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NICHTS IST, WIE ES SCHEINT

Damascus, Oregon · 23. März

 

»Na endlich«, sagte Beck und erhob sich, als Caterina den Hügel heraufkletterte »Ich habe allmählich angefangen, mir Sorgen zu machen. Was hat so verdammt lange gedauert?«

»Tut mir leid«, antwortete sie. »Die Tochter war noch wach. Da musste ich warten.«

»Ich finde, ich sollte mich um Wallace kümmern, während du zur Abwechslung mal hier draußen im Dunklen und der Kälte wartest. Mal sehen, wie dir das gefällt. Aber jetzt müssen wir uns keine Gedanken mehr um sie machen. Die Anweisungen haben sich nämlich geändert.« Beck bückte sich und nahm die Decke, auf der er gewartet hatte. »Hast nochmal Glück gehabt, Fräulein Gnadenlos.«

Caterina sah ihn an. »Geändert? Inwiefern?«

»Sie wollen, dass sie eingesackt und ins Büro gebracht wird, also haben sie Norwich und Shep geschickt.«

»Ins Büro? Weshalb?«

Beck richtete sich auf, und die Decke hing ihm über den Arm, als er Caterina für einen langen Moment ansah. »Woher zum Teufel soll ich das wissen?«, meinte er schließlich. »Seit wann fragst du nach Gründen?«

»Seit jetzt«, erwiderte sie.

»Na ja, lass das sein, und lass uns endlich los«, antwortete er. »Ich habe Hunger, bin müde und total zerstochen.« Er begann, den Hügel auf der anderen Seite in Richtung ihres gemieteten Mazdas hinunterzugehen.

Caterina sog die nach Kiefern duftende Luft tief in ihre Lungen ein und hob die Glock. »Beck.«

Beck drehte sich um, und seine Augen weiteten sich. Die Decke fiel zu Boden. Er griff nach dem Colt in seinem Schulterholster. Sie zielte. Der Moment schien sich unendlich in die Länge zu ziehen, und die Zeit wurde auf einmal elastisch und stromlinienförmig. Sie blickten einander in die Augen.

Beck riss den Revolver aus dem Holster. Caterina drückte ab. Die Kugel der Glock traf Beck zwischen die Augen, und er war tot, noch ehe sein Körper auf dem Boden aufschlug und den Hügel hinabrollte.

Caterina senkte die Glock, ihr Herz schlug dreimal so schnell wie sonst, sie schloss die Augen und stürzte innerlich von dem Seil, auf dem sie die ganze Zeit über balanciert war.

 

Der Vampir-Nomad kam hinter dem Vorhang hervor und eilte über die Bühne, wo er sich zu den Inferno-Mitgliedern gesellte, die bereits dabei waren, ihr Equipment aufzuräumen und einzupacken. Sheridan bewegte sich, hastete seitlich die Stufen zur Bühne hoch und schlüpfte durch den Vorhang. Dann erstarrte er.

Dante lag ausgestreckt auf einem zerschlissenen Sofa. Er war bewusstlos. Sein schwarzes Haar verbarg den Großteil seines blassen Gesichts. Am Rand des Sofas saß eine schöne rothaarige Frau, die mit beiden Händen eine Pistole hielt und diese auf ihn richtete.

»Drehen Sie sich langsam um und verschwinden Sie wieder«, sagte Heather leise.

Sheridan zweifelte keine Sekunde lang, dass sie abdrücken würden, wenn er nicht gehorchte. Sein Hirn raste fast genauso schnell wie sein Puls. Wallace bewacht einen verdammten Vampir.

Einen kurzen, kristallklaren Augenblick lang stellte er sich vor, wie er zuerst Wallace und dann Prejean erschoss. Aber er wusste, dass er nie die Zeit haben würde, den Bastard zu vernichten, ehe jemand – der Nomad, einer der sterblichen Bandmitglieder, ein Groupie – hinter die Bühne kam.

Sheridan zwang sich zu einem Lächeln, hob beschwichtigend eine Hand und zeigte die andere, in der er eine Digitalkamera hatte. »Ich bin vom Spin-Magazin«, sagte er. »Hatte nur auf ein paar Fotos gehofft.«

Wallace erwiderte sein Lächeln nicht. Sie senkte auch die Schusswaffe nicht. Sie rührte sich nicht. Sheridan wich zurück und glitt durch den Vorhang. Erst als er den Club verlassen hatte, wagte er wieder, normal zu atmen.

Er ging über den Parkplatz, wobei er die Pfützen umrundete und den kalten Regen ignorierte, der ihm aufs Gesicht fiel. Es war Zeit, zu seinem ursprünglichen Plan zurückzukehren. Er wollte Prejean ins Hotel folgen und dort auf den Tagesanbruch warten, um ihn zu vernichten. Allerdings hatte der Anfall auf der Bühne ausgesehen, als würde er ihm eine viel bessere Gelegenheit bieten.

Man lernt nie aus.

Was die hinreißende, heimtückische Heather Wallace betraf, so hatte er gehofft, sie warnen zu können. Aber offenbar war sie bereits verloren. Cortini konnte sie ruhig haben.

 

Alex stand vor dem Vespers und beobachtete den verspritzten Tourbus der Band. Er schüttelte sich eine weitere Zigarette aus dem fast leeren Päckchen Winstons, schob sie sich zwischen die Lippen und zündete sie an, indem er seine Hände schützend um das Feuerzeug hielt. Er atmete den Rauch ein und spürte, wie das Nikotin durch seine Adern rauschte.

Das Konzert war früh zu Ende gegangen, und den aufgeregten Unterhaltungen nach zu urteilen musste mit Dante etwas passiert sein. Einige murmelten Überdosis; andere wisperten Anfall. Alex fragte sich, ob etwas Düsteres, Tödliches und Hungriges in dem jungen Vampir so ungestüm erwacht war, dass es ihn umgeworfen hatte.

Die meisten Leute, die in der Nähe des Busses herumgehangen und auf einen Schnappschuss, ein Autogramm oder vielleicht auch schnellen Sex gewartet hatten, waren verschwunden, als der Nomad-Vampir in Lederklamotten herausgekommen und ihre Hoffnungen zerschlagen hatte.

Keine Schnappschüsse. Keine Autogramme. Kein Sex, ob schnell oder nicht. Dante war für den Augenblick nicht ansprechbar, aber er würde sich zu einem späteren Zeitpunkt bei seinen Fans revanchieren – versprochen.

Die Inferno-Begeisterten hatten noch einen Moment auf dem regenfeuchten Parkplatz ausgeharrt – als erwarteten sie, dass der Nomad auf einmal lachte, sich das Ganze als schlechter Witz herausstellte und Dante in Wahrheit bereits auf jeden von ihnen gespannt wäre und liebend gerne ihre wildesten Träume erfüllte.

Als das nicht geschah, gaben sie endlich auf und zogen mit enttäuschten Mienen ihrer Wege. Einige von ihnen sprachen erhitzt über Dantes »Überdosis«, als sie an Alex vorbeikamen. Ihm stieg ihr aufdringlicher Gestank von Patschuli und Schweiß in die Nase.

Jetzt sog er ein letztes Mal an seiner Zigarette und warf den Stummel achtlos weg. Es sah ganz so aus, als ob die Gelegenheit, mit Dante zu sprechen, minütlich unwahrscheinlicher wurde. Er hatte geplant, sich als angehender Musiker mit einem Inferno-Coversong auf seinem iPod vorzustellen und Dante zu bitten – Oh, bitte! Es würde mir so viel bedeuten! –, ihn sich anzuhören. Das einzige denkbare Problem, das auftauchen konnte, war Heather. Aber er hätte es sicher geschafft, ihr aus dem Weg zu gehen.

Jetzt war es Zeit, sich etwas anderes einfallen zu lassen. Er würde der Band am besten überall hin folgen und dann dort warten, bis es dämmerte. Dann würde er an Dantes Tür klopfen.

Ich sollte Vater wissen lassen, dass es eine kleine Verzögerung gibt.

Alex lehnte sich gegen die Wand des Clubs. Die Ziegel rieben gegen seine Schultern, als er das Mobiltelefon aus der Tasche seiner Kapuzenjacke zog. Seine Finger fuhren über das schlanke Gehäuse des iPods. Einen Moment lang glaubte er, die falsche Nummer gewählt zu haben, als Athena bereits nach dem ersten Klingeln abhob.

»Die Seiltänzerin will mit dir reden«, sagte sie.

Alex richtete sich auf, sein Puls begann zu rasen. »Wer? Athena, was geht da …«

»Ihre Schwester ist in Sicherheit.« Eine ihm unbekannte Frauenstimme drang an sein Ohr. »Aber ich halte die Mündung meiner Pistole an die Schläfe Ihres Vaters.« Die Auftragskillerin der Schattenabteilung – Alex war sich absolut sicher, dass sie es sein musste, mit der er gerade sprach – klang sachlich und ruhig. Sie nannte nur die Tatsachen. »Ich kann jetzt abdrücken und mich dann verziehen, oder ich kann die Waffe vorerst wieder einstecken. Das hängt davon ab, wie Ihre Antwort auf meine nächste Frage lautet.«

 

»Bob? Liebling?«

Wells richtete den Blick von der sorgfältig verputzten Zimmerdecke – wie Zuckerguss – auf seine Frau. All die Lichtchen der Geräte, an die Gloria angeschlossen war, blinkten und piepsten gleichmäßig, was ihn unendlich beruhigte.

»Wie um Himmels willen hat Athena es geschafft, dich außer Gefecht zu setzen?«, fragte Gloria. Ihre Stimme klang so dünn wie Papyrus oder ihre eigene Haut.

Wells schaffte es, wehmütig zu kichern. »Ich hatte mit der Schattenabteilung gerechnet, ich hatte mit einem Putsch Alexanders gerechnet, aber nicht mit unserer Tochter.«

Leder knarzte, als Wells seine Handgelenke noch einmal drehte, um zu versuchen, ob sich die Fesseln irgendwie lösen ließen. Doch wie zuvor musste er wieder feststellen, dass sie das nicht taten. Wann hatten Athena und diese andere Frau – eine Killerin, eine Auftragsmörderin, die aber nicht abgedrückt hatte … noch nicht – das Zimmer verlassen? Vielleicht vor einer Stunde.

»Bob?«

»Ja, Schatz?«

»Alexander hat Athena wahrscheinlich Instruktionen gegeben. Das hier ist sein Putschversuch.«

Wells runzelte die Stirn. Das ergab keinen Sinn. »Nein«, sagte er. »Alexander würde warten, bis er gelernt hat, wie man S benutzt. Er würde mir in die Augen schauen wollen, während er das Messer umdreht. Nein. Athena hat allein gehandelt.«

»Alexander der Große ließ seinen Vater umbringen.«

Ein altbekannter Streit. Selbst jetzt, da Gloria in einem Bett starb und er an das andere gefesselt war, stritten sie sich noch immer über diese Frage der Geschichte. Er seufzte. »Er hatte nichts mit Philipps Tod zu tun. Es wäre außerordentlich dumm von Alexander gewesen – von unserem Alexander –, mich umzubringen, ehe er mein Wissen an sich gebracht hat. Es wäre …«

»Verrückt«, beendete Gloria tonlos. »Habe ich dich nicht gebeten, die Zwillinge zu töten, sobald Athena abzudrehen begann? Ihr Wahn ist Alexanders Wahn. Ich habe dich gewarnt, Schatz, ich habe dich gewarnt.«

»Das hast du. Aber ich glaube trotzdem, dass Alexander nichts damit zu tun hat.«

Blinken und Piepsen. Das Knarzen der Fesseln. Das verängstigte Schweigen seiner Frau.

»Ist die Spritze noch unter deinem Kissen?«, fragte Wells. Weder Athena noch die Assassinin würden einen Angriff Glorias erwarten.

»Ja.«

»Nimm sie. Halte sie in der Hand versteckt.« Wells sah zu, wie Gloria mühevoll eine Hand unter das Kissen schob. »Vorsichtig. « Sie zog die Hand wieder heraus und hielt die Spritze zwischen den Fingern. Mit einem schwachen Lächeln zeigte sie sie ihrem Mann.

Wells erwiderte ihr Lächeln. »Gut.«

Gloria zog die Kappe von der Nadelspitze und drehte die Spritze um, damit sie auf die Innenseite ihres Unterarms wies. Sie entglitt ihr, und ihre Finger begannen, angsterfüllt das Bett abzutasten, um sie zu suchen.

Wells starrte sie starr und wortlos an. Eisige Kälte breitete sich in seiner Seele aus. »Nein«, flüsterte er schließlich. »Nicht für dich …«

»Dein großes Herz war immer dein größter Schwachpunkt«, erklärte sie voller Zärtlichkeit.

»Alexander wird S herbringen. Der Junge hat die Fähigkeit zu heilen. Er kann dich neu machen …«

»Bobby, bitte. Ich bin so müde. Lass mich gehen.«

Glorias tastende Finger fanden die Spritze und umschlossen sie. Sie sah ihren Wells an, ein befreites Lächeln auf den Lippen – Lippen, die er einmal so genau gekannt hatte.

S konnte Gloria retten. Er wusste es. Er spürte es mit seinem ganzen Körper.

Ein leises Geräusch drang ins Zimmer und schlängelte sich um all das Piepsen und Blinken – ein Geräusch wie das Rascheln von Blättern im Wind.

»WillkommeninderHöllewillkommeninderHöllewillkommeninderHöllewilllkommeninderHölle …«

Wells’ Herz donnerte in seiner Brust. Glorias Augen weiteten sich, und sie riss die Spritze hoch. Doch ihre Finger zitterten so sehr, dass sie sie fallen ließ.

»Nein!«, ächzte sie. Sie griff nach den Gitterstäben ihres Betts und zog sich an den Rand der Matratze. Mit zusammengebissenen Zähnen und Schweißperlen auf der Stirn streckte sie eine zitternde Hand Richtung Boden aus.

»WillkommeninderHöllewillkommeninderHölle.« Athena trat ein, den Speer in der Hand.

Glorias Finger tasteten nach der Spritze, doch sie befand sich genau außerhalb ihrer Reichweite.

»Athena«, sagte Wells und bemühte sich, ruhig zu klingen, während er hoffte, seine lächelnde Tochter ablenken zu können. »Hat Alexander schon angerufen? Weiß er, was du tust?«

Athena ignorierte ihn. Sie trat zwischen die beiden Betten, bückte sich und hob die Spritze auf. »Hast du etwas verloren? « Sie richtete sich wieder auf und sah Gloria mit ihren wahnsinnigen Augen an.

»Athena, Liebes, hör zu …«

»Schnauze, Daddy.«

Gloria warf sich auf die Matratze zurück und sank keuchend in die Kissen zurück. Athena spazierte zum Stuhl neben der Tür und lehnte den Speer dagegen. Wells atmete innerlich ein wenig auf, als er sah, dass seine wahnsinnige Tochter die gefährliche Waffe abstellte.

»Athena, Kind, Vater hat dir nie geholfen, aber ich werde es tun«, sagte Gloria. Sie klang atemlos, wenn auch seltsam gelassen. »Ich habe mich immer für dich eingesetzt. Du warst stets mein Liebling.«

Ja, dachte Wells, diese Herangehensweise könnte funktionieren. Gutes Elternteil – böses Elternteil.

»Nenn mich Hades«, sagte Athena und drehte sich wieder zu ihrer Mutter um. Ihr Lächeln verschwand, und ihre Augen verdunkelten sich sichtlich. Sie steckte die Spritze in die Tasche ihres Arztkittels. Dann trat sie ans Bett, riss eines der Kissen unter dem Kopf ihrer Mutter hervor und presste es ihr aufs Gesicht.

»Willkommen in der Hölle«, wisperte Athena.

Wells schrie.