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DIE GROSSE TIEFE

Damascus, Oregon · 25. März

 

Dante schlug mit der Schulter zuerst auf dem Boden auf. Er rollte und kugelte über das nasse Gras, bis er gegen einen Baum knallte und liegen blieb. Helle Flecken tanzten vor seinen Augen, und Schmerz glühte wie Hitze in seinem Bewusstsein.

Lucien …

Je t’aime, mon fils, toujours.

Stimmen summten, flüsterten und forderten aus den zerspellten Tiefen in ihm herauf, getragen auf den Rücken von flackernden Wespen.

Du siehst ihr so unglaublich ähnlich.

Du willst also für sie bestraft werden, petit?

Wieso fesselt dich Papa Prejean denn nachts ans Bett?

Dein Herz hat mich erobert, Dante.

Heathers wundervolles Gesicht tauchte vor seinem geistigen Auge auf, während die hellen Flecken verschwanden. Dantes Rippen schmerzten.

Konzentriere dich auf Heather.

Er rollte sich zur Seite und erhob sich auf die Knie. Einen Arm drückte er gegen die verletzten Rippen. Regen kühlte sein Gesicht. Er drehte sich um. Das Haus war nichts mehr als ein rauchender Haufen Schutt, Holz und Ziegel. Er stand schwankend auf. Heather …

Musik erscholl rein und leuchtend in der Luft, und Dantes eigenes Lied stieg spontan antwortend in ihm auf. Lucien! Er tastete nach ihrer Verbindung, fand an der Stelle, wo das Band einmal gewesen war, jedoch nichts als gähnende Leere. Sein Bewusstsein zog sich schmerzhaft zusammen.

Er ging zu Boden.

 

Kalter Regen ließ Heathers Haar an ihrem Kopf und ihre Bekleidung an ihrem Körper kleben. Nasse Grashalme stachen ihr in die Nase. Sie erhob sich auf die Knie. In ihren Ohren dröhnte es, und ihr Kopf schmerzte. Die Detonation hatte sie zu Boden gerissen und ihr fast die Luft genommen.

»Heather! Scheiße!«, rief eine Stimme. Als sie sich ganz erhoben hatte, stürzte Annie auf sie zu und fasste sie am Arm. »Geht es dir gut?«

»Ich glaube schon«, antwortete Heather, »und dir?«

» Ja. Aber als das Haus in die Luft ging, dachte ich, du … ich hatte Angst …«

»Scheiße«, hauchte Heather und fuhr herum. Von und Dante waren direkt hinter ihr gewesen. Durch den strömenden Regen konnte sie eine Gestalt sehen, die sich einige Meter von dem Schutthaufen entfernt, der einmal das Haupthaus gewesen war, auf die Knie hochstemmte. Sie fasste nach der feuchten Hand ihrer Schwester und rannte durch den Garten auf Von zu.

»Alles in Ordnung?«, fragte sie und sah sich im Garten nach Dante um. Ihr Puls raste, als sie ihn nirgends fand.

Von blinzelte. Seine Augen fokussierten sich, und er sprang mit einer mühelosen, federnden Bewegung blitzschnell auf. Dann wirbelte er um dreihundertsechzig Grad herum. »Wo zum Teufel ist Dante? Hat sie ihn mitgenommen?«

» Wer? «, fragte Heather, der es eiskalt den feuchten Rücken hinunterlief.

»Eine der Gefallenen, eine Tussi «, antwortete Von. »Sie befahl mir, ihr Dante zu geben. Meinte, andere wären schon auf dem Weg. Verdammt! Lucien hat mich beauftragt, Dante vor allem vor den Gefallenen zu beschützen.«

Heather strich sich das nasse Haar aus dem Gesicht. »Aber Dante ist auch teilweise ein Gefallener. Warum muss er …«

»Dante Baptiste ist ein Schöpfer.« Die Stimme der dunkelhaarigen Frau mischte sich in das Gespräch ein. Sie trat neben Annie. »Außerdem ist er ein blutgeborener Prinz.«

Von richtete den Blick auf sie und sah sie finster an. »Wer sind Sie?«

»Caterina Cortini, Llygad«, antwortete sie voller Respekt. »Die Schattenabteilung hat mich beauftragt, Wells umzubringen. « Sie sah Heather ruhig an. »Wells und Sie.«

Vons Hand schoss zu seiner Jacke. Das Leder knarzte. Heather blinzelte. Die Mündung einer Pistole befand sich an Cortinis Schläfe. »Könnten Sie das erklären, bevor ich abdrücke? «

Cortinis Miene blieb ruhig. Heather freilich hatte bemerkt, dass sie einen Augenblick lang über Vons Reaktion überrascht gewesen war. »Der Befehl hat sich geändert«, erklärte die Auftragskillerin. »Die Schattenabteilung hat ein weiteres Team gesandt, um Sie dingfest machen zu lassen. Doch auch schon vorher hatte ich beschlossen, sowohl Sie als auch Dante zu beschützen. «

Die Mündung blieb, wo sie war.

»Warum sollten Sie so etwas tun?«, wollte Heather wissen.

»Weil ich erfahren habe, wer und was Dante ist, und erriet, wie viel Sie ihm bedeuten.«

»Warum kümmert Sie das?«, entgegnete Heather mit gepresster Stimme.

»Meine Mutter ist Vampirin.« Cortini hob leicht das Kinn. »Ich wuchs in einem Vampirhaushalt auf und habe mein Leben lang Geschichten über die Blutgeborenen gehört.«

»Ein Kind des Herzens«, sagte Von. »Wer ist Ihre Mutter? «

»Renata Alessa Cortini.«

Von stieß einen Pfiff aus. »Heilige Scheiße. Eine aus dem Cercle des Druides.« Er ließ die Schusswaffe sinken und sah Heather an. »Ich würde sagen, wir vertrauen ihr für den Augenblick. Wenn sie Scheiße baut, ist sie tot.«

Cortini neigte den Kopf in Vons Richtung. »Danke, Llygad

»Mir soll’s recht sein«, sagte Heather. »Lasst uns Dante suchen. «

 

Flügel rauschten. Dante roch Moschus und Weihrauch. Hitze schlug ihm entgegen. Sein Herz wurde leichter.

Lucien ist hier, und es geht ihm gut.

Er schlug die Augen auf und sah in das regennasse Gesicht einer Frau: goldene Augen, nachtschwarzes Haar, ein dünner saphirblauer Reif um ihren Hals. Die Spitzen ihrer dunklen Flügel wölbten sich über ihrem Kopf und schützten auch Dante vor dem Regen. Sie strich mit einem Finger sein Kinn entlang bis zu seinem Reif.

» Du hattest einen Anfall. Aber du darfst nicht lange ruhen. Wir müssen weiter.«

»Woher kennst du meinen Namen? Bist du eine Freundin von Lucien?«

»Er schickt mich«, antwortete sie. »Du kannst mich Lilith nennen.« Sie warf einen Blick gen Himmel. » Wir müssen los. «

»Nein. Warum hat Lucien dich geschickt und ist nicht selbst gekommen?« Dante stieß sich vom Boden ab und stand auf. Durch seine Rippen schoss stechender Schmerz. Kratzte durch sein Bewusstsein. Die Nacht drehte sich vor seinen Augen, und er wäre erneut gefallen, wenn ihn Lilith nicht an der Schulter gepackt hätte.

»Merci«, brummte er und trat einen Schritt zurück. »Geht es Lucien gut?«

Das Licht in Liliths Augen wurde weicher. »Dein Vater ist tot, Kleiner.«

»Lügnerin! Ich glaube dir kein Wort!« Er suchte nochmals nach der Verbindung zu Lucien und griff wieder ins Leere. Schmerz brannte wie Säure in seinem Inneren. Er schwankte und presste seine zitternden Finger auf seine pochenden Schläfen.

»Er starb, um dich vor dem Feind zu schützen«, fuhr Lilith fort, »und dieses Opfer hat dich verletzt – mehr als du weißt. Lass mich dir helfen.«

Dantes Herz fühlte sich eiskalt und tot an, während das Blut in seinen Adern abkühlte. Er fröstelte unwillkürlich und ballte die Fäuste. »Nein«, brachte er mühevoll heraus. »T’a menti. Er lebt. Er kann nicht tot sein.«

Je t’aime, mon fils, toujours.

Ich habe ihn von mir gestoßen, und jetzt ist er für immer weg.

Wird er jetzt bei mir sein, Dante-Engel?

Rotes Haar, Sommersprossen, blaue Augen und Kichern: Chloe. Diesmal entglitt ihm ihr Name nicht wie ein Stein, der über eine Eisdecke gleitet. Diesmal blieben ihr Name und ihr Gesicht.

Chloe.

Tiefe Trauer erfasste Dante. Seine Muskeln zogen sich zusammen und begannen zu beben. Blut troff ihm aus der Nase. »Meine Prinzessin«, flüsterte er.

»Wir müssen los«, drängte Lilith. »Ich habe Lucien versprochen, dich zu schützen und in Sicherheit zu bringen. «

Luciens Stimme flüsterte in Dantes Gedächtnis: Ich habe versucht, dich durch Schweigen zu beschützen.

Du hast mir versprochen, dass ich nie mehr allein sein würde, und dann habe ich dich im Stich gelassen.

Dantes Augen brannten. Er sah in die Liliths, die golden schimmerten. »Warum sollte ich dir vertrauen?«

»Lucien hat mir erzählt, du hast ihm einmal ein Geschenk gemacht, das ihm viel bedeutete: einen Anhänger in X-Form.«

Dante konnte sich genau an den Anhänger und die damit verbundene Geschichte erinnern.

»He, mon ami, das habe ich in einem Laden gefunden und musste an dich denken.«

Eine Kette aus Sterlingsilber und Wolfram gleitet von Dantes Fingern in Luciens offene Hand.

»Das Zeichen für Freundschaft«, flüstert Lucien. Freude erleuchtet seine Augen. Er fragt schmunzelnd: »Wieso hast du an mich gedacht?«

Dante zuckt mit den Achseln und muss ebenfalls lächeln. »Keine Ahnung. Passiert eben manchmal.«

»Wo ist sein Leichnam?«, fragte er mit schwacher Stimme. »Ich will ihn sehen.«

Lilith blinzelte. »Zu Asche zerfallen. Nichts ist von ihm übrig.«

Ein Muskel zuckte in Dantes Kiefer. Luciens Worte erklingen in ihm: Ich habe dich vor anderen versteckt. Vor mächtigen anderen, die dich gnadenlos für ihre Zwecke verwenden würden.

Die Gefallenen werden dich eines Nachts finden, und sie werden dich fesseln.

Lilith zeigte mit einem ihrer Krallenfinger gen Himmel. »Sie da oben sind der Grund, warum du mir trauen solltest. Sie haben deinen Vater getötet, um an dich heranzukommen.«

Dante blickte in Schlieren aus einem blauen, violetten und grünen Licht, die am Himmel erstrahlten. Ein Lied erklang plötzlich in der nächtlichen Luft, von vielen Stimmen gesungen, jede davon in ihrem eigenen Rhythmus und mit ihrer eigenen Melodie, obgleich sich alle zu einem makellosen Ganzen verwebten. Das himmlische Konzert traf Dante bis ins Mark.

Ich lasse mich nicht fesseln. Niemals. Es sei denn, sie wissen, wie man einen verdammten Leichnam fesselt.

Sein Lied stieg als Antwort in die Luft – eine zornige, düstere Arie.

Der Regen hörte auf. Sheridan wickelte seine Krawatte um seinen Oberschenkel, da er hoffte, so die Blutung stoppen zu können. Die Schmerzen hatten noch nicht angefangen, aber er wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde. Er fragte sich, ob er es den Hügel hinab schaffen würde, bis zur Einfahrt und zur Straße, bevor der Vampir …

Etwas rauschte über ihm in der Luft.

Sheridan sah auf, und sein Geist löste sich lautlos und unwiederbringlich auf.

 

»Da«, sagte Von und zeigte durch den Garten zu dem bewaldeten Hügel hinüber.

Heather blinzelte ins Dunkel. Dante war nicht allein. Eine Gestalt mit Fittichen stand neben ihm – eine Gefallene. Am Himmel rauschte es. Es war ein majestätisches Rauschen, wie ein mächtiger Wind kurz vor einem Sturm oder wie eine Flutwelle aus Hunderten von Flügeln.

»Heilige Scheiße« Von blickte in die Nacht hinauf.

Auch Heather sah hoch, und ihr stockte der Atem. Ein Polarlicht aus geisterhaften Strahlen tanzte und brandete über den Himmel. Gewaltige schwarze Vs kreisten unter den Wolken. Dutzende von Gefallenen schwebten in einer einem Unendlichkeitszeichen ähnelnden Formation hin und her wie Falken, die auf warmen Luftströmen gleiten. Ihre schlagenden schwarzen und goldenen Flügel glitzerten vom Regen und dem strahlenden Licht.

Einer der Gefallenen löste sich von den anderen – ein Mann mit einer gewaltigen roten Mähne. Die klamme Luft dampfte auf seiner nackten Brust. Seine goldenen Fittiche durchschnitten die Nacht voll Kraft und Präzision, als er sich hinabstürzte und die Baumwipfel überflog, ehe er sich wieder in einer anmutigen Pirouette in den Himmel erhob. Es war fesselndes Schauspiel, das jeder Einzelne von ihnen nachvollzog. Zugleich sangen sie – ein Chor aus kristallklaren Stimmen, der in der Nacht glockenhell widerhallte.

Wie eine Balz, dachte Heather.

Die Gefallenen kreisten über Dante.

»Sie rufen ihn«, sagte sie mit klopfendem Herzen.

»Sie werden ihn nicht kriegen«, brummte Von. »Komm schon, Püppchen.«

»Bleib hier«, sagte sie zu Annie. Heather nahm einen Hauch von Frost und Leder wahr, und dann spürte sie, wie sich ein starker Arm um ihre Taille legte. Von hielt sie eng an sich gepresst, als sie sich bewegten.

Sie hörte laute Schritte und wusste, dass Annie ihnen folgte. Klar. Sie gehorchte grundsätzlich nicht. So war ihr Schwesterlein. Hoffentlich ließ auch Caterina Cortini sie nicht im Stich.

Von blieb etwa zehn Meter vor Dante stehen. »Bleib hier, Püppchen«, brummte er.

Heather holte tief Luft, als Blitze aus blauem Licht einen Kreis um Dante bildeten und die Nacht durchstießen. Die Luft knisterte vor Energie. Sein bleiches Gesicht war gen Himmel gewandt, wo die gefallenen Engel über ihm kreisten.

Einer sank herab, mit rauschenden dunklen Flügeln landete er auf dem in Nebel getauchten Boden. Er breitete noch einmal die Flügel aus und faltete sie dann hinter sich, wobei sein purpurroter Rock wie Seide um seine Hüften schwang. Er verbeugte sich vor Dante und ließ sich dann ins feuchte Gras auf die Knie fallen. Strähnen seines champagnerfarbenen Haars wehten im Wind.

»Wir sind gekommen, um dich heimzugeleiten, junger Schöpfer«, sagte er mit klarer, respektvoller Stimme. »Um dich nach Gehenna zu führen, damit du deinen rechtmäßigen Platz auf dem Chaosthron einnehmen kannst.«

Dante senkte den Kopf. In seinem schwarzen Haar glitzerten Regentropfen. Er richtete seinen brennenden, goldenen Blick auf den flachshaarigen Gefallenen. »Gehenna?«

Der gefallene Engel starrte ihn offenen Mundes an. »Oh! So herrlich, unser kleiner Creawdwr

Der Frau mit den dunklen Flügeln stand einige Schritte hinter Dante. Jetzt trat sie vor und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dante hörte aufmerksam zu und wischte sich dabei gedankenverloren mit der glühenden Hand das Blut unter der Nase weg.

Tiefes Mitgefühl ergriff Heather. Sehen sie nicht, wie er leidet? Dass ihm alles wehtut? Sie trat einen Schritt vor, um zu ihm zu eilen. Aber entschlossene Finger, die sich um ihre Schulter legten, hielten sie davon ab und rissen sie zurück.

»Nein«, zischte Von. »Zu riskant.«

»Ist mir egal. Lass los.«

Der Nomad schüttelte den Kopf. »Vergiss es, Püppchen. Dante würde mir nie verzeihen, wenn dir etwas zustoßen sollte.«

»Ich vergebe dir auch nie, wenn ihm etwas passiert. Verdammt! Lass mich los!«

Aber Von hielt sie eisern fest. Frustriert musste sie zugeben, dass sie gerade offenbar nirgendwohin ging, wenn er das nicht wollte.

Mehrere andere Gefallene landeten mit rauschenden Fittichen auf dem Boden. Dunkle und goldene Flügel schlugen und wedelten die Nässe fort. Dann legten sie sich auf den Rücken ihrer Träger. Ultramarinblaue, schwarze, violette und rote Röcke und Kleider schmiegten sich an Gliedmaßen. Auf goldenen und silbernen Halsreifen glitzerten kleine Splitter aus gefasstem Mondlicht.

Einer nach dem anderen trat zu Dante und summte: »Lösche das Feuer, junger Schöpfer. Lösche das Feuer und beende deinen Gesang, damit wir dir helfen können. Damit wir dich lenken können. Schöner kleiner Creawdwr, wir werden dich heimbringen.«

»Habt ihr ihn ermordet?«, fragte Dante, dessen Gesicht zornig funkelte. Seine Stimme bebte vor Wut. Er sah einen nach dem anderen an. »Hast du ihn ermordet? Oder du? Oder du?«

Die Gefallenen sahen einander verlegen an. »Wen, kleiner Creawdwr?«, fragte einer. Sein Blick wanderte zu der Frau, die noch hinter Dante stand. »Möglicherweise hat dich die Herrin Lilith ja falsch informiert …«

»Lucien. Meinen Vater.«

Von sog hörbar die Luft ein. Er wirkte zutiefst bestürzt. »Das habe ich also gespürt. Eine abgebrochene Verbindung«, flüsterte er.

» De Noir ist tot?«, flüsterte Heather.

»Wir kennen keinen Lucien, der dein Vater ist«, erklärte der champagnerhaarige Gefallene und erhob sich. »Unser Gebieter Gabriel und der Morgenstern haben uns gesandt …«

Dante stieß die Hände gegen die Schultern des gefallenen Engels, so dass dieser einen Schritt zurücktaumelte. »T’a menti«, fauchte er. »Verdammter Lügner!«

» Oh! « Vons Hand glitt von ihrer Schulter zu ihrem Oberarm und riss sie beide eilig einen Schritt zurück.

Blaues Licht umgab Dante von neuem. Es schoss in Blitzen in den morgendlich geröteten Himmel hinauf und traf die Gefallenen – sowohl die auf der Erde als auch die oben Gebliebenen. Heather roch Ozon. Energie ließ ihre Haare knistern und jagte ihr Gänsehaut über den Rücken. Sie griff nach Vons Arm.

Ein blauer Lichtspeer durchbohrte den gefallenen Engel, den Dante zurückgedrängt hatte. Der Engel riss bestürzt den Mund auf. Dann erfasste ihn erkennbar eine gewaltige Furcht. Blaue Flammen loderten in ihm auf und ließen seine Haut einen Augenblick lang durchsichtig werden. Das Licht erlosch, und eine Statue aus Stein stand im nassen Gras zwischen den Bäumen. Die Flügel waren halb gespreizt, die Miene wirkte tief entsetzt, und der Rock war mitten im Schwung zu Stein erstarrt.

»Scheiße, Dante«, murmelte Heather. In seinem wundervollen Gesicht spiegelten sich Schmerz und Verlust. Sein Zorn hatte ihn nun völlig verschlungen.

Himmelblaue Lichtstrahlen jagten den fliehenden Gefallenen nach und trafen einen nach dem anderen. Alle wurden zu Stein. Die, die panisch davonflogen, stürzten wieder zu Boden, und die, die gerade knieten, sich verbeugten oder einfach nur dastanden, erstarrten in diesen Positionen. Allesamt wurden zu Statuen, mitten in der Bewegung erfasst und festgehalten: Haarsträhnen erhoben sich noch in die Luft, die Körper waren teilweise halb verdreht, die Gesichter abgewandt, die Hände erhoben. Alles war nun aus einem weißen, bläulich schimmernden Stein.

Das tiefrote Glühen am Himmel verschwand. Stille breitete sich wie dichter Nebel über dem Wald aus.

Dante drehte sich um und sah die gefallene Engelsfrau an. Ihre goldenen Augen waren geweitet, und sie hatte die Hände vor den Mund geschlagen. »Auch du wirst mich nicht fesseln«, sagte er mit gepresster Stimme.

»Das habe ich nicht vor, Dante«, sagte sie und ließ die Hände sinken. »Ich muss dich verbergen, ehe weitere kommen. Dein Vater hat mich geschickt, um dich zu schützen. Um dich zu lehren, was es heißt, ein Creawdwr zu sein …«

»Er hätte mir von dir erzählt.«

»Das konnte er nicht!«, rief sie. »Er hatte Angst, sie würden dich durch ihn finden! «

Dantes dunkles Haar erhob sich schlängelnd in die Luft und vermischte sich mit der Nacht. »Lügnerin«, wisperte er. »Lucien hat mich gewarnt …«

Sie fiel auf die Knie. »Bitte, kleiner Schöpfer. Meine Tochter braucht mich«, flehte sie voller Trauer. »Ich konnte sie nicht schützen, aber mit deiner …«

»Er hat mich gewarnt.«

Ein Band aus blauem Feuer schlang sich um die schwarzhaarige Frau. Ihre Flügel fielen nach vorn, und sie schloss die Augen, die Hände vor dem Schoß ineinander verkrampft. Glühende blaue Spiralen erfassten sie und verwandelten sie ebenfalls in Stein, wobei ihr langes Haar wie ein weißer Vorhang ihren gesenkten Kopf umrahmte.

Noch immer blitzte Licht um Dante auf, und sein bleiches, zutiefst trauriges Gesicht brannte vor Zorn und Ekstase. Sein Gesang strömte in Heather, voll wilder Akkorde und einem dröhnenden Rhythmus. Jede Note hallte in ihrer vollen Schönheit in ihrem Herzen wider.

Sie schwankte und fiel gegen Von, an dem sie sich festhielt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er legte den Arm um sie, während Dantes herrliches Lied von ihrem Herzen zu dem seinen und wieder zurück wanderte und sie mit immer größer werdenden Kreisen umgab.

Dantes dreieiniges Wesen sang den vielschichtigen Refrain: Heiligheiligheilig …

Mit geschlossenen Augen und verzückter Miene ließ Dante einen Brunnen aus blauem Feuer entstehen, der auf die Überreste des Hauses sprudelte. Geysire aus Humus und Wasser schossen empor. Der Boden schäumte und erzitterte, und ein gewaltiger Riss zeigte sich in der Erde.

»Oh mein Gott, kleiner Bruder.« Von hielt Heather noch fester an sich gedrückt, während beide langsam auf Dante zugingen und so die Geysire hinter sich ließen.

Die Bäume verschwanden. Sie versanken in der wogenden Erde. Holz knarzte und brach, und der Geruch dunkler Erde und grüner Blätter wirbelte durch die Luft und überdeckte den starken Gestank des Ozons.

Ein Strudel aus Erde, gesplitterten Bäumen und Hausschutt wirbelte tosend durch die Luft und bohrte sich in einer riesigen Spirale in die Mitte des Gartens.

Das Beben ließ nach und hörte dann auf. Die Öffnung einer riesengroßen Höhle gähnte dort, wo das Haupthaus einmal gestanden hatte. Heather sah das gefiederte Schwanzende des dreieinigen Monsters, ehe es schlängelnd und singend in der Höhle verschwand.

»Die Unterwelt«, flüsterte Annie verängstigt.

Mit trockenem Mund sah Heather, wie blaue Lichtfäden sich um die Steinstatuen wickelten und diese emporhoben. Eine nach der anderen wurde um die Öffnung der Höhle aufgestellt, wobei die gefallenen Engel, die mitten im Flug erwischt worden waren, auf jene platziert wurden, die standen oder knieten.

Ein Stonehenge der Gefallenen.

Das den Eingang in die Unterwelt bewachte.

Dantes Lied endete.

Das blaue Licht erlosch, und Dante wankte wie betrunken oder zutiefst erschöpft. Nach wenigen Schritten fiel er auf die Knie. Es war auf einmal wieder pechschwarz, und Heather blinzelte die Nachbilder der blauen Blitze von der Netzhaut, bis sich ihre Augen schließlich an die Dunkelheit gewöhnt hatten.

Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Sonne aufging. Sie musste Dante irgendwo hinbringen, wo er sicher war, und zwar so schnell wie möglich. Später würde sie darüber nachdenken, was sie gesehen und erlebt hatte. Was es bedeutete. Wie sehr es sie verängstigt hatte.

Heather löste sich aus Vons Umarmung und trat einen Schritt vor, doch er hielt sie auf, indem er sie am Arm berührte. »Morphium, Püppchen.« Er fasste in die Tasche und zog eine Spritze und eine Ampulle hervor. »Ich mache es. Es geht ihm sehr schlecht.«

»Ich weiß«, antwortete Heather. »Aber lass mich es machen. Ich muss mich daran gewöhnen. Er ist schließlich mein Mann.«

»Dein Mann?«, meinte der Nomad und gab ihr Spritze und Ampulle. »Weiß Dante das?«

Wann immer du willst, gehöre ich dir.

Ich lasse dich nicht allein.

T’es sûr de sa?

»Das hoffe ich«, flüsterte Heather gepresst. »Das hoffe ich.« Sie zog die Kappe von der Nadel, stach diese in die Ampulle und füllte die Spritze mit Morphium.

»Nein, Heather, bleib weg von ihm«, sagte Annie mit riesengroßen Augen. Ihr Gesicht war so blass wie das eines Nachtgeschöpfs.

Heather wandte sich ihr zu und strich ihr liebevoll mit kalten Fingern über die Wange. »Du musst keine Angst haben«, sagte sie und wünschte sich inbrünstig, Recht zu haben. Sie durchquerte den Garten. Von folgte ihr.

Dante hatte den Kopf gesenkt, seine Arme hingen an den Seiten herab, die Fäuste hatte er geballt.

»Baptiste?«, fragte Heather und blieb knapp dreißig Zentimeter von ihm entfernt stehen. »Hörst du mich? Baptiste?«

Er hob den Kopf, und seine blutunterlaufenen dunklen Augen fixierten sie. »Heather«, sagte er mit einer heiseren, wunden Stimme, die kaum lauter als ein Flüstern war. »Oui, ich höre dich …«

Sie kniete sich ins nasse Gras, holte tief Luft und fasste ihn am Kinn. »Du bist fix und fertig«, sagte sie entschlossen. »Deine Nase blutet. Leg den Kopf zurück.«

Dante bewegte sich. Er riss sich von Heather los, packte ihre Oberarme und zog sie an sich. Ihr Herz raste so, dass es in ihren Ohren widerhallte.

»Verhalten Sie sich still«, sagte Cortini.

»Lass sie los, kleiner Bruder.«

Heather nahm am Rand ihres Blickfelds eine verschwommene Bewegung wahr, als Von auf sie zukam.

Dante zischte, ein leiser, durchdringender Ton, der Heather die Nackenhaare aufstellte. Dann erbebte er. »Lasst mich in Ruhe«, murmelte er und stieß Heather mit beiden Händen von sich.

Von fing sie auf, ehe sie fiel. Doch sie schob ihn beiseite und kehrte zu Dante zurück. »Ich bleibe hier. Das ist unser Kampf. Rücken an Rücken, Seite an Seite. Weißt du noch?«

»Bei mir wirst du nie in Sicherheit sein.« Dante schloss die Augen. Blut lief ihm aus der Nase.

»Wer sagt denn, dass ich in Sicherheit sein will?«

Dante erstarrte. Er öffnete die Augen, und diese rollten nach hinten. Heather fing ihn auf, als ihn ein weiterer Anfall erfasste und seine Muskeln wie wahnsinnig zucken ließ. Sie stieß die Nadel in seinen Hals und drückte den Kolben herunter. Sein Kopf fiel nach hinten.

Dann schlang sie die Arme um seinen kranken, zitternden Körper und hielt ihn so lange fest, bis das Morphium seine Wirkung tat. Mit einem Seufzer schmiegte sich Dante an sie. Sie setzte sich mit ihm ins feuchte Gras, während ihr Herz schnell und wild schlug.

»Ich bin in den Abgrund gestürzt«, stotterte Dante undeutlich. »Aber Lucien …« Er konnte nicht weitersprechen, sondern sah Heather durch seine dichten Wimpern an. Dann streckte er die Hand aus und strich mit einem Finger über ihre Lippen. »Ihr Name war Chloe. Sie war meine Prinzessin, und dann habe ich sie ermordet.«

Er schloss die Augen. Eine Träne lief unter seinen Wimpern hindurch bis zu seinem Ohr.

Ihr Name war Chloe.

Heathers Herz krampfte sich vor Mitgefühl zusammen. Sie starrte ihn mit brennenden Augen an. Er hatte sich an einen Teil seiner Vergangenheit erinnert, und das nicht mit der Hilfe eines Menschen, dem er viel bedeutete und nicht dann, als er sich daran erinnern wollte. Er hatte sich daran erinnert, weil er Morphium und Absinth bekommen und man ihn gefoltert hatte. War Chloe die Einzige, die in seinem Gedächtnis wieder an die Oberfläche getaucht war?

Heather strich ihm das nasse Haar aus dem Gesicht. Sie senkte den Kopf und berührte für einen kurzen Augenblick seine Lippen. »Ich liebe dich, Dante Baptiste«, murmelte sie.

Doch ihre Worte verhallten ungehört. Dante war Dank des Morphiums in einen künstlichen Schlaf gefallen.

»Die Sonne geht gleich auf, Püppchen. Wir müssen los.«

»Ich habe in Portland ein Motelzimmer«, sagte Cortini.

Heather nickte. »Gut, dorthin können wir uns für den Tag zurückziehen.«

»Was passiert, wenn es wieder Nacht wird?«, fragte Annie.

Heather blickte in Dantes friedliches, blutbeflecktes Gesicht. Sie versuchte, an die Illusion zu glauben, die es ihr vorgaukelte. »Dann beginnen wir ein neues Leben und schaffen uns eine Zukunft.«