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ZERBRECHLICH

Seattle, Washington · 22. März

 

Annie zielte auf die abgegriffenen Kartons, auf denen WALLACE, SHANNON stand. Sie wollte die verdammten Kisten aus dem Esszimmer kicken, aus dem Universum, wie bei einem verdammten Homerun. Sie schwang das Brecheisen mit aller Kraft, legte all den schmutzigen, wuchernden Hass, den sie hegte, in den Stahl.

Da bemerkte sie eine verschwommene Bewegung am äußeren Rand ihres Sichtfeldes und schlug zu. Statt des Pappkartons traf sie Haut und Fleisch. Die Wucht ihres Schlags spürte sie bis in ihre Schultern. Sie stolperte vorwärts und knallte mit den Hüften gegen den Tisch. Die Brechstange flog ihr aus der Hand. Ihr Blick fiel auf die Fotos, die auf dem polierten Holz verteilt waren.

Sie sah in die blinden Augen ihrer Mutter, sah, wie sie zusammengerollt und tot auf dem Waldboden lag – wie eine verdammte vergiftete Kakerlake.

Eure Mutter ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Sie wird nicht mehr heimkommen.

Mit einem aus der Tiefe kommenden Schrei warf sich Annie auf den Tisch und wischte mit einer Bewegung alles herunter – Fotos, Papiere, den Tischläufer. Dann fasste sie nach einem der Kartons mit der Aufschrift WALLACE, SHANNON und schleuderte sie durchs Zimmer. Sie prallte gegen die Wand und riss auf. Glas splitterte. Stahlharte Finger legten sich um ihren Oberarm und drehten sie um.

Schwarzes Haar. Sonnenbrille. Weiße Haut und heiße Hände. Eine Hand hielt die Brechstange, die andere Annie. »Warum so wütend, petite?«, fragte Dante und warf das Eisen durchs Zimmer aus dem offenen Fenster hinaus.

Annie sammelte den Speichel in ihrem Mund und spie ihn an. Sein blasses Gesicht schimmerte feucht von Spucke. Er hob einen Arm und wischte sich das Gesicht an der Schulter trocken. Ein Lächeln zuckte um seinen Mund. »Gut getroffen«, meinte er.

»Ich schwöre dir, ich bringe dich um, wenn du mich nicht sofort loslässt, Arschloch!«

»Dann wirst du mich wohl töten müssen, denn ich lasse nicht los.«

Annie schlug mit der Faust nach Dantes hübschem Gesicht, schlug links-rechts-links, doch es wollte ihr nicht gelingen. Daraufhin wollte sie ihm das Knie zwischen die Beine rammen, doch auch das misslang. »Verdammte Scheiße!«, rief sie. »Bleib stehen.«

Da es ihr unmöglich war, sich aus Dantes Griff zu lösen, indem sie schlug, sich wand oder ihn niederrang, änderte sie ihre Taktik und ließ sich fallen. Sie sackte auf den Boden, und seine Finger ließen endlich los.

Annie rollte sich auf dem Teppich zur Seite ab, ertastete mit den Fingern eine Glasscherbe, die dort auf dem Boden lag, und richtete sich auf die Knie auf. Mit einer einzigen Bewegung schnitt sie sich ihr Handgelenk auf, das bereits voller Narben war. Sofort trat dunkles, dickflüssiges Blut aus der Wunde. Sie spürte, wie die scharfe Kante in ihr Fleisch fuhr, und roch den Kupfergeruch des Blutes.

Plötzlich kniete er neben ihr. Sein blasses Gesicht war angespannt, und seine dunklen Augen ohne Sonnenbrille wirkten entschlossen. Sie schwankte, als sie versuchte, sich auf die Füße zu stellen, doch er folgte jeder ihrer Bewegungen. Sie stach immer wieder nach ihm, doch der Glassplitter pfiff durch leere Luft, während er zu verschwinden schien.

Dann legten sich seine Finger um ihr Handgelenk. Er riss sie an sich und hielt sie fest an sich gepresst. Endlich fiel die Scherbe aus ihrer bluttriefenden Hand, während er seinen Arm um ihre Schultern legte.

Annie spürte, wie sich ihre Muskeln zusammenzogen, hart wurden und dann auf einmal entspannten. Ihre Knie gaben nach, und als sie sich in Dantes Umarmung fallen ließ, fühlte sie sich federleicht, benebelt vom Zauber des Tequilas und des Schnitts in ihrem Handgelenk. Doch es gelang ihr nie, hoch genug zu steigen.

Leder und Latex knirschten, als er sich auf den Boden setzte und sie in seinem Schoß hielt.

»Ich hasse sie, verdammt nochmal«, flüsterte sie und schmiegte sich an ihn, an seine Wärme.

»Das habe ich kapiert«, flüsterte er.

»Ich bin froh, dass sie tot ist«, brachte sie mühsam hervor. Ihr Hals hatte sich zugezogen. Ihr Herz fühlte sich wie heißer roter Knoten in ihrer Brust an, der sie von innen verbrannte – ein Feuer, das sie nicht löschen konnte, einen Knoten, den sie nicht zu lösen vermochte.

Dante strich ihr das Haar aus dem Gesicht. »Willst du mir sagen, warum?«

»Nein. Dich hasse ich auch.«

»T’es sûr de sa?« Sein Duft hüllte sie ein wie der Herbst, wie Halloween – brennendes Laub, gefrorene Erde und reife Äpfel.

»Was heißt das?«

»Es heißt: Bist du dir sicher?«

»Oh. Ja, ich bin sicher, dass ich dich hasse. Irgendwie.«

»Gut«, antwortete er. Dann begann er, mit einer weichen, heiseren, sexy Stimme zu singen. »Laissez-faire, laissez-faire, ma jolie, bons temps rouler, allons danser, toute la nuit …«

Annie wusste nicht, ob er auf Französisch, Spanisch oder Cajun sang. Aber die Melodie war so beruhigend, als striche ihr eine Hand übers Haar.

Als sie die Augen schloss, glaubte sie einen Moment lang, schwarze Flügel hinter Dante zu sehen, deren Unterseite tiefblau überzogen war. In den Armen dieses dunklen Engels lauschte sie seinem Lied. Seine Stimme fiel wie ein kühlender Wasserfall auf ihre Wut und zupfte wie vorsichtige Finger an dem wirren Knoten ihres Herzens.

Annie schlug die Augen auf und berührte Dantes blasses Gesicht mit ihren blutigen Fingern. Blut troff aus einem seiner Nasenlöcher; sie musste ihn mindestens einmal getroffen haben. Seine Haut fühlte sich fiebrig an. Sie fuhr über seine Lippen. Er erschauderte und schloss die Augen, sang aber weiter.

»Si toi t’es presse et occupe, mon ami, courir ici, courir la-bas …«

»Küss mich.«

Dantes dunkle, geheimnisvolle Augen öffneten sich, und er sah sie an. Annie sah den Hunger in ihren Tiefen. Er beendete sein Lied, senkte den Kopf und gab ihr einen raschen Kuss auf den Mund, der nach Amaretto und Blut schmeckte.

»Nein.« Sie griff mit beiden Händen nach seinem Gesicht. »Einen richtigen Kuss.«

»Oh nein«, antwortete er und schenkte ihr ein schelmisches Lächeln. »Du warst sehr ungezogen.«

Annie fixierte die dünnen Reißzähne, die sich bei seinem Lächeln entblößt hatten. Ihr Herz raste. Nachtgeschöpf. Könnten auch Implantate sein. Mussten Implantate sein.

»Wenn du ein Vampir bist, tötest du dann, wenn du von jemandem trinkst?«

Dantes Lächeln verschwand. »Ab und zu.«

Annie dachte über seine Antwort nach, nahm aber an, er wollte sie nur einschüchtern – der Idiot. »Verstehe. Aber musst du töten?«

»Nicht immer.«

»Kannst du mich in eine Vampirin verwandeln?«

»Ja, aber das werde ich nicht. Du brauchst also gar nicht erst fragen.«

Noch ehe Annie eine weitere Frage stellen konnte, zog er den Kopf hoch, so dass sie ihn loslassen musste. »Heather ist da«, murmelte er und half ihr beim Aufstehen. Sein schönes, blutbeflecktes Gesicht leuchtete wie bei einem Herbstfeuer auf, und Annie verstand, dass sie nicht länger existierte.

 

Dante hörte das gedämpfte Brummen eines Automotors vor dem Haus. Es musste sich um einen Sportwagen handeln, denn es klang heiser und kräftig. Gleichzeitig vernahm er Annies Herz, das durch Drogen und Adrenalin dreimal so schnell wie normal gegen ihren Brustkorb hämmerte. Er sah sie an. Sie drückte sich an ihn, Augen und Pupillen geweitet.

»Küss mich«, drängte sie. »Küss mich richtig.«

Dante schüttelte den Kopf und lauschte dem Motorengeräusch, das lauter wurde und durch seine Stiefelsohlen bis hoch in seine Wirbelsäule vibrierte. Er sah durch das Fenster einen niedrigen, eleganten Wagen, der gerade auf die Einfahrt einbog. Die Reifen knirschten auf Kies. Die Autotür schlug zu. Mit einem leisen Schnurren verstummte der Motor. Einen Augenblick lang herrschte völlige Stille.

»Küss mich«, wiederholte Annie leise. »Oder ich werde meiner Schwester erzählen, dass du bei ihr eingebrochen und mich angegriffen hast.« Ihre Finger fassten nach seinem Gürtel und zogen daran.

Dante hörte eine Tür sich öffnen und vernahm dann Schuhe auf dem Kies. Er neigte den Kopf und sah Annie durch seine Wimpern hindurch an. »Echt?«

»Echt. Ich bin gut im Geschichtenerzählen.« Eine dunkle Hoffnung ließ ihre Stimme rau klingen.

»Sie weiß bereits, dass ich hier bin, und sie weiß auch, dass du hier bist.« Er dachte an Vons kurze Botschaft: Dein FBI-Schätzchen ist hier. Sie sucht dich. Er stellte sie sich vor, wie sie auf das Haus zuging, wie ihr rotes Haar offen war und sich in Locken um ihr hübsches Gesicht legte. Er malte sich ihre schlanken Kurven aus. Hatte sie Hosen an? Oder einen Rock? Ein Kleid?

Dante schloss die Augen und zählte ihre Schritte.

Sie war in Sicherheit. Sie lebte, und er wollte alles dafür tun, dass das so blieb.

Lauf so weit weg von mir, wie du kannst.

Sie hatte es versucht. Aber er war ihr gefolgt. Er wusste nicht, warum. Sie bewegte ihn auf eine Weise, wie er das noch nie zuvor erlebt hatte.

»Bockmist. Küss mich, Dante.«

Annies geschäftige Fingerchen versuchten, seinen Gürtel zu öffnen, doch er löste sie und schob sanft ihre Hand weg.

»Ich behaupte, du hast mich geschnitten«, wisperte sie.

Dante öffnete die Augen. Heather würde jeden Moment ins Haus kommen. Er hörte bereits die Schlüssel klimpern.

Hastig umfasste er Annies Gesicht. Ein befriedigtes Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie ihm ihren Mund zum Kuss darbot. Sie legte die Hände auf seine Hüften und schloss die Augen.

Dante hörte, wie der Schlüssel ins Schloss glitt. Er senkte den Kopf und berührte mit den Lippen fast Annies Ohr, als er flüsterte: »Leck mich. Erzähl doch, was du willst.«

Sie riss die Augen auf, und Dante ließ sie los. Die Tür öffnete sich. Das Licht einer Straßenlaterne umrahmte die schmale Gestalt, die auf der Türschwelle stand. Ein Duft von Flieder und Regen schwebte ins Zimmer, in dessen Süße sich Enttäuschung und Unsicherheit mischten.

Die Straßenlaterne blendete Dante, und er hob eine Hand, um seine Augen zu schützen. Er hatte sich nicht geirrt, was ihr Haar betraf; es fiel ihr offen über die Schultern. Sie trug eine dunkle Jacke und enge Jeans. Ihr Blick richtete sich auf ihn, und ihr stockte einen Augenblick lang der Atem. Doch bereits den Bruchteil einer Sekunde später grinste sie, und ihre dämmrig blauen Augen leuchteten.

»Dante …«, sagte sie und trat ein. Dann hielt sie inne.

Ihr Blick wanderte über die Papiere, das zerbrochene Glas und die Fotos auf dem Boden vor ihm und zu dem offenen Fenster hinter ihm. Dann sah sie ihre strubbelige, blutverschmierte Schwester, die noch immer vor ihm stand, die Hände auf Dantes Hüften. Sie runzelte die Stirn. »Was zum Teufel ist hier los?«

Mit einem Augenzwinkern stieß Annie Dante von sich, drehte sich einmal um die eigene Achse und sackte in sich zusammen.

»De mal en pire«, murmelte Dante. Vom Regen in die Traufe.