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IM DRECK

Damascus, Oregon · 23. März

 

Alex vergrub die letzten Reste von Athenas jüngstem Experiment und klopfte dann mit dem Schaufelblatt die Erde wieder glatt. Schweiß lief ihm in die Augen. Er richtete sich auf, wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn und drückte den Rücken durch, um die steifen Muskeln zu lockern. Gierig sog er die nach Kiefern und Flusswasser duftende Luft ein, um den Geruch des geschmolzenen Fleisches aus der Nase zu bekommen.

Er schulterte die Schaufel und kehrte zum Haus zurück, um zu duschen. Nachdem er seine Haare trockengerubbelt hatte, zog er Jeans und ein schwarzes Inferno-T-Shirt an, auf dem über dem Herzen »Burn« stand. Er schnürte seine Rippers-Schuhe zu, schlüpfte in seine Kapuzenjacke und folgte dann dem Flüstern Athenas, das wieder einmal wie Wind durch die Bäume zu rauschen schien.

Sie saß im Schneidersitz auf der Couch im Wohnzimmer, wo die Vorhänge geschlossen waren und das in ein dämmriges Zwielicht getaucht war. Das weiße Licht des aufgeklappten Laptops spielte auf ihrem Gesicht und funkelte in ihren Augen. Ihre Lippen bewegten sich unablässig, während sie vor sich hin murmelte.

»Ich fahre jetzt nach Seattle«, sagte Alex und blieb vor der Couch stehen. Ein leuchtend himmelblaues Licht huschte über Athenas fasziniert starrende Miene, als sie wieder einmal zusah, wie Dante Johanna Moore auflöste. Alex vermutete, dass sie die Szene auf »Wiederholen« geschaltet hatte.

»Ich fahre jetzt«, sagte er noch einmal sanft und ging neben dem Sofa in die Hocke. »Kann ich mich darauf verlassen, dass du hierbleibst, während ich weg bin?«

Athena nickte, wodurch ihr das Haar ins Gesicht fiel. Gedankenverloren strich sie es beiseite. Himmelblaues Licht tanzte in ihren Augen.

»Bleib von Vater weg. Was bedeutet, du kannst auch Mutter nicht ersticken. Versprochen?«

»Versprochen.«

»Was siehst du?«, fragte Alex.

»Einen Nachthimmel voll goldener und schwarzer Flügel«, murmelte sie. »Die Gefallenen kommen herab zu uns und erfüllen den Himmel mit ihren Gesängen. Ich sehe eine Frau, die auf einem Seil balanciert.«

»Was bedeutet das?«

»Frag Dante.«

Alex nahm die Hand seiner Schwester und drückte sie fest. »Thena, willst du wirklich hierbleiben? Du könntest mitkommen. «

Endlich sah sie ihn an. Der starre Blick, mit dem sie den Rechner betrachtet hatte, war verschwunden. »Es wird mir gutgehen, Xander.« Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihre Lippen. »Du kommst in Seattle viel besser ohne mich zurecht.« Sie erwiderte seinen Händedruck – hastig, aber voll Wärme.

Der Kreis schloss sich erneut, und für einen viel zu kurzen Moment fühlte sich Alex verbunden und ganz. Dann ließ Athena seine Hand los. Ihr Blick kehrte zum Bildschirm zurück. Sie berührte die Tastatur, und Licht huschte über ihr Gesicht. Tanzte in ihren Augen. Ihre Lippen bewegten sich, sie flüsterte.

Er hatte sie verloren. Wieder einmal.

Alex stand auf, öffnete die Vordertür und trat ins Freie. Der Nieselregen hatte aufgehört. Fahle Nebelfetzen durchzogen die grauen Wolken am Himmel und verfingen sich in den Baumkronen. Ein leichter Wind, der nach Kiefern und feuchter Erde duftete, wehte durch die Äste – ein schwaches, leises Seufzen.

Nenn mich Hades.

Ihm lief es eiskalt über den Rücken, und auf seinen Armen zeigte sich Gänsehaut.

Es blieb nicht mehr viel Zeit. Weniger, als er sich vorstellen wollte. Weniger, als er sich vorstellen konnte.

Alex hastete durch den Garten zur kiesbestreuten Einfahrt, wo sein Wagen stand. Regentropfen klebten wie Perlen aus dem roten Lack des Autos und glitzerten auf den Scheiben. Er setzte sich hinters Steuer und warf einen Blick auf den Boden neben ihm.

Das Täschchen, in dem er üblicherweise Munition und weitere Dinge für seine Waffen aufbewahrte, enthielt nun alles, was er brauchte, um Dante in seine Gewalt zu bringen. Der iPod mit den Anweisungen seines Vaters für Dante und eine kleine, schmale Betäubungspistole befanden sich in der Tasche seiner Kapuzenjacke – ebenso wie etwas, von dem Vater nichts wusste und womit er garantiert auch nicht einverstanden gewesen wäre: ein USB-Stick mit der gesamten Geschichte von Bad Seed und Dantes Vergangenheit.

Nur für den Fall, dass etwas schieflief.

»Amen, Bruder«, flüsterte Alex und ließ den Motor seines Pick-ups an.

 

Flach zwischen Kiefernnadeln und Käfern auf der Erde liegend, beobachtete Caterina den schlanken, hochgewachsenen blonden Mann in Jeans und dunkelgrauer Kapuzenjacke. Er kletterte gerade in einen Pick-up. Sie sah durch ihr Fernglas, wie er rückwärts die Ausfahrt hinunterfuhr und dann auf dem Highway verschwand.

Sah ganz so aus, als hätte Alex Lyons frei, vor allem, wenn man seine Klamotten und die späte Nachmittagsstunde bedachte. Das bedeutete, dass nur noch seine Zwillingsschwester in dem kleinen Nebengebäude und seine sterbende Mutter gemeinsam mit seinem Vater im Haupthaus blieben.

»Wie lange der Sohn weg sein wird?«, fragte Beck.

»Ist das wichtig?«, antwortete Caterina, ohne den Blick von dem luxuriös aussehenden Haus abzuwenden, das so pittoresk zwischen den Kiefern lag. »Es wird ohnehin nicht lange dauern, bis wir Wells erledigt haben.«

»Ja, ja«, ächzte Beck. »Das kleine Fräulein Gnadenlos.«

»Behalt deine Kommentare für dich.«

»Verstehe. Das kleine Fräulein Gnadenlos muss sich konzentrieren. «

Caterinas Muskeln spannten sich an, und für einen Moment sah sie vor ihrem inneren Auge ein klares Bild davon, wie sie Beck mit dem Riemen ihres Fernglases strangulierte. Sie stellte sich vor, wie sie zuzog, während sie ihm ihr Knie in den breiten Rücken drückte. Aus irgendeinem Grund fand sie das Bild ausgesprochen ergötzlich. Es erinnerte sie an eine Szene aus einem alten Actionfilm voller zweitklassiger Witze und steifer Dialogen.

I’ll be back …

Der Tag, an dem sie so weit war, jemanden vor lauter Frust mit dem Riemen ihres Fernglases zu strangulieren, würde der Tag sein, an dem sie ihre Kündigung einreichte und sich stattdessen vielleicht schlechten Actionfilmen zuwandte. Ihre miese Laune verflog. Einmal tief durchatmen, Muskeln lockern. Die kurze, erhitzte Diskussion mit ihren Vorgesetzten am Flughafen von Portland war der eigentliche Auslöser für ihre schlechte Stimmung gewesen.

Ich brauche keine Verstärkung. Berufen Sie ihn ab.

Wells und Wallace gehören Ihnen, Caterina – Ihnen allein. Beck ist nur dabei, falls etwas schiefgehen sollte. Besser, man ist vorbereitet, als dass man kalt erwischt wird.

Es wird nichts schiefgehen. Ist bei mir jemals etwas schiefgegangen?

Beck kommt mit.

Damit war die Diskussion beendet gewesen. Obwohl sie für gewöhnlich allein arbeitete und das auch vorzog, brummten ihr ihre Vorgesetzten manchmal eine Verstärkung auf, wenn sie mehrere Zielpersonen gleichzeitig anzuvisieren hatte. Wie auch in diesem Fall.

Mit einem ruhigeren Puls und größerer Gelassenheit fasste Caterina in Gedanken zusammen, was sie über die Leute wusste, die in diesem Anwesen wohnten.

Alexander Apollo Lyons: Er hatte den Mädchennamen seiner Mutter angenommen, um sich selbstständig eine Karriere beim FBI aufzubauen – die offenbar sehr erfolgreich war –, ohne auf den Namen seines Vaters zurückzugreifen. Er war Agent und leitender Special Agent der FBI-Niederlassung in Portland, fünfunddreißig Jahre alt, einen Meter fünfundachtzig groß und der jüngere der beiden Zwillinge, da er zwei Minuten später als seine Schwester auf die Welt gekommen war. Sein rasender Aufstieg im FBI war zu einem abrupten Ende gekommen, als seine Schwester Anzeichen einer Geisteskrankheit zeigte und er sich von Washington hierher hatte zurückversetzen lassen, um sich um sie kümmern zu können.

Athena Artemis Wells: eine ehemals bekannte Psychiaterin, die sich auf anormale Psychologie spezialisiert hatte. Fünfunddreißig Jahre alt, einen Meter fünfundsiebzig groß und schizophren oder etwas Ähnliches, seit sie fünfundzwanzig war. Es war ihr gelungen, noch fünf Jahre zu funktionieren, ehe sie ihre Zwangsvorstellungen in einer Klinik für Geisteskranke führten, wo man sie unter Medikamente setzte und einsperrte.

Das Haupthaus und das Nebengebäude lagen still unter ihnen. Zwei Autos standen noch in der Einfahrt, ein Saturn und ein Wagen unter einer Plane – vermutlich gehörte letzterer Athena.

Caterinas Recherchen hatten ergeben, dass man bei Wells’ Frau Gloria fünf Jahre zuvor Gebärmutterkrebs diagnostiziert hatte. Man hatte sie operiert und bestrahlt. Ein Jahr zuvor hatte Wells den Belegen nach zu urteilen mit Chemotherapie und Morphium begonnen. Der Krebs war offenbar wieder zurückgekehrt.

Caterina sah sich im Garten um und konnte nirgends ein Anzeichen für einen Hund oder ein anderes Haustier erkennen. Vielleicht waren die Wells keine Streicheltier-Familie. Der Duft von Kiefern und nassem Gras stieg ihr in die Nase.

Hatte Bronlee Wells die Filme aus der medizinischen Abteilung des Centers geschickt? Sobald es dunkel war, wollte Caterina das herausfinden. Ihre Mission bestand diesmal aus zwei Teilen: Wells unschädlich machen und die verlorengegangenen Filmaufnahmen an sich bringen – falls sie sich in Wells’ Besitz befanden.

Mehrere stille Stunden später ging die Tür des kleinen Hauses auf, und eine Frau kam heraus. Caterina richtete das Fernglas auf Athena. Sie trug einen schmutzigen Arztkittel, eine nussbraune Cordhose und lief barfuß durch den Garten. Die Tür ließ sie hinter sich offen. Sie lief aufs Haupthaus zu, blieb dann aber abrupt stehen, drehte sich um und sah direkt in Caterinas Fernglas.

Athena legte einen Finger auf die Lippen. Psst.

»Mein Gott«, keuchte Caterina. Ihre Haut prickelte. »Sie weiß, dass wir hier sind.«

»Unmöglich«, sagte Beck. »Sie ist durchgeknallt. Sie weiß gar nichts.«

Caterina hatte das unangenehme Gefühl, dass sie diejenigen waren, die überhaupt nichts wussten.

Athena Wells wandte den Blick ab und legte den Rest des Weges zum Haupthaus hopsend zurück. Sie öffnete die Haustür und ging hinein. Die Tür fiel hinter ihr zu. Einen Augenblick später gab der Handscanner, den Caterina bei sich trug, das Signal von sich, dass die Alarmanlage ausgeschaltet war.

Sie war aus. Zusammengebrochen oder ausgemacht.

Caterina beobachtete das Haus noch eine halbe Stunde. Sie spürte, wie sie sich innerlich immer mehr anspannte. »Ich gehe rein.«

»Roger«, antwortete Beck, der offenbar endlich in den Arbeitsmodus umgeschaltet hatte. Er berührte den Knopf in seinem Ohr. »Ich gebe dir ein Zeichen, wenn Alex zurückkommt.«

Sie steckte ihr Fernglas und ein paar andere Dinge ein und machte sich auf den Weg den Hügel hinab. Ihre Pistole hielt sie in der rechten Hand.

Wells setzte sich hinter seinen Schreibtisch und lehnte das Gewehr dagegen. Eine Diashow mit Bildern der Familie lief über den Bildschirm seines Rechners: Gloria am Strand von Lincoln City, die Zwillinge als hellblonde Kleinkinder mit einer lachenden Gloria. Zum ersten Mal seit Monaten wurde der tiefe Schmerz in seiner Brust etwas leichter.

Gloria würde bald wieder lachen. In wenigen Stunden würde Alex gewährleisten, dass S die Nachricht auf dem iPod hörte. Dann würde S – atemberaubend hübsch und todbringend – in Aktion treten, und seine Zielperson, Senior Agent Alberto Rodriguez, musste sterben. Hoffentlich unter größtmöglichen Schmerzen, und wenn Rodriguez in das blasse, gnadenlose Gesicht S’ schaute, würde er wissen, wer ihn geschickt hatte und warum.

Sobald Alex S nach Hause gebracht hatte, würde Dante für immer verschwinden. Wells würde S den Befehl geben, Gloria zu heilen, um so seine himmlische Persephone noch einmal dem gierigen Maul des Hades zu entreißen und Wells seine lachende Braut zurückzugeben.

Dunkle Erregung breitete sich in ihm aus. Er drückte eine Taste, und die Fotoreihe verschwand. Er ging seine Dateien durch, klickte auf eine mit dem Namen »S« und öffnete sie. Er machte es sich auf seinem Stuhl bequem und sah zu, wie die Bilder auf seinem Monitor erschienen.

Eingesperrt in einen Hasenkäfig sieht der kleine Junge mit dem schwarzen Haar, das sich in seinem blassen Nacken kringelt, zu, wie seine wenigen Spielzeuge eines nach dem anderen ins Feuer geworfen werden. Die betrunkenen Pflegeeltern, die Wells’ Anweisungen folgen, erklären dem Kind, es sei seine Schuld, wenn die Spielsachen nun verbrennen.

»Du warst ein böser Junge. Ein böser, böser Junge. Das ist alles deine Schuld. Deine Schuld.«

Eine kleine Plastikgitarre schmilzt in den Flammen. Ein Ball erleidet dasselbe Schicksal. Doch als das letzte Spielzeug, eine zerknautschte, zerbissene Plüschschildkröte über dem Feuer baumelt, befreit sich der kleine Junge mit aller Kraft aus dem Käfig. Seine winzigen Reißzähne blitzen im Licht der Flammen auf, als er die Schildkröte der Hand seiner Pflegemutter entreißt.

»Verdammte Scheiße!«, brüllt der Pflegevater. Dann erholt er sich von seinem Schock und packte das Kind. Dessen Hand mit der Schildkröte wird in die Flammen gehalten.

Das sollte jetzt mal jemand versuchen, grübelte Wells. Er durchsuchte die Datei nach weiteren hübschen Erinnerungen. Plötzlich hielt er inne. Hatte gerade jemand die Haustür aufgemacht? Der Alarm begann rasend schnell zu piepsen, und Wells zersprang vor Aufregung beinahe das Herz. Sein Puls raste so, dass ihm alles vor Augen verschwamm. Er senkte den Kopf, rang nach Luft und dachte: Na toll. Nach all den Vorbereitungen beginnst du zu keuchen wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Als er mit zitternden Händen nach dem Gewehr griff, hörte das rasende Piepsen auf. Wells hielt die Waffe in der Hand und lauschte angestrengt. Nach einem Augenblick hörte er ein leises Geräusch – wie das Rascheln von Wind in den Bäumen.

Er atmete erleichtert auf. Athena. Mit bebender Hand fuhr er sich über die schweißnasse Stirn. Das Flüstern folgte seiner Tochter den Gang entlang. Sie wiederholte immer wieder dieselben Worte, bis er sie schließlich verstand.

»Dreiineinsdreiineinsdreiineinsdreiineinsdreiineinsdreiineinsdreiineinsdreiineinsdreiin eins …«

Plötzlich lief es ihm kalt den Rücken hinunter: Wie hatte Athena die Alarmanlage ausgeschaltet? Selbst Alex wusste nicht, dass er den Code geändert hatte. Noch nicht.

Noch immer flüsternd betrat Athena sein Arbeitszimmer. Ihre schlammigen nackten Füße verteilten Erde auf dem hellen Teppich. Sie ging an seinem Schreibtisch vorbei. Ihre Hände hatte sie in den Taschen ihres bespritzten, fleckigen Arztkittels.

»Athena«, sagte Wells und klemmte sich das Gewehr unter den Arm, während er parallel nach dem PSI-Blocker in seiner Hosentasche tastete. Das Geflüster hörte auf. »Was tust du hier?« Er drehte sich auf seinem Stuhl zu ihr um.

Athena stand vor seiner Sammlung altertümlicher Speere, Schilde und Brustpanzerungen. Sie nahm einen Speer und wirbelte auf den Fersen herum. Ihre Augen leuchteten wie ein Sonnenuntergang. Lächelnd riss sie den Taser aus der Tasche, den er versteckt hatte.

Die Elektroden bohrten sich in seine Brust. Strom schoss durch seinen Körper, und der Schmerz löschte alle Gedanken in seinem Kopf aus. Sein Körper zuckte und zog sich zusammen. Dann fiel er zu Boden.

Durch einen Nebelschleier von Schmerz und das Dröhnen in seinen Ohren hörte er die Stimme seiner Tochter.

»Ich breche ein Versprechen, Daddy«, sagte sie.