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DEN AST ABSÄGEN

Seattle, Washington – FBI-Außenstelle · 22. März

 

Heather wusste, ihr Leben hing davon ab, wie sie die Frage beantworten würde, die ihr Monica Rutgers, die stellvertretende Dienststellenleiterin, gerade gestellt hatte. Wenn sie Ja sagte, wäre sie für das FBI kaum mehr als eine Marionette – wenn auch eine gut bezahlte, lebende Marionette. Wenn sie Nein sagte, würde man einen Weg finden, ihr die Wahrheit aus dem Gedächtnis zu streichen, und dann würde sie auf die eine oder andere Weise sterben.

»Jetzt bin ich ehrlich verblüfft«, sagte Heather und schaffte es, ihre Lippen zu einem Lächeln zu zwingen, »und fühle mich geehrt. Aber eine so bedeutende Entscheidung kann ich natürlich nicht einfach so treffen. Das werden Sie sicher begreifen.«

»Natürlich«, antwortete Monica Rutgers vom Großbildschirm aus, der an der nach Westen blickenden Wand hing. Ergrauende Locken rahmten ihr stoisch wirkendes Gesicht ein, das Jahrzehnte der Täuschungen und Listen ziemlich verwittert hatten. »Wie wäre es mit Montag? Das lässt Ihnen vier Tage Zeit, es sich zu überlegen.«

»Montag klingt gut, Ma’am«, entgegnete Heather.

Sie saß in einem der beiden Sessel vor dem Eichenschreibtisch, der einmal zu Stearns’ Büro gehört hatte. Seine kraftvolle Energie schien den Raum noch immer zu erfüllen. Manchmal glaubte Heather, ihn plötzlich aus dem Augenwinkel zu sehen – hinter seinem Schreibtisch, vor dem regenüberströmten Fenster zur Straße hinaus. Sie glaubte, Kaffee und seine Tabletten gegen Sodbrennen riechen zu können.

»Wir glauben, Sie haben Ihren Mut und Ihre Fähigkeiten mehr als unter Beweis gestellt«, erläuterte Alberto Rodriguez, der hinter Stearns’ Schreibtisch saß.

»Danke, Sir«, sagte Heather. Sie warf einen Blick auf ihren derzeitigen Boss und schenkte ihm ein, wie sie hoffte, überzeugendes Lächeln. »Trotzdem … es ist eine wichtige Entscheidung. «

»Sie wären eine ausgezeichnete leitende Ermittlerin.« Die schlechte Übertragungsqualität ließ Rutgers’ Stimme so nichtssagend wie ihr Gesicht wirken. »Ich bin mir sicher, Craig Stearns hätte diesen Aufstieg sehr begrüßt.«

Heather bezweifelte das insgeheim – nicht, nachdem Stearns in New Orleans die Wahrheit erfahren hatte.

Sie stehen auf der Abschussliste. Ich übrigens auch.

Wie weit nach oben reicht das Ganze?

Ich denke, es ist das Beste, sich so zu verhalten, als würde es auf jeden Fall bis ganz nach oben reichen.

»Ich weiß Ihr Vertrauen zu schätzen, Ma’am«, murmelte Heather mit zugeschnürter Kehle.

Rutgers faltete ihre Hände auf der polierten Oberfläche ihres Schreibtischs und setzte ein Lächeln auf, das nicht zu ihr passte. Sie fixierte Heather von ihrer Washingtoner Seite des Monitors aus. Heather zwang sich dazu, so gelöst wie möglich zu wirken.

»Im aktualisierten Bericht Ihres Arztes heißt es, Sie seien wieder einsatzbereit«, erklärte Rodriguez.

Heather drehte ihren Sessel so, dass sie sowohl ihn als auch den Bildschirm genau im Auge hatte.

Rodriguez klopfte mit dem Finger auf eine Mappe, die vor ihm auf dem Tisch lag. Sein eckiges, sauber rasiertes Gesicht wirkte nachdenklich. »Obwohl der Doktor offenbar von Ihrer raschen Genesung überrascht ist. Sie grenzt an ein Wunder.«

»Ich hatte Glück«, meinte Heather. »Wenn die Kugel auch nur einen Zentimeter weiter links eingedrungen wäre …« Sie zuckte die Achseln. »Wäre ich jetzt nicht hier. Das war kein Wunder, sondern reines Glück und eine ausgezeichnete medizinische Versorgung.«

»Dennoch haben wir einige Fragen …« Er sah auf, als sich die Tür öffnete und gleich darauf wieder schloss. Rodriguez nickte kurz grüßend.

Heather war gerade im Begriff, sich umzudrehen, um festzustellen, wer zu ihnen gestoßen war, als sie einen Hauch von Brut-Aftershave wahrnahm.

Ich wusste es.

Er sah älter aus, als sie ihn in Erinnerung hatte – kleiner, mit grauweiß meliertem Haar und mehr Falten im Gesicht.

»Entschuldigen Sie die Verspätung, Ma’am«, sagte Senior Agent James William Wallace und nickte in Richtung Bildschirm. Er war neben der Tür stehen geblieben, den regennassen Trenchcoat über dem linken Arm. »Es war viel Verkehr auf den Straßen.«

»Sie müssen sich nicht entschuldigen«, antwortete Rutgers. »Schließlich sind Sie sehr kurzfristig aus Portland gekommen.«

»Wenn ich eine Frage stellen dürfte, Ma’am … warum wurde mein Vater zu dieser Besprechung gebeten?« Heather richtete sich in ihrem Sessel auf. »Wir haben nie zusammengearbeitet. Er ist nicht in der Lage, meine Arbeit …«

»Er ist als Ihr Beistand hier«, unterbrach Rutgers und beugte sich an ihrem Schreibtisch vor. »Wir möchten nicht, dass es zu Missverständnissen kommt, und Sie müssen die Risiken genau kennen.«

Heather lief es eiskalt den Rücken hinunter. »Die Risiken?«

James Wallace legte seinen zusammengefalteten Trenchcoat über die Rückenlehne des freien Sessels und ließ sich neben Heather nieder. Er zwinkerte ihr lächelnd zu, ehe er sich dem Bildschirm und Rutgers zuwandte.

»Sie ist bereit, wieder aufs Pferd zu steigen«, sagte ihr Vater.

»Mein Vater spricht nicht für mich. Nur damit wir uns da einig sind«, warf Heather ein.

»Entspann dich«, brummte Wallace. »Ich bin auf deiner Seite.«

Heather weigerte sich, ihn anzusehen. »Ma’am, Sie erwähnten ein Risiko?«

»Ja. Es gibt Dinge, die Sie sich durch den Kopf gehen lassen sollten, bevor Sie Ihre Entscheidung fällen.«

Rodriguez klappte die Mappe auf und blätterte sie durch. »Special Agent Bennington meinte bei der Nachbesprechung in Washington, er habe den Eindruck gewonnen, Dr. Moore habe Sie als ›Psycho-Lockvogel‹ einsetzen wollen. Allerdings war er nicht sicher, ob Sie Jordan oder Prejean anlocken sollten. « Er sah zu Heather auf. »Können Sie sich einen Reim darauf machen?«

Heather zwang ihre Hände, locker und unverschränkt auf ihrem Schoß liegen zu bleiben. Sie runzelte die Stirn und schüttelte dann den Kopf. »Ich bin sicher, dass Bennington Dr. Moores Motive besser kannte als ich.«

»Bleiben Sie bei Ihrer Aussage, dass Dr. Moore in Wirklichkeit auf Jordan gezielt hatte, als sie Sie traf?«, fragte Rutgers. »Sind Sie sich sicher, dass sie nicht vorhatte, Sie ebenfalls zu töten?«

Auf dem Bildschirm erschien ein Mann – wahrscheinlich ein Assistent –, einen Finger auf das Bluetooth-Gerät an seinem Ohr gelegt. Er beugte sich zu Rutgers hinunter und flüsterte ihr etwas zu, ehe er wieder verschwand. Die Miene der Frau hatte sich deutlich verdüstert.

»Ich bin mir über gar nichts sicher, Ma’am. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt Medikamente in mir und zudem eine Kugel in der Brust, weshalb ich im Grunde kaum etwas weiß«, erwiderte Heather ruhig. »Auch in diesem Fall vermute ich, dass Bennington mit Dr. Moores Absichten vertrauter war als ich.«

»Es könnte einfach ein Unfall gewesen sein, wie das Heather auch in ihrer Aussage erklärt hat«, mischte sich James Wallace ein. Der Stoff seiner Hose raschelte, als er die Beine übereinanderschlug. »So wie das ja auch bei Craig Stearns der Fall war, als ihn eine Kugel aus Heathers Waffe leider in der Schulter traf.«

Endlich sah Heather ihren Vater an. Obgleich ihr Puls raste, war ihr eiskalt. »Das steht alles in meiner ursprünglichen Aussage«, erklärte sie mit zusammengebissenen Zähnen. Ihr Vater erwiderte ihren Blick völlig gelassen. »Das hat nichts damit zu tun, was dann im Center passiert ist.«

»Ich wollte nur darauf hinweisen, wie leicht und wie oft so etwas schiefgehen kann«, meinte er.

»Unglücklicherweise haben Sie Recht«, warf Rutgers ein. »Dennoch kehre ich immer wieder zu einer Frage zurück …«

Heather lenkte den Blick wieder auf den Bildschirm. Der Frosch in ihrem Hals wurde wieder größer. »Ja, Ma’am?«

»Falls Moore Sie wirklich niederschießen wollte, dann frage ich mich: Warum? Wollte sie Prejean zum Handeln zwingen? «

Heathers Puls raste noch schneller. »Ich verstehe nicht«, sagte sie mit trockenem Mund. »Prejean zum Handeln zwingen? «

»Bad Seed«, meinte Rodriguez. »Schon mal gehört?«

Heather sah ihn an. Seine durchdringenden Augen musterten sie genau. Sie schüttelte den Kopf. »Bad Seed? Sollte ich? Wenn das etwas war, woran Moore arbeitete, wäre wohl wieder Bennington zuständig, nicht wahr?«

»Leider können wir auf ihn nicht mehr zurückgreifen«, brummte die Frau auf dem Bildschirm. »Special Agent Bennington ist tot.«

Heather blieb bewegungslos sitzen. Sie starrte Rutgers’ Pixelbild an. »Tot?«

Die Frau nickte mit ärgerlicher Miene. »Myokardinfarkt. Schon vor beinahe zwei Wochen.«

Heather schätzte Bennington auf nicht viel älter als Anfang dreißig. Er war ausgesprochen durchtrainiert gewesen. Ein Herzinfarkt war bei einem solchen Menschen ungewöhnlich, aber nicht ausgeschlossen. Dennoch wurde sie das unheimliche Gefühl nicht los, dass man bei Benningtons Tod nachgeholfen hatte – genau wie bei Dr. Anzalone, der Pathologin in Pensacola. Beide Tode kamen dem FBI schließlich ausgesprochen gelegen.

»Es tut mir leid, das zu hören«, brachte sie noch einer Weile heraus, während sich ihr Magen weiter verkrampfte. »Ich kann Ihre Frage nicht beantworten, Ma’am. Sie fragen mich Dinge, die ich nicht weiß.«

Rutgers betrachtete sie einen Augenblick lang, ehe sie nickte. »Natürlich. Während Sie also überlegen, ob Sie unser Angebot annehmen wollen, sollten Sie in Betracht ziehen, dass eine Ablehnung oder Kündigung Ihrerseits dazu führen könnte, dass bestimmte Informationen an die Öffentlichkeit dringen.«

»Ma’am?« Heather sah aus dem Augenwinkel, wie sich ihr Vater auf seinem Stuhl aufrichtete, und ein weiterer Hauch seines Aftershaves stieg ihr in die Nase.

»Zwei Mitglieder Ihrer Familie sind bisher Geisteskrankheiten zum Opfer gefallen, soweit ich weiß, Ihre Mutter und Ihre Schwester.« Die Stimme der Frau auf dem Monitor klang gelassen und unaufgeregt.

»Das stimmt nicht«, mischte sich Wallace ein. »Meine Frau war Alkoholikerin …«

»Sie war manisch-depressiv«, unterbrach ihn Heather. »Mom hatte eine bipolare Störung. Annie auch.«

Rutgers’ Blick war eisig geworden. Sie wandte sich an Wallace. »Ich dulde keine weiteren Unterbrechungen – von keinem von Ihnen.« Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Heather.

»Ich höre, Ma’am«, sagte diese.

»In der Presse wird zu lesen sein, dass Sie als drittes Familienmitglied dieser Krankheit anheimgefallen sind«, sagte Rutgers. »Wir werden unser Bedauern darüber ausdrücken, eine unserer besten Agentinnen auf so schicksalhafte Weise zu verlieren. Wir werden zudem erklären, dass wir Sie für keine verwirrten Kommentare, die Sie in Ihrem Zustand von sich geben könnten, zur Rechenschaft ziehen werden, und wir würden versprechen, Sie den besten Ärzten und Psychiatern zu übergeben, um sicherzustellen, dass Sie wieder ganz gesund werden.«

James Wallaces Sessel ächzte leise, als er sich vorbeugte, den Ellbogen auf sein Knie gestützt. »Dann sind Sie also bereit, Heathers Karriere zu zerstören und meine gleich mit?«

»Nicht ich, sondern Ihre Tochter«, widersprach Rutgers. »Es ist allein ihr Ermessen.«

Heather starrte die Frau an. »Wäre das dann alles?«, fragte sie.

»Meine Herren?«, murmelte Rutgers. »Noch etwas?«

Ihr Gesichtsausdruck wirkte distanziert. Aber Heather merkte, dass ihr Körper und vor allem ihre Schultern stark angespannt waren.

»Nein, Ma’am«, antwortete Rodriguez.

Wallace schüttelte den Kopf.

»Dann sind wir fertig. Bis Montag, Wallace. Denken Sie gut nach.« Rutgers drückte auf einen Knopf an ihrem Schreibtisch, und der Bildschirm wurde dunkel.

Heather erhob sich und blickte Rodriguez an. »Sir«, flüsterte sie. Ohne ihren Vater eines weiteren Blicks zu würdigen, verließ sie das Büro.

 

Heather durchquerte eilig das Parkhaus. In ihrem Inneren brannte die Wut ein Loch in ihre Eingeweide. Draußen hatte es zu regnen aufgehört, aber die Luft war noch kühl, klamm und roch nach Gummi, altem Öl und Autoabgasen. Sie entriegelte mit ihrem Türöffner den Trans Am und fasste nach dem Griff, um die Tür zu öffnen.

»Heather!« Ihr Name hallte an den Betonwänden wider.

Sie drehte sich rasch um und sah sich ihrem Vater gegenüber. »Was willst du?«

»Bisher dachte ich immer, die traditionelle Begrüßung sei Hallo«, erklärte James Wallace mit neutral klingender Stimme. Er stand etwa einen Meter von ihr entfernt, die Hände in den Taschen seines hellbraunen Trenchcoats. In seiner Brille spiegelten sich die flackernden Lichter an der Decke wider. »Ich bin gekommen, um für dich zu bürgen. Wir sind noch immer Blutsverwandte, ob dir das passt oder nicht, und mein Wort hat Gewicht.«

»Ich habe dein Gewicht nie gebraucht oder gewollt.«

»Ich weiß«, sagte James Wallace. Um seine Lippen spielte ein Lächeln. »Das mochte ich an dir schon immer.«

»Ist dir nicht klar, dass sie dich gerade benutzt haben?«

»Doch … jetzt schon.« Er seufzte. »Ich habe versucht, dich zu schützen.«

»Das hast du noch nie getan. Warum jetzt?«

James Wallace nahm die Brille ab und rieb sich den Nasenrücken. »Wieso bist du da so sicher?« Auf einmal wirkte er müde und erschöpft und sah aus, als müsse er sich dringend rasieren. Ohne sie einmal mit bloßem Auge anzusehen, setzte er die Brille wieder auf. »Ich will, dass wir wieder eine Familie sind, Heather. Wir alle.«

»Ach ja? Ich kann mich nicht erinnern, dass du mich in der Klinik besucht oder auch nur angerufen hast«, flüsterte sie. Die Muskeln in ihren Schultern spannten sich an.

»Ich ertrug den Gedanken nicht, dich verletzt und leidend zu sehen. Nicht dich. Hoffentlich haben dich die Medien in Ruhe gelassen.«

War das echte Fürsorge? Oder nur Verhörtechnik? Es verwirrte Heather, dass sie es nicht wusste. »Warum interessiert es dich, ob mich die Medien in Ruhe gelassen haben?«

Er zog die Hände aus den Taschen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich erinnere mich, wie grauenhaft es war, nachdem deine Mutter gestorben war.«

»Ermordet … man hat sie ermordet.«

»Ich habe mein Bestes getan, um euch zu beschützen. Ich wünschte, du könntest das verstehen.«

»Ich verstehe, dass du Annie nie die Hilfe gegeben hast, die sie brauchte.« Sie merkte, wie sich ihre Fingernägel in ihre Handballen bohrten, und begriff, dass sie wieder einmal in ihre alten Rollenmuster gerutscht waren. Sie griff ihn an, und er verteidigte sich, wodurch sie immer wieder dieselben Auseinandersetzungen führten.

»Was soll es deiner Schwester bringen, wenn du die Vergangenheit wieder ausgräbst? Schau in die Zukunft und lass die Toten ruhen.«

Heather starrte ihn an. Wie hatte er es so schnell herausgefunden? Wanzen? Spione? Von Lyons? Oder hatte es ihm ein Angestellter en passant erzählt? Im Grunde war es egal. Das Wesentliche war: Er wusste es.

»Nein«, sagte Heather.

»Einfach nein und das war’s?«

»Das war’s.«

»Denk an deine Schwester, deinen Bruder«, sagte Dad. »Sie müssen nicht alle Einzelheiten des Mordes an deiner Mutter kennen.«

»Ich denke an sie«, sagte Heather. »Wenn du von Anfang an ehrlich uns gegenüber gewesen wärst, hätten wir Annie schon viel früher helfen können. Ich glaube, dass uns die Wahrheit guttun wird … ich muss jetzt los.«

Sie schob den Schulterriemen ihrer Tasche weiter hoch, drehte sich um und öffnete die Autotür. Die Hand ihres Vaters hielt sie am Handgelenk fest. Sie erstarrte und blickte zu ihm auf. Seine nussbraunen, klaren Augen sahen sie an.

»Lass los«, sagte sie.

»Ich wollte nur, dass du weißt, wie froh ich bin, dass du noch lebst. Ich bin froh, dass dich Prejean gerettet hat. Wenn Stearns ihn getötet hätte …« In James Wallaces Kiefer zuckte ein Muskel.

»Stearns riskierte sein Leben für mich. Als er Dante niederschoss …« Sie brach ab. Ihr Herz begann zu rasen. Er hatte die Bemerkung so zufällig einfließen lassen, dass sie ihm prompt auf den Leim gegangen war. Als käme sie frisch von der Akademie.

Froh, dass dich Prejean gerettet hat.

Woher wusste er das nur?

Sie hatte nur einem Menschen davon erzählt, was Dante getan hatte – nur bei einem geflüsterten Telefonat mit der einzigen Person, die sie nicht verurteilen oder als verrückt abstempeln würde. Mit einem Whiskyglas in der Hand und einem Hals, der bei jedem Wort schmerzte, hatte sie ihrer Schwester alles gestanden.

Ich bin nicht weggelaufen. Ich habe mich nur eine Weile zurückgezogen. Um ein paar Dinge für mich zu klären.

Dann ruf ihn an, Heather. Lass ihn wissen, dass du dir Sorgen um ihn machst, dass er dir wichtig ist.

Heather riss sich von ihrem Vaters los. Sie glitt hinter das Lenkrad ihres Autos und schlug die Tür zu. Im Wagen roch es schwach nach Vanille – ein Duft, der von dem »Sternennacht«-Duftbaum stammte, der an ihrem Rückspiegel baumelte. Sie fühlte sich verkrampft und verhärtet wie eine Faust, und es fiel ihr schwer, vor Zorn und Empörung normal zu atmen.

James William Wallace trat einen Schritt zurück, ein schuldbewusstes Lächeln auf den Lippen.

FBI-Mann, Vater, Ehemann und kaltherziger, gnadenloser Lügner.

Hatten sie ihr Telefon oder das Annies angezapft?

Sie ließ den Trans Am an und schaltete in den ersten Gang. Dann fuhr sie aus dem Parkhaus.

Sie musste Dante warnen.

 

Die Tür fiel hinter Caterina ins Schloss. Zwei Augenpaare beobachteten sie, wie sie durchs Zimmer kam und vor Monica Rutgers’ Tisch stehen blieb. Rutgers’ Assistent, Senior Agent Sheridan, stand hinter dem Stuhl seiner Chefin wie eine dieser königlichen Wachen, die Caterinas Mutter vor vielen Jahrhunderten an einem italienischen Hof erlebt hatte. Sein Blick war reserviert und sein Gesicht trotz der Schweißperlen auf seiner Stirn ruhig und gelassen.

»Ich wusste nicht, dass Sie in Washington sind, Cortini«, meinte Rutgers mit einem Stirnrunzeln. Sie tippte mit einem Finger auf einen ordentlichen Stapel Akten, der auf ihrem Tisch lag.

»Das war der Plan«, sagte Caterina und setzte sich auf einen der Stühle vor dem Schreibtisch. Leder knarzte. Sie sah Sheridan an. »Wir müssen uns unter vier Augen unterhalten.«

Sheridans Blick wirkte nicht mehr reserviert. Er fixierte sie aus seinen nussbraunen Augen aufmerksam. Mitte dreißig und der Figur in seinem ausgezeichnet geschnittenen Anzug nach zu urteilen in bester Verfassung. Keine Doughnuts und Latte Macchiatos für diesen königlichen Wachmann.

»Gehen Sie«, befahl Rutgers.

Ohne den Blick von Caterina zu wenden, sagte er: »Ja, Ma’am.« Raschen Schritts durchquerte er das Zimmer. Die Tür fiel geräuschlos hinter ihm ins Schloss.

Caterina stellte ihren Störsender auf den Tisch. Der schmale, dunkle Metallapparat sah wie ein iPod aus, aber sie nahm an, Rutgers wusste trotzdem, was sich in Wahrheit dahinter verbarg und warum sie ihn jetzt zum Einsatz brachte. Caterina schaltete das Gerät ein. Es rauschte und piepte, während es die Abhör- und Aufnahmegeräte im Zimmer außer Gefecht setzte.

»Ich soll eine Nachricht überbringen«, sagte Caterina und sah der Frau ihr gegenüber in die Augen. »Man hat sich entschieden. «

Rutgers erstarrte. »Entschieden? Hinsichtlich …?«

»Des Fiaskos mit Bad Seed und des darauf folgenden schlechten Managements durch das FBI«, erklärte Caterina, auch wenn sie genau wusste, dass Rutgers sie auch schon vorher verstanden hatte.

»Aber wir stecken noch mitten in der Aufklärung«, protestierte Rutgers und beugte sich in ihrem Stuhl vor. Sie legte eine Hand auf die Akten, als wolle sie sie beschützen. »Wir haben alle Beweise vernichtet.«

Caterina schüttelte den Kopf. »Nicht alle. Das Filmmaterial aus den Sicherheitskameras im medizinischen Labor des Centers ist noch immer nicht aufgetaucht, und einige Beweise laufen weiter auf zwei Beinen durch die Gegend und sind definitiv nicht vernichtet.«

Rutgers schloss den Mund. Ihre Hände glitten von den Akten in ihren Schoß. Einen Augenblick lang musterte sie Caterina. »Dr. Moore und Dr. Wells sind für Bad Seed verantwortlich. Wenn jemand an dieser Sauerei schuld ist, dann die beiden. «

»Moore wird noch vermisst, und Wells ist bereits vor fünf Jahren in Rente gegangen. Es fällt also allein in Ihre Verantwortlichkeit. «

»Wollen Sie damit sagen, ich sei an dieser ganzen Sache schuld? Das war nicht nur ein Projekt des FBI. Sie und Ihre Leute haben eine große Rolle dabei gespielt.«

»Es geht nicht darum, was ich glaube. Es geht darum, wie meine Direktiven lauten.«

»Verstehe, und wie lauten sie?«

»Ich soll mich um alle offenen Rechnungen kümmern.«

Rutgers holte tief Luft. »Alle?«

»Alle außer einer.«

»Dante Prejean«, sagte Rutgers tonlos. »Was ist mit Wallace? Wir haben ihr den Posten eines Senior Agents in Seattle angeboten. Sie haben doch wohl nicht vor …«

»Wallace geht Sie nichts mehr an«, unterbrach Caterina. »Sie brechen sofort alle Überwachungen Wallaces ab. Rufen Sie auch Ihre Leute zurück, die Prejean beobachten, und falls Moore auftaucht, lassen Sie mich das sofort wissen.«

Caterina hatte das Gefühl, Dr. Moore sei tot. Aber so lange sich ihr Verdacht nicht bestätigt hatte, musste sie sich verhalten, als sei die vermisste Wissenschaftlerin noch am Leben.

Sie stand auf. »Falls sich jemand aus dem Staub macht, muss ich annehmen, dass er gewarnt wurde, und zwar von Ihnen.« Sie hielt dem starren Blick der Frau ihr gegenüber stand, bis diese schließlich mit zusammengepressten Lippen wegschaute. »Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt.«

»Völlig.«

Caterina schnappte sich den Störsender vom Schreibtisch, ohne ihn auszuschalten. Sie hielt ihn einfach in der Hand, als sie erklärte: »Diese Entscheidung ist nicht revidierbar. Sie können keinen Einspruch erheben.«

Rutgers blickte zu ihr auf, und ihre Augen wirkten dunkel und bitter wie verbrannter Kaffee. »Das kann man nie.«

Caterina schaltete den Störsender aus und schob ihn in die Tasche. Mit einem kurzen Nicken drehte sie sich auf dem Absatz um und durchquerte den Raum. Vor der Tür blieb sie stehen.

»Ich habe das Gefühl, völlig im Dunkeln arbeiten zu müssen«, sagte Rutgers.

Caterina öffnete die Tür. »Nein. In unserer Branche ist es leicht, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen.« Sie trat auf den Gang hinaus und schloss die Tür hinter sich. »Das ist das Problem. «