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KEINE VERBINDUNG

Seattle, Washington · 22. März

 

Heather lenkte den Trans Am auf einen Parkplatz, schaltete auf »N« und zog die Handbremse. Der Motor brummte leise und regelmäßig.

Sie klappte ihr Mobiltelefon auf, holte tief Luft und wählte dann Dantes Festnetznummer. Sie kannte die Nummern seines Zuhauses und des Clubs auswendig und hatte sich mehr als einmal gewünscht, er hätte ein Mobiltelefon bei sich. Da sie Angst hatte, dass jemand ihr Mobiltelefon entwenden und die gespeicherten Informationen an sich bringen könnte – jemand mit Sonnenbrille, Anzug und dem typischen FBI-Haarschnitt –, hatte sie seine Nummern nie eingegeben.

Das Telefon am anderen Ende der Leitung läutete und läutete. In ihren Ohren hallte das metallische Scheppern von Einkaufswagen wider. Sie war gespannt und nervös, während sie wartete, ob jemand abheben würde. Endlich hörte sie ein Klicken.

»Oui?« Frauenstimme, Cajun. Simone.

Heather stellte sich die hübsche, bodenständig wirkende Blondine vor, deren Locken bis zur Taille fielen. Sie sah die geheimnisvollen Augen der Vampirin ebenso vor sich wie deren schnell aufblitzendes Lächeln.

»Simone, hier Heather«, sagte sie. »Heather Wallace. Ich muss Dante sprechen. Ich weiß, er ist gerade auf Konzerttour, aber vielleicht hat ja er oder einer seiner Kollegen ein Handy, auf dem ich ihn erreichen kann?«

»Nein, M’selle Wallace.«

Nicht mehr Heather, sondern M’selle Wallace, dachte Heather.

»Nicht einmal für Notfälle?«

»Er will nicht immer erreichbar sein.«

»Ich muss mit ihm reden. Es ist wichtig.«

»Je m’en fichu. Ich kann Ihnen nicht helfen.« Simones Stimme klang ruhig und kalt. Ihre übliche Wärme war verschwunden.

Heathers Muskeln spannten sich. Sie starrte durch die Windschutzscheibe in die von Laternen erleuchtete Nacht hinaus. »Ist seine Migräne besser geworden? Oder ist sie immer noch so schlimm?«

»Viel schlimmer, und er lässt Lucien nicht in seine Nähe. Aber Sie interessiert das doch gar nicht.«

»Natürlich interessiert es mich«, sagte Heather ruhig. »Ich mache mir Sorgen um ihn. Ich hoffe, eine Möglichkeit zu finden, ihm zu helfen.«

»Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt: Sie können ihm nicht helfen. Das können nur wir.« Simones Stimme war so kalt, dass sie die Fenster hätte vereisen können.

»Ich mag sterblich sein. Aber ich kann ihm helfen, egal, was Sie glauben.«

»Wir werden sehen«, sagte die Vampirin und legte auf.

Heather klappte ihr Mobiltelefon zu und warf es auf den Beifahrersitz. Sie fuhr sich mit den Fingern über die Schläfen. Sie hatte Kopfschmerzen. Sie durfte nicht hoffen, dass Simone die Botschaft weitergeben würde. Also musste sie es direkter versuchen. Inferno spielte an diesem und am folgenden Abend im Vespers. Sie hatte sich bereits online für beide Konzerte Karten besorgt.

Nur für den Fall, dass ihr der Anblick Dantes nicht wehtat.

Heather löste die Handbremse und trat aufs Gas. Das leise Rattern des Motors wurde lauter, und sie spürte sein Vibrieren. Sie legte den ersten Gang ein und verließ den Parkplatz – Richtung Capitol Hill und Vespers.

Unterwegs schaltete sie das Radio ein. »Heute! Inferno bei Vespers!« Raue Industrial-Musik donnerte aus den Lautsprechern, gefolgt von Dantes beinahe flüsternder Stimme – einer Stimme, die vor Zorn vibrierte und bebte.

Manchmal gab es lustige Zufälle. Da dachte sie gerade an ihn, schaltete das Radio ein und hörte seine Band. Amüsant. Nur schade, dass sie schon lange nicht mehr an Zufälle glaubte.

Erst drei Wochen zuvor hatte sie erfahren, dass die Welt wesentlich düsterer und vielfältiger war, als sie sich das je hatte träumen lassen. Noch verstand sie nicht, was das alles zu bedeuten hatte oder wo sie und Dante in dieser neuen Welt genau hingehörten und welche Rollen sie spielten. Eingekeilt zwischen FBI und Bad Seed konnte sie auch nur hoffen, dass sie überhaupt eine Chance haben würde, es herauszufinden.

 

Heather bog vom Broadway ab und lenkte das Auto auf einen vollgestellten Parkplatz. Sie stellte das Auto unter einem Schild ab, auf dem zu lesen war: NUR FÜR GÄSTE DES VESPERS. ALLE ANDEREN AUTOS WERDEN ANGEZÜNDET, UM DIE OBDACHLOSEN ZU WÄRMEN. DANKE FÜR IHRE GROSSZÜGIGE SPENDE.

Heather stieg aus dem Trans Am und schloss ihn ab. Sie warf sich ihre Handtasche über die Schulter und schritt zum Eingang des Clubs. Am Fenster des leeren Kassenhäuschens hing ein Zettel mit den Worten EINLASS AB 21 UHR. KON-ZERTBEGINN 22 UHR.

Eine kleine Gruppe von Konzertbesuchern stand bereits vor den Türen des Vespers, die an ein Kathedralenportal erinnerten, rauchte und redete. An den Seiten des geschwungenen Türrahmens waren Wasserspeier und Dämonenfratzen zu sehen, während sich gemalte Efeuranken in Purpur und Schwarz nach oben zum Türbogen wanden.

Die coolen Malereien passten zu der dunklen, fast unheimlichen Fassade des Gebäudes. Annie hatte sich damals nichts sehnlicher gewünscht, als eines Tages in diesem Club auftreten zu können. Heather sah nach oben. Auf einem Banner über dem Eingang stand INFERNO, in kleineren Buchstaben darunter DOGSPIT. Den Namen Dogspit hatte sie bisher noch nie gehört, und sie fragte sich, ob das wohl eine Band aus Seattle war.

Die Menge, die – soweit Heather das ausmachen konnte – zu gleichen Teilen aus Männern und Frauen bestand, stellte ein Sammelsurium aus Goths und Punks dar, alles von Cyber-Goth bis zu Old-School-Punk: Latex mit Metallbändern, stilisierte Zwangsjacken, Netzstrümpfe und rot-weiß gestreifte Strapse, schwarz umrahmte Kleopatra-Augen, schwarzes Leder und knirschendes Plastik sowie schwarze, kettenbehängte Jeans. Einige hatten Iros, andere rasierte Schädel. Piercings funkelten im Licht der Straßenlaternen. Tätowierungen schlängelten sich wie Efeu über muskulöse Haut – Tribals und Old-School-Tätowierungen. Die Luft roch streng nach Gewürznelken, Patschuli und Sandelholz.

Sie fragte sich, ob auch Nachtgeschöpfe gekommen waren, um Dante zu hören. Auf den ersten Blick entdeckte sie nirgendwo die anmaßende Grazie und kühle Schönheit, die sie mit diesen Wesen verband. Dante unterschied sich selbst in dieser Hinsicht von den anderen. Sein Liebreiz war leidenschaftlich und heißblütig, und er wirkte natürlich anmutig und bescheiden.

Einige Leute in der Menge musterten Heather im Vorübergehen und wandten dann wieder den Blick ab. Offenbar wirkte sie mit ihrer dunklen Bomberjacke, den Boot-Cut-Jeans und dem unbehandelten Haar nicht wie jemand, der zur Band oder in den näheren Umkreis von Goths oder Punks gehörte.

Man sollte eigentlich denken, diese Halloween- und Fetischleute wüssten es besser, als nach dem Äußeren zu gehen, dachte Heather. Vor der Tür blieb sie stehen und riss an der Klinke. Verschlossen. Sie nahm den großen, dunklen Türklopfer aus Eisen und schlug damit mehrmals gegen die Tür.

Nach einem Augenblick vernahm sie ein Klicken, und dann wurde die Tür einen Spaltbreit geöffnet. Eine Frau mit amethystfarben umrahmten Augen und schwarzem Haar, das in Spikes nach oben stand, musterte sie geringschätzig. »Lies den Zettel. Einlass ab einundzwanzig Uhr.«

»Ich muss Dante Pre… Baptiste von Inferno sprechen. Es ist wichtig.«

Die Frau rollte mit den Augen. »Ja, klar. Leben und Tod, oder? Du musst wie alle anderen warten, bis er nach dem Konzert rauskommt.« Kopfschüttelnd begann sie, die Tür wieder zu schließen.

Heather schob einen Fuß zwischen Tür und Türrahmen, fasste in die Tasche und fischte ihren FBI-Ausweis heraus. Sie klappte ihn auf. »Bitte«, sagte sie. »Wenn ich jetzt reindürfte …«

Die Miene der Türsteherin wurde völlig ausdruckslos. Sie sah sich eilig um, ob jemand die Szene und Heathers Marke beobachtet hatte, ehe sie Heather hereinwinkte und die Tür hinter ihr zumachte.

Einige Augenblicke lang betrachtete die Türsteherin die Marke. »Wow. FBI.« Sie warf Heather einen besorgten Blick zu. »Sie wollten Dante von Inferno sprechen? Steckt er in Schwierigkeiten? Müssen Sie das Konzert absagen, oder was ist los?«

»Nein, keine Schwierigkeiten«, versicherte Heather und steckte den Ausweis wieder ein. »Aber ich muss mit ihm sprechen. Bitte richten Sie ihm aus, Heather Wallace sei hier.«

Plötzlich erhellte ein erleichtertes Lächeln die Miene der Frau. »Gut. Warten Sie bitte«, sagte sie und eilte dann einen schlecht beleuchteten Gang entlang, wobei der Stoff ihrer weiten schwarzen Jeans bei jedem Schritt aneinanderschlug.

Heather warf einen Blick auf ein Poster von Inferno, das gleich neben der Tür an der Wand befestigt war: ein brennendes Anarchiesymbol vor einem schwarzen Hintergrund. Unter dem Symbol stand BRENNE. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Plötzlich hatte sie Schmetterlinge im Bauch. Würde er sie überhaupt sehen wollen und falls er kam, was würde er dann wohl sagen?

Was würde sie sagen?

Sie nahm einen Hauch von altem Leder und frischer Luft war. Es war ein Geruch, den sie kannte.

»Na schön. Was kann ich für Sie tun?« Es war eine tiefe, entspannt klingende Stimme, die belustigt wirkte.

Heather drehte sich um und blickte in Vons grünliche Augen. Sein Schnurrbart unterstrich noch das schalkhafte Grinsen auf seinem Gesicht. Sein Mund war leicht geöffnet, so dass man die dünnen Reißzähne sehen konnte. Sein dunkelbraunes Haar war zurückgebunden. Von war einen Meter dreiundachtzig groß und breitschultrig. Er trug Chaps aus Leder über ausgeblichenen Jeans, ein dunkles T-Shirt und verschrammte Stiefel. Seine raue, erdig wirkende Aufmachung passte gut zu seinem anziehenden Äußeren. Er streckte ihr eine schwielige Hand entgegen.

»Schön, Sie zu sehen, Von«, sagte Heather und nahm die Hand des Nomads.

»Mich auch, Püppchen.« Er drückte zu und ließ sie dann los. »Aber sind Sie sich sicher? Sie senden ganz andere Signale aus.« Das schwache Licht an der Decke des Gangs ließ die silberne Halbmond-Tätowierung unter seinem rechten Auge ein wenig schillern.

Heather schüttelte den Kopf und spürte, dass ihre Freude diesmal echt war. »Tut mir leid, Von. Ich hatte ganz vergessen, wie genau der Emo-Radar von Nachtgeschöpfen sein kann.«

Von lachte. »Emo-Radar? Mensch, Frau – was für ein Wort soll das denn sein?«

Heathers Lächeln verschwand, als sie an dem Nomad vorbei den düsteren Gang hinunterblickte, in der Hoffnung, dort Dante auf sich zukommen zu sehen. »Wo ist er?«, fragte sie.

Von runzelte verlegen die Stirn. »Ist er nicht bei Ihnen?«

»Was?« Heather fixierte den Vampir.

»Er ist vor etwa zwei Stunden weg«, erläuterte dieser. »Meinte, er wolle kurz bei Ihnen vorbeischauen. Sagte, er wolle mit Ihnen sprechen.«

Heather atmete erleichtert auf. »Ich war noch nicht zu Hause«, sagte sie. Es war ihr auf einmal etwas unangenehm, dass sie angenommen hatte, Dante würde ihr wie ein unglücklich verliebter Jüngling aus dem Weg gehen. »Glauben Sie, er ist noch dort?«

»Werde ich gleich rausfinden, Püppchen.«

Vons Blick richtete sich einen Augenblick lang nach innen. Heather beobachtete, wie er mit Dante auf eine Weise in Kontakt trat, um die sie ihn beneidete. Sie hatte erlebt, wie sie Dantes Bewusstsein mitten in ihrem Kern berührt hatte – eine Blutsverbindung, die bei ihr nur vorübergehend, aber sehr intim gewesen war.

Von sah sie mit seinen grünlichen Augen an. »Er ist noch dort, und er ist nicht allein.«

»Nicht allein?« Sie erstarrte vor Angst. »Wer ist bei ihm?«

»Ihre Schwester.«