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DIE KUNST DER SELBSTVERNICHTUNG

Seattle, Washington · 22. März

 

Annie sackte in sich zusammen und stürzte zu Boden. Einen Augenblick lang sah Heather das Bild ihrer Mutter vor sich, wie sie zusammengerollt auf dem mit Laub bedeckten Waldboden gelegen hatte. Dante brummte etwas. Seine Miene wirkte genervt, als er sich auf die Knie niederließ und seine Finger gegen Annies Schläfen presste.

Heather eilte durchs Wohn- ins Esszimmer hinüber, wobei sie den Tatortaufnahmen, Papieren und Aktenmappen auswich, die überall auf dem Boden verteilt waren. Sie kniete sich ebenfalls neben Annie und strich ihr das bunte Haar aus dem Gesicht.

»Geht es ihr gut?«, fragte sie Dante. Sie fasste in die Tasche ihrer Jacke und zog das Mobiltelefon heraus, das sie sogleich aufklappte. Dantes warmes Aroma nach brennendem Laub und dunkler, tiefer Erde umgab sie.

»Nicht anrufen. Es geht ihr gut. Zugedröhnt, vielleicht betrunken, vielleicht tut sie nur so, als ob. Aber sie ist in Ordnung. «

»Vielleicht tut sie nur so, als ob?« Heather klappte das Mobiltelefon wieder zu und schob es in die Tasche zurück.

Dante zuckte die Achseln. »Möglich.« Er zog die Hände von Annies Schläfen zurück und legte sie auf seine Schenkel, die von einer Lederhose bedeckt waren. »Sie ist sauer auf mich.«

»Da ist sie nicht die Einzige«, antwortete Heather und beugte sich über ihre Schwester.

»Ach?«

»Ja. Aber darüber reden wir später.«

»In Ordnung.«

Sie roch den Schnaps in Annies Atem. Verdammt, Annie. An Annies rechter Hand und ihrem Handgelenk war Blut. Sie drehte den Arm ihrer Schwester um und erstarrte, als sie den blutenden Schnitt entdeckte.

»Sie hat es getan, ehe ich sie aufhalten konnte«, sagte Dante. »Tut mir leid.«

»Nicht deine Schuld«, sagte Heather.

Kühle Nachtluft strömte durch das offene Fenster in Heathers Rücken herein. So muss er hereingekommen sein. Indem er das Fenster aufgebrochen hat. Oder war zuerst Annie eingebrochen? Wut stieg in ihr hoch. Sie hatte sich solche Sorgen um Dante gemacht, hatte versucht, ihn zu erreichen, indem sie Simone angerufen hatte und zu Vespers gegangen war – während er einfach in ihr Haus eingebrochen und … was eigentlich? … mit ihrer Schwester gerungen hatte?

»Was ist hier passiert?«, fragte Heather und sah ihm in die dunklen Augen.

»Sie leidet«, sagte Dante, »und wollte nicht alleine leiden.«

Heathers Wut ließ nach, als sie das unter Dantes Nase verschmierte Blut sah. »Hast du … hat sie …« Sie brach ab und musterte ihre Schwester und deren glattes, ausdrucksloses Gesicht. Dann wandte sie den Blick wieder Dante zu. »Hat sie irgendeine Erinnerung ausgelöst?«

Dante schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich mich erinnern könnte.« Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.

»Nicht lustig.« Heather betrachtete seine blutigen Hände – Abwehrspuren –, dann sah sie den Schnitt auf Bauchhöhe in seinem Latexshirt. Sie sog hörbar die Luft ein und berührte vorsichtig den Schnitt im Hemd, um ihn aufzuziehen. »Scheiße! Hat sie dich verletzt?« Die bleiche Haut darunter war blutüberströmt und klebte.

Dantes warme Finger legten sich um die ihren und zogen ihre Hand weg. »Es geht mir gut, chérie. Mach dir keine Sorgen. Ich bin ein Nachtgeschöpf, schon vergessen?«

»Ich weiß.« Beruhigt drückte sie seine Finger, ehe sie ihn losließ. »Aber verletzt kannst du trotzdem sein.«

Dante zuckte die Achseln. »Oui.«

Er hob Annie in seine Arme und stand auf, seine Bewegungen waren leicht und anmutig, auch wenn er eine Frau an seine Brust drückte. Annies Kopf fiel gegen seine Schulter, und schwarze, purpurne und blaue Strähnen verhüllten ihr Gesicht. »Wo soll ich sie hinlegen?«

»Hier entlang«, sagte Heather, stand ebenfalls auf und führte ihn in den Gang in ihr Gästezimmer. An der Schwelle trat sie zur Seite, so dass er Annie hereintragen und aufs Bett legen konnte. Die Matratze gab unter ihrem Gewicht nach und gluckste.

»Ein Wasserbett? Ehrlich?«, fragte Dante und richtete sich auf.

Heather spürte, wie ein Lächeln ihre Lippen umspielte. »Ich mag dieses Bett, Mr. Ich-hab-einen-Futon. Also sieh dich vor«, sagte sie und betrat den im Dunkeln liegenden Raum. Sie schaltete eine kleine Nachttischlampe neben dem Bett ein. Daraufhin zeigte sich ein kleiner gelblicher Kreis an der Zimmerdecke.

Sie setzte sich neben Annie aufs Bett, wobei die Matratze einige Sekunden lang unter ihrem Gewicht schwankte. Zärtlich strich sie ihr die Haare aus dem Gesicht. War das der Beginn eines manischen Anfalls oder einer immer weiter nach unten führenden Depressionsspirale?

Heather blickte auf, um Dante zu bitten, sie einige Minuten mit Annie alleinzulassen, doch er hatte bereits das Zimmer verlassen. Einen Moment lang befürchtete sie, er könnte einfach gehen. Aber er war bestimmt nicht in ihr Haus eingebrochen, um einfach wieder zu verschwinden, ohne ihr zu erklären, was er gewollt hatte. Ihre Schultern spannten sich vor Nervosität an.

Vons Worte hallten in ihr wider: Er hat sich Sorgen um Sie gemacht.

Sie hatte allerdings im düsteren Korridor des Vespers das Gefühl gehabt, dass Von ihr nicht alles sagte.

Sie hatte es in seinen Augen gesehen. Die Beunruhigung hatte ihn ganz angespannt wirken lassen. Eines war eindeutig gewesen: Er machte sich offensichtlich große Sorgen um Dante.

Vorsichtig drehte Heather Annies aufgeschnittenes Handgelenk um und begutachtete die Wunde; obwohl sie noch immer leicht blutete, würde man sie nicht nähen müssen. Sie suchte Annie nach weiteren Verletzungen ab und entdeckte in der Handinnenfläche und den Fingern Schnitte sowie einen schwachen blauen Fleck auf ihrer Stirn.

Heather stand auf und sah zu, wie die Matratze mit Annie erneut ein paar Augenblicke lang auf und ab schaukelte. Eine blaue Haarsträhne klebte an ihrer Wange. Die Haut unter ihren Augen war kajalverschmiert, und es war klar, dass Annie in letzter Zeit wieder einmal wenig geschlafen hatte. Auf ihren Lippen war ein schwacher Streifen getrockneten Bluts zu sehen.

Wenn man den Zustand des Bodens im Ess- und Wohnzimmer bedachte, musste Annie die Tatortaufnahmen gesehen haben. Ich hätte sie nie dort liegen lassen, wenn ich gewusst hätte, dass sie kommt.

Heather wandte sich ab und ging ins Bad, um einen Waschlappen, Desinfektionsmittel und Verbandszeug zu holen. Als sie einen Blick ins Esszimmer warf, bemerkte sie, dass Dante dabei war, die Papiere und Fotos vom Boden aufzuheben. »Das musst du nicht tun«, rief sie ihm zu. »Ich kümmere mich später darum.«

Er schnaubte und fuhr fort. Heather schüttelte den Kopf. Immer noch stur. Sie dachte daran, wie er ihre Schwester voller Behutsamkeit und Zärtlichkeit in die Arme genommen und ins Gästezimmer hinübergetragen hatte, und das, obwohl sie versucht hatte, ihren Schmerz mit ihm zu teilen. Immer noch Dante. Jetzt musste sie allerdings auch noch »Einbruchsexperte« auf die Liste seiner herausragenden Fähigkeiten setzen.

Sie kehrte mit den Dingen für Annie ins Gästezimmer zurück und setzte sich wieder auf das Wasserbett, das wieder eine Weile hin und her wogte, ehe es ruhig wurde.

»Hi.«

Heather blickte in Annies schwarzumrandete Augen und bemerkte ihre geweiteten Pupillen. Ihr fiel auf, dass sie für eine Frau, die bewusstlos geworden und gerade erst wieder zu sich gekommen war, nicht sehr verwirrt wirkte. Ihre Kiefermuskeln verkrampften sich. Vielleicht tut sie nur so, als ob. Sie hatte das Gefühl, dass Dante Recht gehabt hatte. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Annie etwas vortäuschte.

»Selber hi. Wie fühlst du dich?« Behutsam wusch sie mit dem feuchten Waschlappen das Blut von dem Schnitt in Annies Handgelenk.

»Dein Freund ist ein gottverdammter Vampir! Mit Fängen und … und …« Annies Stimme überschlug sich fast. Sie biss sich auf die Unterlippe und blickte zur Seite.

Versuchte sie zu heulen? »Tut mir leid, wenn er dir Angst gemacht hat«, sagte Heather und tupfte etwas Desinfektionsmittel auf die Wunde. Der scharfe Geruch überdeckte einen Augenblick lang Annies Alkoholfahne. »Ich habe dir doch gesagt, er ist ein Nachtgeschöpf.«

»Hast du angenommen, ich würde das einfach so glauben? Vampire? Mein Gott!«

»Glaubst du es jetzt?« Heather verband die Wunde.

»Ja«, wisperte Annie. »Er hat mich geschnitten, und ich glaube, er wollte mich austrinken. «

Heather sah ihrer Schwester in die Augen. »Er hat dich nicht geschnitten, Annie, und er hat versucht, dir zu helfen, nicht, dich zu verletzen. «

»Woher zum Teufel willst du das wissen? Du warst verdammt nochmal nicht mal dabei! Warum stellst du dich auf seine Seite?«

Geht das schon wieder los, dachte Heather. »Ich stelle mich auf niemandes Seite.«

»Doch, tust du!«

Das plötzliche Aufheulen des Staubsaugers im Esszimmer ließ Heather zusammenzucken. Was tat Dante? Wenn man bedachte, wie scharf sein Gehör war, versuchte er vermutlich, ausreichend Krach zu machen, um ihr Gespräch nicht belauschen zu müssen. Annie war nicht gerade leise.

»Hör auf«, sagte Heather. Es gelang ihr, ruhig zu klingen. »Du hast getrunken und irgendwelches Zeug genommen, und dann bist du bei mir eingebrochen. Wann bist du aus der Klinik entlassen worden?«

Annie presste die Lippen zusammen und wandte den Blick ab.

»Man hat dich nicht entlassen, nicht wahr? Du bist ausgerissen und hast aufgehört, deine Medikamente zu nehmen. «

»Warum sollte ich sie nehmen? Das Einzige, was sie bewirken, ist, mich in einen gottverdammten Zombie zu verwandeln. Aber das macht es dir leichter, was?«

Annies Worten verletzten Heather, und sie erstarrte. »Ich will, dass es dir gutgeht, nicht, dass du ein Zombie wirst. Ich will, dass du in dein altes Leben zurückkehren kannst. Ich will dich auf der Bühne sehen. «

»Klar. Dein Freund hat mich übrigens geküsst. Zweimal.«

Annie beobachtete sie mit einem süffisanten Lächeln und einem Funkeln in den Augen. Sagte sie diesmal die Wahrheit und benutzte sie wie ein Messer? Annies Hände hatten auf Dantes Hüften gelegen, als sie hereingekommen war; seine Hände hatten seitlich an ihm herabgehangen. Aber der Blutstreifen an ihrem Mund – war der durch Dante dorthin gekommen? Seine Nase hatte schließlich geblutet.

War es wichtig, ob Dante sie geküsst hatte?

Die unerwartete Gefühlsverwirrung – Zweifel, Sehnsucht, Kummer – in ihrer Brust überraschte Heather. Ja, es war wichtig. Sehr sogar.

»Eins zu null für dich«, brummte Heather und senkte den Blick. »Aber er ist nicht mein Freund.« Seufzend schloss sie die Augen. Doch er war ein echter Freund und vielleicht auch mehr.

»Nicht dein Freund? Klar. Ich habe sein Gesicht gesehen, als er deinen Namen sagte. Ich habe bemerkt, wie er schaute, als er dich hereinkommen sah.« Annies Stimme war nur ein leises Flüstern. »Nichts anderes hatte mehr eine Bedeutung. Niemand sonst existierte. Nur du. «

»Annie … nein.«

Annie setzte sich auf dem schwappenden Bett auf und zog die Knie bis zur Brust hoch. »Diese Bilder von Mom – warum sind die hier?«

Heather betrachtete Annie. Sie hatte sich ganz klein und hart wie eine Faust gemacht. Fast schien sie vor Energie zu beben, als stünde sie unter Strom. Also manisch. »Ich versuche, ihren Mörder zu finden. Ich tue, was Dads Aufgabe gewesen wäre.«

»Wenn du den Kerl findest, der Mom ermordet hat, lass es mich wissen. Ich will ihm danken.«

Heather gab Annie den feuchten Waschlappen und stand auf. »Hier, mach dich noch ganz sauber, und dann solltest du schlafen.«

»Dad hat das Richtige getan, indem er diese Schlampe aus seinem Gedächtnis gestrichen hat. «

Heather starrte Annie an. In ihren Schläfen rauschte das Blut. Der Ratschlag von Annies Therapeuten tauchte vor ihrem inneren Auge auf wie ein Rettungsanker: Lassen Sie sich nicht von ihrer Theatralik einwickeln, lassen Sie Annie nicht die Oberhand. Zeigen Sie ihr, dass sie Ihnen viel bedeutet. »Wenn du etwas brauchst«, sagte sie, wobei ihre Stimme selbst in ihren eigenen Ohren angestrengt klang, »lass es mich wissen. Ich bin im Wohnzimmer. «

Annie warf sich auf den Rücken und rollte sich dann ein. Das Bett wogte und schaukelte. » Ja, ja. Leck mich.«

Heather holte tief Luft, verließ das Gäste- und ging ins Esszimmer. Dante saß im Schneidersitz auf dem Boden. Er hatte sich das Blut aus dem Gesicht gewaschen und las in der Akte über ihre Mutter. Die Tatortfotos lagen auf einem Stapel neben ihm. Die Glasscherben waren weggesaugt, und der zerbrochene Bilderrahmen war ebenfalls aufgeräumt. Das gerahmte Poster war ein Druck von Frederic Leightons »Flaming June«, der jetzt auf dem Esszimmertisch lag.

Heather merkte, wie die Anspannung in ihren Muskeln etwas nachließ, als sie Dante so unerwartet häuslich sah. Wenn sie an den unordentlichen Zustand seines Zimmers in New Orleans dachte, hätte sie nie angenommen, dass er so ordentlich sein konnte.

Er strich sich während des Lesens eine Haarsträhne hinters Ohr. Seine dunklen Brauen waren konzentriert zusammengezogen. Sie musste an die Aufnahmen denken, die sie aus seiner Akte kannte, auf denen Chloe ihm das Lesen beigebracht hatte, und ihr Herz verkrampfte sich.

»Das alles tut mir leid«, sagte sie und setzte sich neben ihn auf den Boden. »Annie ist manisch-depressiv …«

Dante hob den Blick und legte einen Finger an die Lippen. Dann wies er mit dem Kopf Richtung Gang.

Es war klar, was er damit sagen wollte: Sie hört uns zu.

Heather nickte. Sie wollte die Tür nicht schließen, da sie Angst davor hatte, was Annie dann anstellen konnte. Aus demselben Grund wollte sie auch in kein anderes Zimmer wechseln, wo sie außer Annies Hörweite gewesen wären. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und fühlte sich auf einmal todmüde.

»Kümmerst nur du dich um sie?«, fragte Dante, wobei seine Stimme kaum lauter als ein Flüstern war.

»Meistens«, murmelte sie. »Mein Bruder lebt in New York, und mein Dad … na ja, den kann man vergessen. Annie wohnt meist allein, aber wenn sie so drauf ist … dann braucht sie mich.«

»Tut mir leid, chérie

Dantes Worte, seine Stimme, tief, warm und aufrichtig, berührten ihr Herz. Doch die kalte Luft, die durch das offene Fenster hereinkam und nach Regen und feuchten grünen Blättern roch, erinnerte sie daran, wie er in ihr Haus gekommen war.

Heather stand auf, ging raschen Schrittes zum Fenster und schloss es. Sie tastete den zerbrochenen Riegel ab und warf Dante über die Schulter einen Blick zu. Er beobachtete sie. Sein hübsches Gesicht wirkte auf einmal vorsichtig. Er bemerkt die Spannung in meinen Bewegungen und hört sie in meiner Stimme. Kein Wunder, dass er wachsam ist. Nur so hat er seine Kindheit und die Straße überlebt.

»Warum bist du durchs Fenster eingestiegen?«

»Die Tür war verschlossen.«

»Das Fenster auch.«

Er zuckte die Achseln. »Ich dachte, das Fenster wäre unauffälliger. «

»Was zum Teufel hast du dir dabei überhaupt gedacht?«, fragte sie und drehte sich zu ihm um. Sie umklammerte das Fensterbrett hinter ihr. »Du hättest anrufen können. Oder anklopfen. Oder einfach warten, bis ich komme!«

»Ich wollte sichergehen, dass es dir gutgeht.«

»Macht es das besser? Du brichst hier ein, weil du dir Sorgen um mich gemacht hast?« Sie fixierte ihn. In ihren Adern kochte die Wut. »Wer von euch ist zuerst eingebrochen? Mann, ich kann nicht glauben, dass ich diese Frage überhaupt stellen muss!«

»Ich.«

»Dazu hattest du kein Recht! Keines, und Annie auch nicht.«

Dante nickte, und die Kreolen in seinen Ohren funkelten. »Du hast Recht.«

»Was zum Teufel soll das heißen?«

»Es heißt, dass du …« Er zeigte auf Heather. »Recht hast.«

Sie blitzte ihn wütend an. Ihre Brust verkrampfte sich. »Sei kein Arschloch. Du hättest warten können, bis ich heimkomme. «

»Echt?« Dante legte die Aktenmappe neben sich. »Da war ich nicht so sicher.«

»Ich habe gesagt, ich brauche etwas Zeit. Ich habe nicht gesagt, dass ich dich nie mehr wiedersehen will. Oder etwa nicht?«

Dantes Augen begannen nun ebenfalls zornig zu funkeln. »Si, das hast du.«

»Also … hast du dich überall umgeschaut? Hast meine Sachen durchsucht? Hast Annie geküsst?«

»Ja«, antwortete er, wobei er das Wort in die Länge zog, als wüsste er nicht recht, was er von ihren Fragen halten sollte. »Ich habe sie geküsst. Aber was hat das mit all dem zu tun?« Dann begriff er, und seine Augen verdunkelten sich. Er vergrub sein Gesicht in den Händen und schüttelte den Kopf. »Scheiße«, murmelte er und ließ die Hände wieder sinken. Er stand auf.

»Sie hat behauptet, du hättest sie zweimal geküsst.«

»Soll das ein Witz sein? Geht es jetzt darum, ob ich Annie geküsst habe?«

»Nein, es geht darum, dass du hier eingebrochen bist«, antwortete Heather und durchquerte das Zimmer, um sich vor ihn hinzustellen. »Aber da du es gerade ansprichst: Warum hast du sie geküsst?«

»Es sollte nichts bedeuten«, sagte er. Seine Stimme klang zum Zerreißen gespannt. »Es war nur ein Kuss.«

»Sie ist meine Schwester! Das bedeutet sehr wohl was!«

Ein Muskel in Dantes Kiefer zuckte, doch er erwiderte nichts, sondern starrte ihr nur in die Augen. Dante küsste aus vielen Gründen und auf sehr unterschiedliche Weise, rief sie sich ins Gedächtnis. Aus Freundschaft, zum Gruß, als Lebewohl, aus Lust. Vielleicht verstand er nicht, was sie meinte, wenn man bedachte, dass er in seiner Kindheit nie gelernt hatte, was Grenzen bedeuteten.

»Weißt du was? Du hast Recht. Es sollte wirklich nichts bedeuten«, sagte Heather. »Es geht mich nichts an, wen du warum küsst.«

Seine dunklen Augen sahen sie forschend an, und seine Miene wirkte plötzlich hilflos. »T’es sûr?«

Sie verstand ein wenig Französisch, zumindest genug, um manchmal sein Cajun übersetzen zu können. Aber wenn sie Recht hatte, dann verwirrte sie das, was er gerade gesagt hatte, noch mehr.

»Hast du mich gerade gefragt, ob ich sicher bin? Dass es mich nichts angeht?«

Dante fuhr sich durchs Haar und sah dabei beinahe genauso konfus, wie sie sich fühlte. »Ja«, sagte er schließlich mit einem schiefen Lächeln. »Ich glaube schon.«

Heather konnte nicht anders, sie musste sein Lächeln erwidern. »Ich will nicht mit dir streiten, Dante«, sagte sie sanft. »Ich bin froh, dich zu sehen. Wirklich froh.«

»Ich auch.«

»Aber wir müssen dennoch miteinander reden«, fuhr sie fort. »Richtig reden.«

Etwas wie Erleichterung erhellte einen Augenblick lang sein Gesicht. »Ich wollte auch mir dir reden, chérie. Arbeitest du noch fürs FBI?«

»Im Moment, ja.« Sie wies mit dem Kopf in Richtung des Tischs im Esszimmer. »Setz dich doch. Ich muss dir etwas zeigen.«

Dante zog seinen Kapuzenpulli aus und hängte ihn über die Lehne eines Stuhles. Er trug ein dunkles Latex-Shirt mit Bändern und Silberschnallen über der Brust sowie eine schwarze Lederhose. Die silberne Gürtelschnalle, die Ringe an seinen Fingern und Daumen und der Reif um seinen Hals bildeten die einzigen Kontraste zu seiner eng anliegenden Kleidung. Er drehte den Stuhl um und setzte sich rücklings darauf.

Heather spürte seinen konzentrierten Blick, als sie durchs Zimmer lief und alle Vorhänge schloss. Dann ging sie zur Haustür und schob mit einem vernehmlichen Klicken beide Riegel vor. Sie hatte keine Ahnung, ob sie unter Beobachtung stand. Draußen vor dem Haus hatte sie keine unbekannten PKW oder Lieferwagen entdeckt, aber das bedeutete nicht, dass da nicht dennoch sie jemand nicht aus dem Auge ließ.

Vielleicht war es trotz allem nicht so schlecht gewesen, dass Dante durch eines der hinteren Fenster hereingekommen war.

Sie kehrte zum Tisch zurück und setzte sich, nahm einen der Papierstapel und ging ihn durch. Sie suchte nach dem Ausdruck, den sie am Abend zuvor angefertigt hatte. Währenddessen versuchte sie, sich zu sammeln und auf das zu konzentrieren, was vor ihr lag.

»Es tut mir übrigens sehr leid, was mit deiner Mutter passiert ist«, sagte Dante. »Ich hatte keine Ahnung.«

Heather sah in seine geheimnisvollen Augen und lächelte. »Woher solltest du? Aber danke.«

»Wie alt warst du, als sie starb?«

»Fast zwölf. Ich hatte ein paar Wochen danach Geburtstag. «

»Oh Gott, chérie, das ist ja grauenhaft«, antwortete er, und sie merkte, dass er es wirklich so meinte.

Heather warf einen Blick über die Schulter in Richtung Flur, dann meinte sie mit gesenkter Stimme: »Der Mord an meiner Mutter ist offiziell zu den Akten gelegt worden. Damals hat man ihn einem Serienmörder zur Last gelegt, dem sogenannten …«

»Klauenhammer-Mörder, Christopher Higgins«, ergänzte er.

»Genau.« Heather sah ihn einen Augenblick lang an. Sie war beeindruckt. Er hatte nicht viel Zeit gehabt, um die Akte durchzulesen, während sie sich um Annie gekümmert hatte. Er musste schnell und effizient gewesen sein.

»Das FBI wird dich nicht gehen lassen, nicht wahr?«, sagte Dante.

Heather schüttelte den Kopf. »Ich hatte gehofft, sie würden mich gehen lassen, wenn ich mich still verhalte und so tue, als wüsste ich nichts über Bad Seed oder das, was im Center passiert ist, nachdem ich die Kugel abbekommen hatte.«

»Aber?« Dante verschränkte die Arme über der Rückenlehne.

»Man bestellte mich heute ein und bot mir die Stelle meines früheren Chefs als Senior Agent an.« Sie schüttelte wieder den Kopf. »Dieses Angebot ist nicht nur ausgesprochen ungewöhnlich, man hat mich auch gewarnt, was passieren würde, sollte ich ablehnen.«

»Nämlich?« Dantes Stimme war leise und rasierklingenscharf.

Sie erzählte ihm von dem Treffen mit Rutgers und Rodriguez und hob dabei besonders hervor, was es zu einem so speziellen Ereignis gemacht hatte – das plötzliche Auftauchen ihres Vaters, das überraschende Interesse an ihrer körperlichen Genesung und die nicht sonderlich subtilen Drohungen. Sie berichtete ihm auch, wie sie den Ort aufgesucht hatte, wo ihre Mutter gestorben war und dabei Begleitschutz in Gestalt eines sehr sportlichen Senior Agents der Geschäftsstelle Portland des FBI erhalten hatte.

»Jetzt habe ich bis Montag Zeit, um eine Entscheidung zu treffen.«

»Wenn du ablehnst, wirst du unerwartet den Verstand verlieren und in einer Irrenanstalt enden oder im Leichenschauhaus, nachdem du von einem Wolkenkratzer gestürzt bist. Diese Arschlöcher!«

»Ja.« Heather beugte sich vor. »Du bist wirklich außerordentlich eloquent, wenn ich das mal anmerken darf.«

Um Dantes Mund spielte einen Augenblick lang ein Lächeln. Er hielt ihrem Blick stand, wobei seine Augen finster blitzten. »Wie heißt dein neuer Chef?«

Heathers Lächeln verschwand. Sie richtete sich auf. »Oh nein, du tötest niemanden. Mach nicht mal Witze in der Richtung. «

»Ich mache keine Witze.«

»Damit wäre nichts gelöst! Der Typ hat einen Chef, der einen Chef hat, der einen Chef hat und so weiter und so fort. Ihn zu töten würde überhaupt nichts bringen.«

Dante stand plötzlich auf. Er begann, mit zusammengebissenen Zähnen und geballten Fäusten durchs Zimmer zu tigern. Heather lief es kalt den Rücken herunter. Seine Wut ist nicht mehr so tief in ihm verborgen. Sie ist weiter an die Oberfläche getreten. Was wird geschehen, wenn er sie nicht mehr kontrollieren kann?

Nach einer Weile blieb er stehen und holte tief und zitternd Luft. Seine Fäuste öffneten sich, und er strich mit den Händen über seine Schenkel. Das Leder knirschte. Dann drehte er sich zu Heather um und sah sie an. Seine Miene wirkte jetzt wieder ruhiger. Der Zorn in seinen Augen schien gebändigt, wenn auch seine Körpersprache – angespannt und hart – das genaue Gegenteil ausstrahlte. Er bebte fast vor unterdrückten Emotionen.

»Alles in Ordnung?«, fragte Heather. »Brauchst du etwas?«

Er musterte sie. Seine geheimnisvollen Augen schienen sie in sich aufzusaugen. Sein Blick war so erhitzt und leidenschaftlich, dass Heathers Puls zu rasen begann. »Ich meine … möchtest du etwas … trinken?« Sag es, forderte sie sich innerlich auf. Sprich es aus. »Blut«, verbesserte sie sich schließlich.

»Ja, aber das kann warten«, sagte er und strich sich mit beiden Händen durchs Haar. Seine Haut hob sich fahl von den schwarzblauen Strähnen ab. »Gut, deinen Boss umzubringen ist also keine Lösung. Was willst du tun? Ich werde dir bei allem helfen, soweit es in meiner Macht steht.«

»Das ist das andere«, sagte sie. »Um dich mache ich mir auch Sorgen.«

»Ach? Pourquoi? Mir geht es gut.«

Eerie meldete sich mit einem leisen Miauen zu Wort und rieb sich an Heathers Bein. Als sie sich zu ihm hinunterbeugte, um ihn zu streicheln, hoppelte er maunzend sofort Richtung Küche, wobei er mit seinen drei Beinen genauso schnell war, wie wenn er vier gehabt hätte.

»He, Minou«, flüsterte Dante. »Jetzt schlägst du plötzlich Alarm, was?«

Heather stand auf und folgte Eerie in die Küche. Sein Fressnapf war leer. »Mami war sehr gedankenlos«, sagte sie bedauernd und schüttete ihm Trockenfutter in das Schälchen. »Tut mir leid.« Eerie stimmte ihr laut zu – Ja, du warst sehr gedankenlos –, oder vielleicht nahm er auch nur ihre Entschuldigung an. Oder beides. Einen Augenblick strich sie ihm über den Kopf, während er die nach Lachs schmeckenden Stückchen verspeiste.

»Willst du Kaffee?«, rief sie. »Ich kann einen machen.«

»Gern.« Direkt hinter ihr.

»Verdammt!« Heather fuhr mit pochendem Herzen und automatisch geballten Fäusten herum.

Dante wich einen Schritt zurück und hob defensiv die Hände. Sie hatte nicht gehört, wie er aufgestanden oder in die Küche gekommen war. Zudem hatte sie vergessen, wie leise und schnell er war – noch schneller und leiser als die anderen Nachtgeschöpfe, und das bedeutete einiges, soweit sie das bisher beurteilen konnte.

»He! Tut mir leid«, lachte er. »Ich wollte dich nicht erschrecken. «

»Jesses! Vielleicht sollte ich dir in Zukunft ein Glöckchen umhängen – wie einer Katze!« Sie schob sich an ihm vorbei zum Tresen, wo sie die Glaskanne aus der Kaffeemaschine nahm und diese dann mit Wasser füllte. Sobald der Kaffee durchzulaufen begann, stieg sein starkes Aroma in die Luft. Gemeinsam gingen sie ins Esszimmer.

Am Tisch begann Heather erneut, die Papiere und Bilder durchzugehen. »Was hat De Noir … ich meine, dein Vater … was hat dir dein Vater von Bad Seed erzählt?«

»Nichts«, antwortete Dante leise. »Allerdings war ich auch nicht sehr freundlich.«

Heather warf ihm einen schnellen Blick zu, empfand plötzlich Mitleid mit ihm. »Er hätte ehrlich mit dir sein sollen.«

Dante strich sich mit einer Hand durchs Haar, und in seinem bleichen Gesicht zeigte sich Erschöpfung. Er wies mit dem Kopf auf die Papiere, die Heather noch immer durchstöberte. »Warum machst du dir Sorgen um mich? Bad Seed ist mit Johanna Moore gestorben, oder? Es ist vorbei.«

Heather schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht ganz. Es gab noch jemanden, der mit dem Projekt zu tun hatte – der Mann, der überhaupt auf die Idee kam und dann Moore dafür gewann. « Endlich hatte sie die Seiten gefunden, die sie gesucht hatte. Sie zog sie heraus und schob den übrigen Stapel beiseite. Dann sah sie Dante an.

»Sprich weiter«, sagte er. Sein Blick wirkte ruhig, während sein hübsches Gesicht argwöhnisch schien. »Wie heißt er?« Er hielt sich so sehr an der Rückenlehne seines Stuhles fest, dass die Fingerknöchel weißlich hervortraten.

»Dr. Robert Wells.« Heather stand auf und trat neben ihn, um ihm die Akten zu zeigen. Er sah sie konzentriert an. Sein Blick richtete sich auf das Bild, das obenauf lag. »Er hat dich auf die Welt gebracht und den Tod deiner Mutter angeordnet. «

Das Splittern von Holz hallte im Zimmer wider, als die Lehne unter Dantes Fingern zerbrach.