den Tod deiner Mutter angeordnet.

Dante wollte sich an den Namen und das Gesicht dieses Wichsers erinnern. Wollte beides in sein Gedächtnis eintätowieren. Er nahm einen großen Schluck Absinth. Er schmeckte wie Lakritz, süß und stark und ein wenig bitter, während er sich durch seinen Körper brannte. Sein Bewusstsein entflammte. Seine Muskeln entspannten sich.

Er stellte die Flasche wieder auf den Tisch, ohne sie loszulassen. Als der Absinth durch seine Adern floss, ließen die Schmerzen in seinem Kopf nach. Aber ein anderer erbarmungslos heftiger Schmerz trat stärker in sein Bewusstsein.

Warum leugnest du, was in deinem Herzen vorgeht?

Er sah seinem Spiegelbild in die geheimnisvollen, geweiteten Pupillen. »Weil ich ihm nicht trauen kann.«

 

Dogspit begannen ihr Programm mit einem heftigen Schlagzeugsolo, während die Frontfrau brüllte: »Scheiiiiiß-Seattle!« Die Menge tobte wie ein hungriges Monster, und der Boden vibrierte unter Vons Sohlen.

Die Menge drängte sich auf der anderen Seite des Vorhangs und bearbeitete den Boden mit ihren Stiefeln, während Dogspit einen Feuersturm der Töne entfachten. Von beobachtete allerdings weder die Band noch das Publikum. Er stand hinter dem Vorhang, ein Stück Samt in der Hand, und behielt Dante in der Garderobe im Auge.

Dieser hob gerade wieder die Absinthflasche, legte den Kopf zurück und nahm einen großen Schluck. Der Kerl litt, und zwar gewaltig.

Seit dem Vorfall in Washington hatte Dante viel von dem grünen Gesöff getrunken. Von vermutete, dass er es nicht trank, um seine Migräne zu unterdrücken oder um besserer Laune zu sein. Er hatte das Gefühl, Dante hoffte, mit diesem nach Wermut schmeckenden Alkohol den Riegel vor seiner Vergangenheit zurückschieben und hinter die geschlossene Tür schauen zu können. Wenn er bedachte, was Lucien gesagt hatte, wusste Von, dass das keine gute Idee war.

Luciens Stimme erklang in seinem Inneren: Ich habe Angst um ihn. Er weigerte sich, Ruhe zu geben oder zu trauern. Er weigert sich, seinen Zorn rauszulassen.

Warum hast du ihm die Wahrheit verschwiegen? Eine Wahrheit, die er gebraucht hätte?

Er braucht Zeit zu heilen, ehe er sich der Vergangenheit stellen kann. Oder ehe er sich dem stellen kann, wer oder was er ist. Ich möchte, dass du ihn führst, Llygad. Und ihn beschützt, vor allem vor sich selbst.

Ich habe Dante gewählt und nicht die Straße. Natürlich werde ich ihm beistehen, ihn führen. Ihn beschützen. Aber Dante ist ein großer Junge, und ich vertraue ihm, seine eigenen Entscheidungen treffen zu können.

Das solltest du aber nicht – nicht, bevor er nicht geheilt ist. Nicht bevor er nicht gebunden ist.

Gebunden? Wovon zum Teufel sprichst du?

Bewache ihn vor den Gefallenen, Llygad. Beschütze Dante vor allem vor ihnen.

Wieso?

Dante ist ein Schöpfer.

Von starrt Lucien erstaunt an, unfähig, seine Gedanken zu sortieren.

Von hatte angenommen, die Existenz von Schöpfern sei nur eine Legende, ein Nachtgeschöpfmärchen über die Macht der Gefallenen. Doch jetzt stand er da und beobachtete, wie diese Legende eine Flasche Absinth kippte.

Dante senkte die Flasche gerade wieder und wandte sich in Richtung Bühne, vielleicht, um die Keyboards zu untersuchen. Doch stattdessen strauchelte er und wankte, als habe er einen Schlag gegen die Schläfe bekommen. Fast ließ er dabei den Absinth los. Doch dann blieb er stehen, schloss die Augen, und es war deutlich, dass er litt.

Von hörte, wie Dante der Atem stockte. Er konnte seinen Blutdurst riechen, bitter und deutlich. »Du hast noch nicht getrunken, oder?«, meinte er, als er leise hinter ihn trat.

Dante schüttelte den Kopf. »Nach der Show.«

»Machst du Witze, verdammt? Du wirst die Show nicht durchstehen.«

»Doch, werde ich.« Dante stellte die Flasche auf den Tisch.

»Nein. Du magst vielleicht der eigensinnigste Idiot sein, dem ich je begegnet bin, aber du bist auch zu jung und leidest zu sehr, als dass du das durchstehen könntest.«

Dante öffnete die Augen, fuhr herum und streckte Von die geballten Fäuste entgegen. »Was zum Teufel erwartest du von mir? Ich habe keine Zeit.«

Von zog seine Lederjacke aus und warf sie über einen Stuhl. Er öffnete die Schnallen seiner Pistolenhalfter, schüttelte sie ab und hängte sie gemeinsam mit den Waffen über die Jacke. Schließlich wies er auf sein entblößtes, muskulöses Handgelenk. »Ich erwarte, dass du dir genug nimmst, um das Konzert gut hinter dich zu bringen. Glaubst du, das schaffst du?«

Dante fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und nickte schließlich. »Ja«, antwortete er heiser.

»Also gut.« Von setzte sich auf den Boden vor den schäbigen, bequemen Sessel, lehnte sich mit dem Rücken daran und streckte die Beine aus. Dann schob er die Sonnenbrille auf die Stirn, sah Dante an und klopfte sich auf den Schenkel.

Dante setzte sich rittlings auf seine Schenkel. Leder und Latex knarzten, als er sich vorbeugte und ihn küsste. Seine Lippen öffneten sich, als sie Vons geöffneten Mund berührten. Seine Zunge berührte die Vons; sie schmeckte nach Lakritz und Alkohol. Von atmete Dantes betörenden Duft ein.

»Merci beaucoup, mon ami«, flüsterte Dante, als er sich wieder von seinem Mund gelöst hatte. Er sah Von an, wobei es in den Tiefen seiner dunklen, ungeschützten Augen golden schimmerte.

»Es ist mir eine Ehre«, murmelte Von. Er hob die Hand, streichelte Dantes Haare und spielte einen Moment lang mit einer schwarzen seidigen Strähne.

Dante fasste liebevoll nach Vons Handgelenk und führte es an die Lippen. Er schloss die Augen. Von spürte die Wärme seiner Lippen und dann einen kurzen Stich, als seine Reißzähne seine Haut durchbohrten. Dann begann Dante in raschen Schlucken zu trinken.

Von stieß einen Seufzer aus. Seine Finger krallten sich fester in Dantes Haar. Dante erzitterte und stöhnte leise. Lust durchfloss sie wie warmer Honig, pulsierte durch Lippen und Haut, von Bewusstsein zu Bewusstsein. Doch schon wenige Minuten später war es wieder vorbei. Dante hob den Kopf und schob Vons Arm weg. Als er aufstand, ließ Von sein Haar los.

»Das war nicht genug, kleiner Bruder. Setz dich wieder.«

Dante beugte sich vor, küsste ihn leidenschaftlich und teilte so einen Augenblick lang den traubensüßen Geschmack des Bluts und seine fiebrige Hitze mit ihm. »Es muss reichen«, wisperte er gegen Vons Lippen. »Ich kann nicht länger bleiben. Etwas … etwas in mir … erwacht.«

»Dante …«

Dante löste sich von Vons Händen, richtete sich auf, drehte sich um und ging. Über seine Finger lief knackend Energie. Blaues Feuer umgab seine Hände. Er ballte die Fäuste.

Ein Schöpfer, und unkontrolliert.

Auf Vons Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen, doch innerlich war ihm eiskalt. Er musste an die Frage denken, die ihm Dante am Louis Armstrong International gestellt hatte, während sie gemeinsam auf den Flug nach Seattle gewartet hatten: Wenn ich der einzige Schöpfer bin, den es gibt, wie Lucien behauptet, wer kann mir dann beibringen, was ich wissen muss?

Nur Lucien kannte darauf die Antwort, und Lucien war seit einer Woche abgetaucht, eine Tatsache, die Von beunruhigte. Es war eine Abwesenheit, die ihn dazu brachte, nachts den Himmel zu beobachten und auf das Rauschen von Flügelschlägen zu lauschen.

Beschütze ihn vor den Gefallenen, Llygad. Sie werden ihn gnadenlos missbrauchen.

Lucien konnte nicht aus eigenem Antrieb den Kontakt abgebrochen haben. Das konnte nicht sein, vor allem nicht, nachdem er Von beauftragt hatte, ihm über Dantes Befinden immer wieder Mitteilung zu machen.

Von sah Dante nach, der davonging, während blaue Flämmchen aus seinen noch immer geballten Fäusten züngelten und sein blasses Gesicht verzweifelt wirkte. Dem Nomad wurde klar, dass es nun an ihm war, eine Antwort auf Dantes Frage zu finden.

Ehe es zu spät war.