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NEUE GÖTTER

Auf der I-205 zwischen Damascus und Portland · 22. März

 

Alex Lyons lenkte seinen Dodge Ram auf der I-205 nordwärts nach Portland, wo er mehr Materialien für Athenas Experimente abholen wollte. Sie schlief, aber er wusste, dass sie trotz der Medikamente bald aufwachen würde. Ihr ruheloser Geist würde sie bald wieder aufspringen lassen, damit sie ihren Gedanken nachjagen konnte.

Infernos Musik dröhnte aus den Lautsprechern und füllte das Wageninnere mit ihren wütend-scharfen Klängen. Dantes Stimme drang heiser und leidenschaftlich in Alex’ Bewusstsein.

I’m waiting for you
I’ve watched
And watched
I know your every secret …

Wohl kaum, dachte Alex. Aber ich kenne deine Geheimnisse. Ein durchdringend schriller Klang begleitete die Melodie, und es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass sein Mobiltelefon klingelte. Hastig stellte er die Musik leiser, lenkte den Ram auf den Seitenstreifen und blieb stehen. Er schaltete das Warnlicht an und zog das Mobiltelefon aus seinem Kapuzenshirt. Auf dem Display stand Nummer unterdrückt.

Er drückte auf das grüne Hörersymbol und sagte: »Lyons.«

»Hat Ihr Treffen mit Heather Wallace etwas Interessantes ergeben?« Die Stimme seines Kontakts aus der Schattenabteilung klang tief, sonor und leicht nasal. New England, vielleicht Boston, dachte Alex.

»Nein, leider nicht«, antwortete er. »Sie hat nichts rausgelassen. Ich bin sicher, dass sie klug genug ist, um zu wissen, dass man sie beobachtet und ihr Infos entlocken will.«

»Über Prejean hat sie nichts gesagt? Auch nicht über Bad Seed?«

»Nein.«

»Auch nichts über Moore oder die Ereignissen im Center, nehme ich an.«

»Richtig.«

Sein Kontakt seufzte. »Na ja, wahrscheinlich hätte es sowieso keinen großen Unterschied gemacht, nehme ich an.«

»Wie meinen Sie das?« Alex horchte auf. Er wollte keine Nuance der Antwort verpassen.

»Sie wird Ihrem Vater in … nun … in die Pension folgen.«

»Ist das nötig?«, fragte Alex.

»Ja.«

Alex stellte sich Heathers attraktives herzförmiges Gesicht und ihre tiefblauen Augen vor. Er erinnerte sich, worum sie ihn gebeten hatte: Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie meinen Vater im Dunklen tappen lassen können. Er erinnerte sich auch an sein Versprechen. »Eine interessante Sache habe ich indirekt übrigens doch über Wallace erfahren«, meinte er nach einem Moment des Nachdenkens.

»Nämlich?«

»Es waren weder Glück noch schnelle medizinische Versorgung, die ihr das Leben gerettet haben, wie sie behauptet. Prejean hat sie geheilt, und zwar ohne dass er ihr Blut gegeben hätte.«

»Das ist interessant. Ich finde es außerdem auffallend, dass Sie mit dieser Information erst herausrücken, nachdem ich Wallaces bevorstehende Pensionierung erwähnt habe.«

Auf Alex’ Stirn begannen sich Schweißperlen zu bilden. »Tut mir leid, das ist mir eben erst wieder eingefallen.«

»Gibt es noch etwas, was ich wissen sollte? Irgendwas, das Ihnen noch entfallen sein könnte?«

Alex wartete einen Augenblick, ehe er antwortete, um so zu tun, als ob er nachdenken müsste. »Nein, nichts weiter.«

Die Verbindung brach ab – die typische Art seines Kontaktmannes, sich zu verabschieden. Alex schob sein Handy wieder in die Tasche zurück und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Er hoffte, Heather mehr Zeit verschafft zu haben, da die Schattenabteilung nun vielleicht mehr daran interessiert war, sie zu beobachten als sie gleich zu töten. Sie war klug, sexy und voller Geheimnisse, von denen er und sie eines nun teilten.

Ich lasse den alten Mann im Dunklen tappen.

Er schaltete das Warnlicht aus, zündete und fädelte sich wieder in den Verkehr ein. Einige Regentropfen schlugen auf die Windschutzscheibe, und er schaltete die Scheibenwischer ein. Inferno durchbrach die Stille, und Dantes Worte trafen ihn mitten ins Mark.

Break me
I’m daring you
See if you can
Break me
With your whispers and your lies
Fucking break me
With your kiss
I’m daring you
Put me on my knees
See if you can …

Die Scheinwerfer des Autos erhellten eine Gestalt, die mit ausgestrecktem Daumen rückwärts am Seitenstreifen entlanglief. Alex nahm den Fuß vom Gas und lenkte den Wagen an den Straßenrand. Noch ehe er ganz angehalten hatte, rannte die Gestalt bereits auf den Pick-up zu.

Einen Augenblick flog die Beifahrertür auf, und ein eisiger, regenfeuchter Lufthauch wehte herein. Ein jugendlich-bärtiges Gesicht tauchte auf. »Wie weit fahren Sie?«

»Portland«, sagte Alex.

»Cool, das passt.« Der Anhalter warf seinen fleckigen, wettergegerbten Rucksack auf die Rückbank und kletterte ins Auto. Er legte den Sicherheitsgurt an und lächelte. »Danke, Mann.« Sein feuchtes Haar, das bis zum Kragen reichte, lockte sich an den Spitzen.

»Gern«, meinte Alex und erwiderte das Lächeln des Mannes. »Sie tun mir auch einen Gefallen.«

»Indem ich Sie wach halte?«

»Indem Sie mir bei einer Besorgung helfen.«

Das Lächeln des Anhalters verschwand. »Welcher Besorgung? «, wollte er wissen.

»Keine Angst. Sie werden nichts tun müssen.« Telekinetische Energie durchfuhr ihn und raste knisternd und prickelnd seine Wirbelsäule hinauf, als er sich auf den Mitfahrer neben ihm konzentrierte.

Die Energie schoss in den Anhalter, drückte ihn in den Sitz und verschlug ihm einen Augenblick lang den Atem. Er japste. Die Haare auf seinem Kopf und an seinem Bart stellten sich auf. Seine Augen weiteten sich, als er versuchte, sich zu befreien, indem er um sich schlug. Doch es gelang ihm nicht. Er vermochte sich nicht von der Stelle zu rühren, denn unsichtbare Hände hielten ihn.

Alex griff in die Tasche seiner Kapuzenjacke und holte eine Spritze heraus. »Sie haben mir viel Zeit und Mühe gespart«, sagte er zu dem Anhalter, der panisch zu grunzen begonnen hatte. »Jetzt muss ich nicht schon wieder einen dieser elenden Penner unter der Burnside Bridge verhaften.«

Er fragte sich insgeheim, was Athena mit ihren Experimenten bezweckte. Er wusste, sie versuchte, dasselbe zu bewirken, was Dante bei Johanna Moore in den Filmaufnahmen getan hatte. Die Vorstellung des Auflösens faszinierte sie ungemein.

Wie soll ich ihn sonst verstehen können?

Alex hatte keine Antwort auf diese Frage. Die Experimente beschäftigten sie und schienen sie zufriedenzustellen, und das war letztlich das Wichtigste.

Manchmal lag Alex nachts wach, lauschte Athena, wie sie ruhelos durchs Haus huschte und stellte sich vor, sie verlöre die Kontrolle. Ermordete ihre Eltern. Steckte das Haupthaus in Brand. Er glaubte sogar, den beißenden Rauch, das Knacken des prasselnden Feuers wahrzunehmen und zu spüren, wie sich die Haut auf seinem Gesicht anspannte.

Nenn mich Hades.

Dann fiel ihm wieder die Bad-Seed-CD mit den Aufnahmen des schönen vierzehnjährigen Dante ein, der zuerst seine misshandelnden Pflegeeltern ermordete und dann das Haus anzündete, und er wurde ruhiger. Vielleicht gehörten solche Szenarien dazu, um erwachsen zu werden, sich weiterzuentwickeln und von allem zu lösen.

Erst wenn die alten Götter gestürzt sind, können die neuen den Thron besteigen – gestärkt und gereinigt durch das vergossene Blut.

So war es schon immer gewesen, und so würde es immer sein.

»Amen, Bruder«, flüsterte Alex, rammte dem Tramper die Injektionsnadel in den Hals und jagte die Flüssigkeit in dessen Schlagader.