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SALZ IN DEN WUNDEN

Gehenna, im Horst des Morgensterns · 23./24. März

 

Lilith zog den Schleier vom Kopf und zerknüllte ihn in ihrer Hand zu einem Ball, während sie in das große Wohnzimmer ihres Horsts marschierte. Luzifer stand in einem amethystfarbenen Rock und Platinreifen an Hals und Armen am Fenster. Sein Blick richtete sich auf die sterbende Nacht jenseits der Scheiben. Er neigte den Kopf in Liliths Richtung, sah sie aber nicht an.

»Ah, da bist du ja, meine Liebe«, sagte er. »Ich habe mich gefragt, wo du steckst.«

»Wann wolltest du mir von deinen Plänen heute Morgen berichten?«

»Im letzten Augenblick.« Er wandte sich zu ihr um. »Aber du warst fort.«

»Ich konnte nicht schlafen.«

»Wirklich?«, flüsterte Luzifer. »Du hast auf mich den Eindruck gemacht, als schliefest du tief, als ich dich ansah.« Ein Lächeln huschte über seine Lippen. »Täuschst du vor, meine Liebe?«

»Wenn nötig.«

Er lachte leise. Seine nachtblauen Augen schimmerten im Dunkel hinter den Fenstern. »Das ist meine Lilith.«

»Ich bin nicht deine Lilith«, antwortete sie und schleuderte ihm ihren Schleier entgegen. Er flatterte wie ein rotes Blatt auf den hellen, blankpolierten Boden. Unzufrieden starrte sie den Schleier an.

»Komisch«, sagte Stern. »Ich hätte schwören können, das bist du seit etwa fünfhundert Jahren.«

Ein Nephilim-Diener in einem rosenfarbenen Rock betrat den Raum und entzündete den Weihrauchkessel. Als er sich eine strohblonde Haarlocke hinter das Ohr schob, fiel Lilith sein Name ein: Vel, ein weiterer aus der niemals endender Brut von Halbblütern des Morgensterns. Der rauchige Duft der Myrrhe vermischte sich mit dem zarten Aroma des Jasmins, der sich an der nördlichen Wand des Zimmers emporrankte.

Nach einem Blick auf seinen Vater, um herauszufinden, ob dieser noch Anweisungen für ihn hatte, verließ Vel den Raum.

»Du musst mit Gabriel gesprochen haben«, stellte der Morgenstern fest und trat vom Fenster weg. »Da nur er von diesem Treffen weiß.«

»Ich war beim Chaosthron«, erläuterte Lilith, die es jetzt für das Klügste hielt, ihm dieselbe Geschichte zu erzählen, die sie auch Gabriel erzählt hatte. Sie hegte keinen Zweifel daran, dass sich die beiden miteinander austauschten. »Ich wollte mir vergegenwärtigen, was wir Luciens wegen verloren haben.«

Stern zog eine seiner weißen Augenbrauen hoch. »Lucien?«

»Samael«, verbesserte sie sich. Noch ehe sie etwas hinzufügen oder auch nur Luft holen konnte, drang ein schwaches Lied in ihr Bewusstsein – dunkel, schön und verzweifelt. Es verstummte sogleich wieder wie ein Geflüster, wie die letzten Reste von Schlaf, und verschwand. Liliths Puls raste.

Anhrefncathl.

Ein Blick in die großen blauen Augen Luzifers zeigte ihr, dass auch er es gehört hatte, aber seine gerunzelte Stirn gab ihr gleichzeitig zu verstehen, dass er nicht ganz sicher war. »Hast du das gehört?«

»Was gehört?«

»Das Chaoslied. Leise, aber …« Er sah ihr nachdenklich in die Augen. »Ich habe mir das nicht eingebildet.«

»Ich habe nichts gehört«, behauptete Lilith so kalt wie möglich. »Bist du sicher?«

Sie trat ans Fenster und blickte nach draußen, um zu sehen, ob sonst jemand das Lied vernommen haben konnte und jetzt voller Begeisterung in den Himmel hinaufflog. Der grau werdende Himmel war leer. Sie atmete auf. Vielleicht hatte es sonst niemand gehört, da alle noch schliefen.

»Ja, ich bin sicher. Ich verwette meine Flügel darauf, dass unserer sogenannter Lucien genau weiß, wo dieser Schöpfer ist.«

Lilith drehte sich zu Stern um. »Wie kommst du auf die Idee, dass Lucien etwas weiß?«

»Er lebte in der Welt der Sterblichen, meine Liebe. Das Lied des Creawdwrs würde seinen innersten Kern erklungen haben lassen wie Finger die Saiten einer Harfe. Es würde ihn magisch angezogen haben, und Samael oder Lucien oder wie auch immer er sich nennt würde geantwortet haben.«

»Wenn du einen Creawdwr gehört haben solltest, dann müssen wir ihn oder sie an uns bringen, bevor Gabriel uns zuvorkommt«, erklärte Lilith, »und wenn Lucien diesen Schöpfer wirklich verborgen hat, wie du glaubst, dann wirst du meine Hilfe brauchen, um herauszufinden, an welchem Ort er ist.«

Stern betrachtete sie eine Weile durch seine silbernen Wimpern. Sein hübsches Gesicht wirkte nachdenklich. »Du hast Gabriel seinen Namen verraten. Warum sollte er dir noch etwas anvertrauen?«

»Er schuldet mir etwas«, erwiderte sie und hielt sich an der gekachelten Fensterbank hinter ihr fest. »Er hat es sogar mehr oder weniger zugegeben. Wenn ich ihm zur Flucht verhelfen würde, wäre er vielleicht bereit, mir genügend zu vertrauen, um mich …«

»Zum Creawdwr zu führen«, beendete Stern den Satz. »Eventuell. «

Wir könnten den Thron zurückgewinnen, sendete er und sah sie mit leuchtenden Augen an.

Wir könnten auch unsere Tochter zurückgewinnen.

»Natürlich«, murmelte Stern. »Aber vorrangig den Thron.«

»Was immer du willst, Liebster«, sagte Lilith. Es wunderte sie, dass es ihrer Stimme gelungen war, so liebevoll zu klingen, obwohl ihr Herz nichts mehr empfand.

 

Das Klirren von Ketten ließ Lilith von ihrem Becher mit granatapfelrotem Wein aufblicken. Begleitet von einem Chalkydri mit flatternden Flügeln betrat Lucien das Zimmer. Seine Handgelenke waren gefesselt, seine Fittiche verschnürt.

Liliths früherer Cydymaith stand selbstbewusst und aufrecht vor ihr. Sein schwarzes Haar fiel ihm bis zur Körpermitte. Er hatte die Schultern durchgedrückt und hielt den Kopf hoch. Auf seinen Lippen lag ein kühles Lächeln, als sei er gerade von einem morgendlichen Flug zurückgekehrt und freue sich jetzt auf das Frühstück.

Doch sein blasses Gesicht und die blutleeren Lippen verrieten die Lüge. Seine Vitalität nahm mit der Gehennas ab – sein Schicksal war jetzt mit dem seines Landes verbunden.

Ein Moment des Bedauerns erschütterte Liliths Ruhe. Sie nahm einen Schluck Wein, wobei sie die Säure der Limetten unter dem Granatapfel und den Trauben deutlich herausschmeckte. Für Hekate, sagte sie sich. Für Gehenna.

»Willkommen, Bruder«, grüßte ihn der Morgenstern. Er saß neben Lilith auf einer Samtcouch, die mit Goldbrokat geschmückt war. »Offenbar hast du etwas gefunden, was dir passt.«

»Das habe ich«, antwortete Lucien. »Obwohl es nicht nötig war.«

»Vielleicht nicht einmal erwünscht?«, entgegnete Stern mit einem Lächeln. Das Gewand, das der Morgenstern Lucien statt seiner zerfetzten Hose angeboten hatte, passte ihm atemberaubend perfekt, wie Lilith fand. Der schwarze lange Rock mit dem silbernen Gürtel floss von seinen Hüften bis knapp über seine Knie, während silberne Sandalen seine Füße zierten.

Die Vergangenheit drängte sich ihr wieder auf, und einen Augenblick lang sah sie ein Bild vor sich: Er fängt sie in der Luft und zieht sie an sich – Brust an Brust, erhitzte Haut an erhitzter Haut, das Rauschen von Flügeln. Dann reißt er ihr das Kleid vom Leib.

Lilith senkte den Blick und verdrängte die Erinnerung. Alles, was zwischen ihnen gewesen war, hatte gemeinsam mit Jahwe ein jähes Ende gefunden.

»Geht«, sagte der Morgenstern und gab den Chalkydri gereizt ein Zeichen mit der Hand.

Mit einem lauten Surren ihrer Flügel gehorchten diese und verschwanden.

»Bitte, Bruder, setz dich. Iss.« Der Morgenstern wies mit der Hand auf den Tisch, der voller Obst – Orangen, Limetten und Granatäpfeln –, Brot und Krügen mit Saft und Wein war. In einem Kreis standen mehrere Sofas um das Festmahl.

Lucien gelang es, sich trotz der Ketten und der zusammengebundenen Flügel anmutig zu setzen. Allerdings war eindeutig erkennbar, dass er sich nicht entspannte. Er hielt den Rücken gerade, und seine Muskeln wirkten zum Zerreißen gespannt. Lilith fiel auf, dass er die Kette zwischen seinen Fesseln mit beiden Händen festhielt.

Als plane er, sich seine Freiheit zu erkämpfen.

Er ist mein Sohn.

Vielleicht hatte er genau das vor, wenn er auch nur die geringste Gelegenheit dazu sah. Einen Augenblick lang belustigte sie die Vorstellung, doch dann räusperte sie sich ernüchtert. Sie atmete die nach Jasmin und Myrrhe duftende Luft ein und schob das Bild des brennenden Chaosthrons beiseite.

»Ist es deine Idee, dass wir uns heute hier treffen?«, wollte Lucien wissen. »Oder folgst du nur Gabriels Anweisungen, wie es sich für ein braves Schoßhündchen gehört?«

»Natürlich weiß Gabriel Bescheid«, antwortete der Morgenstern, ohne auf die Stichelei einzugehen. Seine Stimme klang so aalglatt wie sonnenwarme Seide. »Aber er wird nur erfahren, was ich ihm mitteile.«

»Der Platzhalter, wie du ihn nanntest, ist damit beschäftigt, sich zu überlegen, wie er die Welt der Sterblichen am leichtesten erobern kann«, meinte Lilith.

»Ganz einfach: Sobald Gehenna nicht mehr existiert«, flüsterte Lucien, »und ich auch nicht.« Er lehnte sich auf dem Diwan vor, so dass seine Ketten klirrten, und nahm sich eine Orange und ein Stück Brot.

»Das muss nicht passieren«, sagte Stern. Mattes, pfirsichfarbenes Licht ließ seine hellen Haare erglänzen. »Nicht, wenn es einen Creawdwr gibt, der das Land und dich heilt.«

»Es gibt keinen Creawdwr«, antwortete Lucien.

»Wirklich nicht?«, fragte Stern. »Ich habe Loki in die Welt der Sterblichen geschickt, um nach ihm zu suchen.«

Lilith bemühte sich, sich weder im Gesicht noch in ihrem Bewusstsein etwas anmerken zu lassen. Sie hatte nichts davon erwähnt, dass sie Loki zu Stein erstarrt auf dem Friedhof entdeckt hatte, dazu verdammt, ein Grab in New Orleans zu bewachen.

Lucien schälte die Orange und schwieg.

Stern seufzte. »Vielleicht hast du ihn ja getroffen?«

»Ich habe ihn getroffen«, entgegnete Lucien. »Er hat mich geärgert, weshalb ich ihn an die Erde band.« Er aß einen Schnitz Orange, wobei seine Miene gedankenvoll wirkte. »Wahrscheinlich wird er so lange dortbleiben, bis ich zurückkehre, um ihn zu befreien.«

Stern zog eine seiner weißen Brauen hoch. »Das würde sein Schweigen erklären. Wie gesagt: Ich habe ihn geschickt, weil ich glaube, dass sich ein Creawdwr in der Welt der Sterblichen verbirgt.«

»Wie kommst du auf diese absurde Idee?«, fragte Lucien.

»Einige Male hatte ich im Traum das Gefühl«, sagte Stern mit leiser Stimme, »als hätte ich die letzten Töne eines Anhrefncathls gehört. Ein wildes, wundervolles Lied.«

»Vielleicht war das Teil deiner Träume«, meinte Lucien. »Wenn ein Creawdwr in der Welt der Sterblichen wandelte, hätte ich davon erfahren.«

»Ja, das hättest du«, sagte der Morgenstern, »und du wärst ihm so nahe wie möglich gekommen, wobei ich nicht weiß, ob es deine Absicht gewesen wäre, ihn zu beschützen oder zu töten. Ich habe das Gefühl, dass Loki Bescheid wusste und du ihn deshalb an die Erde bandest.«

»Wenn du meinst.« Lucien aß seine Orange auf und biss in das Brot.

»Samael …«

»Er bevorzugt Lucien«, murmelte Lilith und nahm einen Schluck Saft.

»Lucien also, wie mir meine geliebte Cydymaith rät.«

Lucien sah die beiden an. Seine dunklen Augen funkelten amüsiert. »Gratuliere«, sagte er. »Ist dieser beneidenswerte Bund zufällig zur gleichen Zeit zustande gekommen, als Gabriel den Thron für sich forderte?«

Liliths Wangen liefen rot an. »Mit wem ich einen Bund eingehe, ging dich von dem Augenblick, als du aus Gehenna geflohen bist, nichts mehr an. Damals war das Blut unseres Creawdwrs an deinen Händen noch nicht getrocknet.«

Luciens belustigter Ausdruck verschwand, und in seinen Augen funkelte ein goldenes Licht. »Wir tun, was wir tun müssen. Jeder von uns – und wenn wir einmal das getan haben, was notwendig war, fangen wir neu an.« Sein Blick richtete sich auf sie und drang durch ihre Schilde, als ob sie nie existiert hätten.

Wir müssen einander vergeben.

Kalte Wut überkam Lilith. Wie war es möglich, dass ihm das nach all den Jahrhunderten, die inzwischen vergangen waren, noch so leicht gelang? Wieso vermochte er, ihr das Gefühl zu vermitteln, sie niemals betrogen zu haben, niemals von ihrer Seite gewichen zu sein? Als hätte sie ihm Unrecht angetan?

Lilith verschloss ihr Bewusstsein und fuhr ihre Schilde hoch. Sie hob den Becher und trank den Wein in einem Zug aus. Eine Magd in einer rosafarbenen Toga ergriff eine Kanne und eilte zu ihr, um ihren Becher erneut zu füllen. Die Nephilim schenkte ihr vorsichtig ein und kehrte dann an ihren Platz an der Wand zurück.

»Ja, das gefällt mir«, sagte Stern. Er klang ehrlich. Neugierig lehnte er sich vor und sah Lucien an. »Ich verspreche, diesen Schöpfer zu beschützen, ihn vor Gabriel zu verbergen, damit ihm kein Unrecht geschieht. Ich werde Gehenna zu neuem Leben erwecken und den Creawdwr auf den Chaosthron setzen, wohin er gehört. Wir fesseln ihn und lieben ihn …«

»Du machst einen Fehler«, sagte Lucien. »Es gibt keinen Creawdwr

»Oh doch! Ich habe seinen Gesang kurz vor Sonnenaufgang vernommen.«

Die Augen des Morgensterns funkelten wütend, seine Gefühle waren so heftig, dass es Lilith für das Beste hielt, gar nicht erst zu versuchen, ihn zu besänftigen.

»Dann musst du zu viel Wein getrunken haben«, antwortete Lucien kalt und distanziert. Er stand auf, wobei er erneut die Kette seiner Fesseln mit beiden Händen festhielt.

Einen Moment lang sah Lilith vor ihrem inneren Auge das Bild Luciens, wie er Jahwes leblosen Körper an sich presste. Würde Lucien auch seinen Sohn töten, weil er in seinem Wahn glaubte, ihn vor seinem rechtmäßigen Platz auf dem Chaosthron beschützen zu müssen?

»Wenn du diesen jungen Creawdwr nach Hause bringen würdest«, sagte Stern, »bin ich mir sicher, dass dir deine anderen Vergehen vergeben werden würden. Dann wärst du wieder frei und könntest entweder hierbleiben oder in die Welt der Sterblichen zurückkehren.«

»Diese Unterhaltung langweilt mich«, sagte Lucien. »Bring mich zurück in den Abgrund.«

Der Morgenstern fuhr sich mit einer Hand durch das kurze Haar, warf Lilith einen raschen Blick zu und nickte dann. »Wie du willst. Sobald du wieder kopfüber in der Hitze und Dunkelheit baumelst und die Chalkydri deinen Körper quälen, hoffe ich, dass du dich an unsere Diskussion erinnern wirst.«

»Oh, an jedes Wort«, antwortete Lucien. »Ein guter Witz erfreut mich immer.«

Du bist dran, meine Liebe, sendete der Morgenstern an Lilith, ein ironisches Lächeln auf den Lippen.

Ich werde mir sein Vertrauen erschleichen, Teuerster. Am Besten gehst du und lässt mich mit ihm allein.

Die Nephilim in der rosa Toga erhob sich, als ob man sie gerufen hätte, und näherte sich respektvoll dem Morgenstern. Das Mädchen war neu, sinnierte Lilith, aber sie kam ihr bekannt vor. Wenn man ihre weizenblonden Locken bedachte, war sie vermutlich einfach nur ein weiteres Halbblutkind Sterns.

Das Mädchen flüsterte Stern etwas ins Ohr und trat ein paar Schritte zurück. Er erhob sich mit einer fließenden Bewegung, wobei sein amethystfarbener Rock um seine Beine schwang. »Eine dringende Angelegenheit«, erläuterte er. »Ich muss es leider dir überlassen, meine Liebe, unseren Gast nach Sheol zurückzuschicken.«

Lilith nickte. »Natürlich, mein Lieber.«

Stern verließ das Zimmer, gefolgt von seiner Tochter und Dienerin. Sobald er verschwunden war, wurde es im Raum deutlich dunkler, obwohl draußen unterdessen die Sonne aufging. Gleichzeitig entspannte sich die Atmosphäre, als könnten die beiden nun endlich frei atmen.

Lucien sah Lilith an. Ein spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen. »Dann bist jetzt du dran?«

Ja, das soll der Morgenstern glauben, sendete sie. Bitte tu, was ich dir sage. Sie erhob sich von ihrem Diwan und ging um den Roteichentisch zu der Stelle, wo Lucien mit ausdruckslosem Gesicht stand. »Ich weiß, du willst Gabriel genauso vom Thron stoßen wie wir.«

Lucien nickte. »Ja. Aber ich verberge keinen Schöpfer. Ich weiß nicht, wie deutlich ich es noch sagen soll.«

»Die Tatsache, dass du Loki in Stein verwandelt hast, spricht gegen dich«, meinte Lilith, »und wenn Gabriel davon erfährt, wird er davon überzeugt sein, dass du etwas verbirgst.«

»Das Einzige, was man daraus ablesen kann, ist, dass Loki mich geärgert hat.«

Lilith lachte sanft. »Mich ärgert er auch immer wieder.« Ich habe heute Morgen den Gesang deines Sohns gehört. Sag ihm, er soll still sein.

In Luciens Augen spiegelte sich Sorge. Er hat unsere Verbindung gekappt. Wenn ich ihn zwinge, sie zu öffnen, wird ihn das nicht nur verletzen, sondern auch den anderen enthüllen, dass es eine solche Verbindung gibt. Dass es ihn gibt.

Eine Verbindung, der andere nachgehen könnten. Lilith fasste ihr schweres Haar über einer Schulter zusammen und begann, es zu einem Zopf zu flechten, während sie nachdachte. Warum hat dein Sohn die Verbindung gekappt?

Er glaubt, ich hätte ihn belogen.

Hast du?

»Vielleicht«, flüsterte Lucien. Er stolperte einen Schritt vorwärts, auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Lilith hielt ihn gerade noch rechtzeitig an den Schultern fest und half ihm, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Tut mir leid. Mich scheint allmählich die Kraft zu verlassen.« Ein gespenstisches Lächeln huschte über seine Lippen. Seine Haut brannte unter ihren Fingern, und sein Geruch nach Erde und grünen Blättern stieg ihr in die Nase und ließ sie erneut an die Vergangenheit denken.

Lilith ließ ihn los, kehrte zum Tisch zurück und goss noch einen Becher Wein ein. Sie drückte ihm das Gefäß in die bebenden Hände. »Trink«, drängte sie.

Gabriel hat vor, in dein Bewusstsein einzudringen, sobald du zu schwach bist, dich gegen ihn zu wehren, sendete sie. Dieser Feigling.

Ein Muskel zuckte in Luciens Unterkiefer. Er trank den Wein in einem Zug. Dann drückte er den feuchten, kühlen Becher an seine Stirn und schloss die Augen. »Du kannst mich jetzt wieder zurückschicken«, erklärte er. »Ich habe nichts mehr zu sagen.«

Gibt es Hoffnung auf Flucht?, sendete er. Wenn nicht, musst du für mich Dante vor Gabriel und dem Morgenstern beschützen. Er senkte den Becher und schlug die Augen auf. Lilith sah die Hoffnungslosigkeit in seinen golddurchsetzten Pupillen, und dieser Anblick brach ihr fast das Herz.

Sie dachte an Hekate und wie es sich angefühlt hatte, als man ihr ihre silberhaarige Tochter entrissen hatte. Voller Leid erinnerte sie sich an die Furcht im Gesicht des Kindes, nachdem Gabriel es nach dem siegreichen Kampf an sich gebracht hatte.

Sie wird an meinem Hof als Geisel bleiben, um mich deiner Kooperationsbereitschaft zu versichern.

Aber das ist doch nicht nötig, Gabriel. Ich schwöre dir bei meinem Namen, dass ich dir keinerlei Schwierigkeiten bereiten werde.

Lilith, du weißt genauso gut wie ich, dass ich dir nicht glauben kann. Sobald ich dir den Rücken kehre, wirst du einen Plan aushecken, wie du mir den Thron wieder entreißen kannst.

Diesmal nicht. Nicht mehr. Lass mir meine Tochter. Ich flehe dich an.

Still, meine Liebe. Hekate wird es gutgehen. Gabriel hat es mir versprochen.

Du hast davon gewusst? Du hast ihm unsere Tochter überlassen? Unsere Tochter, Stern?

Lilith erinnerte sich an Luciens Worte, die er vor vielen Jahrtausenden zu ihr gesagt hatte: Ihr werdet ihn nie mehr benutzen. Alles, was ihr seit jenem Tag zugestoßen war, hatte seinen Ausgangspunkt in dem Mord an Jahwe – durch ihren Cydymaith.

Lilith nahm Lucien den Becher aus der Hand und stellte ihn auf den Tisch. Mit einem Zucken ihres Geistes rief sie zwei Chalkydri herbei. Sie sah ihren früheren Cydymaith an. »Ich werde sehen, was ich tun kann«, log sie. Falls alle Stricke reißen, werde ich zumindest deinen Sohn beschützen.

Vor dir.

Lucien hob eine Hand, und die Ketten klirrten, als er über Liliths Wange strich. »Wir tun alle das, was wir tun müssen, Lili«, flüsterte er. Dann hob er den Kopf. »Jeder von uns.«

»Ja«, sagte sie. »Das tun wir.«

Wenn ich deinen Sohn finde, kann ich endlich meine Tochter befreien.

 

Der Morgenstern schritt aus dem Eingang des Horsts auf die Landegalerie hinauf. Ein schwaches aprikosen- und rosafarbenes Licht schimmerte auf dem Stein. Er hielt an der Balustrade inne und wandte sich dann Eris zu.

»Nun gut«, sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust. »Was hast du herausgefunden?«

Eris zog ein Stück Papier aus der Tasche ihres Gewandes. »Ich bin Lilith gefolgt, wie du mir befohlen hast, und …«

»Für dich ist sie noch immer die Herrin«, fuhr der Morgenstern sie an.

Eris erstarrte, dann senkte sie den Kopf. »Ja, Herr und Vater. Ich bin also der Herrin in den königlichen Horst gefolgt, wo sie in den Raum mit dem Chaosthron ging und mit dem königlichen Gabriel sprach.«

»Ah.« Der Morgenstern streckte die Hand aus. »Gib mir das, Kind.«

Eris reichte ihm das Stück Papier und wich einige Schritte zurück.

In seiner Hand begann es kolossal zu kribbeln. Er starrte auf den knittrigen Fetzen, während sein Herz in seiner Brust zu rasen begann. Als er mit einem Finger die dunklen Flecken Blut berührte, die sich in der Mitte des Papieres befanden, spürte er schlagartig die eindeutige Energie eines Creawdwrs.

Er hatte Recht gehabt – die ganze Zeit über. Samael, Lucien oder wie immer er sich nennen wollte hatte gelogen.

Der Morgenstern strich das Papier – eine Quittung – glatt und las, was darauf stand.

VIEUX CARRE WINE & SPIRITS
22 Chartres Str. · New Orleans

Er drehte sie um und las die Worte auf der Rückseite: Beschütze sie, ma mère. S’il te plaît, schütze sie. Auch vor mir.

Die weißen Flügel des Morgensterns entfalteten sich und schlugen in der warmen Luft. Er erhob sich heiteren Herzens in den Himmel.

Ein Schöpfer war in New Orleans und diesen Worten nach zu urteilen möglicherweise verliebt und nicht in der Lage, sich selbst zu trauen. Schütze sie. Auch vor mir. Ein Kind, das man an die Hand nehmen musste. Ein Kind, das man in Fesseln schlagen musste. Ein Kind, das er finden musste, ehe es unwiderruflich in dem Netz, das Lilith und Gabriel webten, gefangen war.