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DER CHAOSTHRON

Gehenna, im königlichen Horst · 23./24. März

 

Lilith hob ihren Schleier und warf einen Blick hinter sich. Der glänzende Marmorkorridor war leer, und die Laternen tauchten alles in ein gedämpftes orangefarbenes Licht. Noch dauerte es einige Stunden bis Sonnenaufgang, und die meisten im königlichen Horst schliefen, von einigen wenigen Bediensteten und Wachen abgesehen.

Vorsichtig streckte sie ihre Fühler aus und suchte nach Psi-Kräften oder mentaler Energie – allem, was ungewöhnlich war –, konnte aber nichts entdecken.

Sie ließ den Schleier wieder fallen, wodurch ihr Blickfeld erneut in Rot getaucht wurde, atmete tief die beruhigend nach Myrrhe duftende Luft ein und schlich ins Empfangszimmer des Creawdwrs – einen Raum, der seit über zweitausend Jahren leergestanden hatte.

Mondlicht fiel durch die Fenster, die an der östlichen Wand von der Decke bis zum Boden reichten – bleich und durchsichtig, wie eine zarte geisterhafte Widerspiegelung des silbernen kraftvollen Lichts, das einmal durch diese Fenster hereingeströmt war.

Gehenna stirbt.

Lilith schlug erneut den Schleier zurück und zwang sich, den himmelblauen Marmorboden in normaler Geschwindigkeit zu überqueren. Sie versuchte, sich zu sammeln und ihr Herz ruhig zu halten. Sie durfte in diesem Raum nicht erwischt werden, nicht mit dem, was sie bei sich trug. Vor den dunklen Marmorstufen, die zu dem mit Seidenstoff bedeckten Sitz hochführten, blieb sie stehen.

Er heißt Dante und wurde als Vampir geboren.

Es roch abgestanden und verstaubt – genauso leer wie der Thron über ihr.

Lilith trat auf die erste Stufe, nahm eine Ecke des Seidenabdeckstoffs und zog daran. Der goldene Stoff wehte zu Boden, wo er sich wie Wasser über Steinen wellte und vor ihren Füßen zu liegen kam. Wässriges Mondlicht umhüllte den dunklen Marmorsitz mit den blauen Maserungen. Die Rückenlehne ragte weit nach oben und hatte an beiden Seiten Aussparungen für die Flügel des Creawdwrs. Füße und Armlehnen waren aus geschuppten Drachengliedern geschnitzt, wobei die Pranken mit den Krallen mit Saphiren und milchig blauen Opalen verziert waren.

Der Chaosthron. Von hier aus wob der Creawdwr den Teppich aus Chaos in ein geordnetes Lebensmuster.

Ein Gefühl der Einsamkeit und des Bedauerns überkam Lilith. Sie erinnerte sich an Jahwes Gesicht, ehe er es in seinem Wahnsinn in eine Feuersäule verwandelt hatte. Er war schön gewesen, mit seinem goldenen Haar und den ebensolchen Flügeln, seinen dunklen klugen Augen und einem Lächeln, das man hervorlocken musste, das aber umso strahlender wirken konnte.

Ein Lächeln, um dessen Willen seine Calon-Cyfaills Samael – nein, Lucien – und Ashtoreth freundschaftlich gegeneinander angetreten waren. Später hatte Jahwe oft gelächelt, und es hatte Momente gegeben, wo es dafür keine Heiterkeit, keine Freude, kein Grund zum Feiern gegeben hatte.

Sie erinnerte sich an Luciens Angst: Wir können es nicht aufhalten. Der Wahnsinn beginnt sich auszubreiten.

Sie wusste auch noch, wie ihre Antwort gelautet hatte: Vielleicht muss er von mehr als zweien festgehalten werden, Liebster. Vielleicht ist seine Macht zu groß, zu chaotisch für eine schlichte Dreierkonstellation.

Lilith verdrängte die Vergangenheit. Anfänglich hatte sie zutiefst bedauert, was geschehen war, doch seitdem war viel Zeit vergangen. Ob richtig oder falsch – sie hatte getan, was sie damals für Gehenna und für Jahwe als notwendig erachtet hatte.

Lucien behauptete dasselbe für sich, aber dennoch verfolgte sie die Erinnerung an jene schreckliche Nacht vor so vielen Jahrhunderten noch jetzt bis in ihre Träume.

»Was hast du getan?«

Lilith flüstert die Frage, doch jedes Wort schlägt wie ein Hammer gegen ihre Schläfen. Ihr Kopf dröhnt vor Schmerzen. Draußen zittert und bebt die Erde. Es fühlt sich so an, als würde sich Gehenna selbst entzweireißen. Sie klammert sich an den Türpfosten.

Neu geschaffene Wesen flattern in den Himmel, wo sie sich auflösen und in alle Winde verstreut werden.

Samael … Lucien … blutet aus Nase und Ohren. Er presst Jahwe eng an seine Brust. Das Gesicht des Creawdwrs strahlt kein Licht aus. Bewegungslos neben ihrem Calon-Cyfaill liegt Ashtoreth auf dem Marmorboden und starrt mit leeren Augen an die Decke. Blut umrahmt wie Kohlestift ihre Augen, und ihr hinreißendes Gesicht ist an den Ohren und der Nase ebenfalls blutverschmiert.

»Was hast du getan?« Lilith schreit das letzte Wort. Die Schmerzen lassen sie auf die Knie und den harten Boden fallen. Sie packt Jahwe an den Schultern.

Lucien schlägt ihre Hände weg und wirft ihr einen Blick zu, der sie bis ins Mark erschüttert. Ihre Hände erstarren in der Luft. »Ihr werdet ihn nie mehr benutzen!« Seine Augen wandern zu Jahwe zurück. Seine Miene wird zärtlich. »Jetzt ist er frei.« Er lässt seine Haare über das Gesicht des Creawdwrs fallen – ein schwarzer seidiger Schleier.

»Mörder!«, schluchzt Lilith.

Sie atmete den Duft von Weihrauch und Jasmin ein und schob wieder die Vergangenheit von sich. Luciens plötzliche Rückkehr hatte ihr Gedächtnis von altem Staub und Spinnweben befreit und ihm neues Leben verliehen. Sie konzentrierte sich, um wieder ruhiger zu werden, und stieg die Stufen zum Chaosthron hinauf. Jetzt wollte sie die Behauptungen ihres früheren Cydymaith auf die Probe stellen.

Er heißt Dante und wurde als Vampir geboren. Er ist dreiundzwanzig Jahre alt.

Sie fasste in den dunklen Samtbeutel, der an ihrem Gürtel hing, und holte den Gegenstand heraus, den sie heimlich aus Luciens Hose genommen hatte, als dieser im Abgrund hing. Blutspritzer zierten das zerknitterte Papier wie ein Siegel. Creawdwr-Magie wisperte an ihren Fingern. Ihre Hände begannen, leicht zu beben.

Wenn das echt und kein Trick Luciens war, um sie wie eine Närrin aussehen zu lassen, dann würden die Juwelen auf dem Chaosthron zu leuchten anfangen. Nur der Zauber eines Creawdwrs konnte den Thron zum Leben zu erwecken.

Sie beugte sich vor und berührte mit dem blutigen Papierfetzen den dunklen Marmor.

Der Chaosthron ging in Flammen auf.

Lilith stolperte rückwärts und glitt mit ihren Schuhen von der Stufe. Sie stürzte von dem Podest, fing sich aber noch durch ein Flattern ihrer Flügel und landete sanft mit den Füßen auf dem harten Boden.

Feuer umloderte den schwarzen Marmorthron. Kühle Flammen umgaben ihn wie eine Aura aus Dämmer – ultramarinblau, grünlich und amethystfarben. Die Saphire und Opale glühten in einer nie gesehenen Intensität, und Lilith hob eine Hand, um ihre Augen vor dem kalten Glanz zu schützen.

Lumineszierende Farben erfüllten den Raum wie das erste Abendrot.

Liliths Herz schlug ihr bis zum Hals. Noch nie zuvor hatte sie so ein Schauspiel gesehen, nicht einmal, als der Creawdwr auf dem Thron gesessen hatte, und das nur aufgrund weniger Blutstropfen des kindlichen Creawdwrs. Ihr Mund wurde trocken.

Er heißt Dante und wurde als Vampir geboren. Er ist mein Sohn.

Fola Fior und Elohim.

Noch nie zuvor hatte es in der Geschichte der Elohim einen nicht reinrassigen Creawdwr gegeben.

Tausend Möglichkeiten schossen Lilith durch den Kopf. Ihr Puls raste.

Sie rannte die Stufen wieder hinauf und schnappte sich das blutige Stück Papier. Das Feuer und die schimmernden Farben verschwanden. Der Raum wurde wieder dunkel, und sie blinzelte, um wieder klar sehen zu können.

Dann drehte sie sich um, senkte die Flügel und nahm das Seidentuch, um es wieder über den Thron zu werfen. Ungeschützte Gedanken drängten unwissend gegen ihr Bewusstsein, und ihr war klar, dass es nur eine Frage der Zeit war, ehe sie einer der Dienstboten fand.

Oder noch schlimmer: Gabriel.

Sie landete auf dem Marmorboden und faltete die Flügel hinter sich, ehe sie aus dem Zimmer eilte. Draußen fasste sie nach ihrem Schleier, doch er war weg. Angst breitete sich wie eine Flut in ihr aus. Sie wirbelte herum und rannte ins Empfangszimmer zurück.

Ihr Schleier lag auf der untersten Stufe, wie eine Blutschliere auf dem dunklen Stein. Sie hob ihn auf, zog ihn sich über und legte die beiden Enden über ihre Schultern.

»Was für eine freudige Überraschung, Täubchen«, sagte eine tiefe, honigsüße Stimme.

Obwohl ihr Herz vor Angst fast aussetzte, gelang es Lilith, nicht zusammenzuzucken. Sie zog erst ihren Schleier zurecht, ehe sie sich umdrehte und Gabriel ansah. »Ich hoffe, ich habe dich nicht gestört«, antwortete sie gelassen. »Ich konnte nicht schlafen.«

Er lehnte am Türpfosten, trug Rock und Sandalen und hatte sein Haar zu einem dicken Zopf geflochten. Seine Flügel steckten in seinen Rückenfutteralen. Ein geknoteter Reif zierte seinen Hals. Er warf ihr ein anteilnehmendes Lächeln zu. »Ich auch nicht.«

»Kein Frieden für die Gottlosen«, antwortete Lilith und erwiderte sein Lächeln.

»Wie wahr. Oh, wie wahr.«

Sie ging zur Tür und hielt inne, als er keinerlei Anstalten machte, sich zu bewegen.

Er berührte ihren Schleier mit einem Finger. »Was hat dich auf deiner Suche nach Schlaf gerade in dieses Zimmer geführt? Warum bist du nicht im Garten spazieren gegangen oder hast einen kleinen Nachtflug unternommen?«

Lilith erwiderte Gabriels Blick. »Meine Unterhaltungen mit Samael habe Erinnerungen in mir geweckt, die ich schon lange tot geglaubt hatte«, sagte sie und gab ihrer Stimme einen Anklang von Kummer, »und … alte Gefühle.«

Gabriel ließ die Hand sinken. Seine Augen blitzten belustigt. »Unterhaltungen? So nennst du das?« Er lachte. »Er baumelt namenlos im Abgrund, und das allein deinetwegen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass er Lust zum Plauschen hat.«

»Vielleicht macht es mir ja Spaß, ihn leiden zu sehen. Vielleicht macht es mir Spaß zu hören, wie er tobt und flucht.«

»Das glaube ich sofort«, murmelte Gabriel. »Ich glaube, du kamst in dieses Zimmer, um deine Wut noch mehr anzufachen, um dich daran zu erinnern, was er uns genommen hat, Täubchen.«

Sie strich die Falten ihres Gewands glatt. »Seit wann kennst du mich so gut?«

Gabriel richtete sich auf und trat in den Gang hinaus. »Du konntest mich noch nie täuschen«, sagte er und sah ihr tief in die Augen. »Noch nie.«

»Wirklich? Dann hast du also dein Heer vorsätzlich in meinen Hinterhalt an der Goldküste geführt?«

Gabriel winkte ab. »Das ist lange her. Seitdem habe ich dazugelernt. «

Lilith lachte. »Das hoffe ich.« Sie trat auf den Gang.

Eine Dienerin, eine der halbsterblichen, flügellosen Nephilim , senkte den Blondschopf und glitt stumm ins Zimmer des Creawdwrs, in den Händen Besen und Staubwedel.

»Es gab noch einen Grund, warum es mich überraschte, dich hier zu sehen«, fuhr Gabriel fort. »Luzifer hat Samael zum Frühstück vor Sonnenaufgang in seinen Horst eingeladen. Er will sich wohl ein wenig mit ihm amüsieren.«

Sie fixierte Gabriel. Ihr Magen verkrampfte sich. »Ich habe gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergeht«, sagte sie. »Danke, dass du mich daran erinnert hast. Gute Nacht.« Sie drehte sich um und wollte den Gang hinunterlaufen. Aber Gabriels Stimme ließ sie innehalten.

»Glaubst du, er versteckt einen Creawdwr

»Luzifer?«

»Spiel keine Spielchen mit mir, Täubchen.«

»Ich weiß nicht«, sagte Lilith nachdenklich. »Allerdings kann ich es mir kaum vorstellen.«

»Nun, wenn Samaels Kraft zu sehr nachgelassen hat, um seine Schilde noch hochzuhalten, werde ich mich einfach in seinem Bewusstsein umsehen und es herausfinden.«

»Klingt nach großem Spaß«, meinte sie trocken. »Gute Nacht, Gabriel.«

»Soll ich Hekate sagen, ihre Mutter habe vorbeigeschaut?« Seine Stimme klang wieder honigsüß.

Dornen stachen Lilith ins Herz. »Wer treibt jetzt Spielchen? Ganz egal, was ich antworte: Du wirst es ihr sowieso sagen.«

»Stimmt, Täubchen. Angenehmes Frühstück wünsche ich.«

Lilith ging hoch erhobenen Hauptes weiter. Sie hatte schon die Hälfte des Gangs hinter sich, als ihr klarwurde, dass sie den blutbefleckten Papierfetzen nicht mehr in ihren Beutel zurückgesteckt hatte. Ihr gefror das Blut in den Adern. Sie konnte sich nicht mehr umdrehen und ins Zimmer zurückkehren, denn sie spürte Gabriel hinter sich. Sie wusste, er beobachtete jede ihrer Bewegungen genau und analysierte ihre Körpersprache. Ihr blieb also nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass die Dienerin den Zettel zusammenkehrte und wegwarf.

Noch etwas außer dem verlorenen Papier beunruhigte sie. Warum hatte Luzifer sie nicht von seinem Frühstück mit Lucien in Kenntnis gesetzt?

Hatte er gehofft, sie damit zu überraschen und vielleicht zu überrumpeln? Schließlich hätte sie eigentlich noch in ihrem gemeinsamen Bett sein sollen. Wahrscheinlich fragte er sich längst, wohin sie wohl um diese Stunde verschwunden war.

Vielleicht sollte sie einfach behaupten, sie hätte ihre gemeinsame Tochter besucht. Doch allein der Gedanke hinterließ einen bitteren Nachgeschmack in ihrem Mund. Was, wenn Hekate ihm erzählte, dass das gar nicht gestimmt hatte?

Lilith eilte zur Öffnung des Horsts und stürzte sich in den Nachthimmel.