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FLÜSTERN

Damascus, Oregon · 22. März

 

»Atmet die kranke Alte noch immer?«, fragte Athena. Sie saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Sofa, den Blick auf den Laptop in ihrem Schoß gerichtet. Der Laborkittel, den sie über ihrer Jeans trug, war verschmiert und voller Blutspritzer und anderer Flüssigkeiten.

»Mutter atmet noch – ja«, antwortete Alex und gab der Tür mit dem Fuß einen Stoß, so dass sie ins Schloss fiel. Dann stellte er das Tablett mit den Medikamenten, die seine Schwester abends nehmen musste, auf dem Couchtisch ab.

»Gut. Ich will nicht, dass sie stirbt, ehe ich sie töten kann.«

»So mögen wir dich.«

Im Zimmer roch es nach erhitzten Stromkreisläufen und Zimt-Potpourri. Doch Alex nahm auch noch etwas anderes wahr – den Gestank fauler Eier und verbrannter Haare, der von Athenas kleinem Labor aufstieg. »Wie ist das Experiment gelaufen?«

»Erfolglos«, antwortete sie. »Ich brauche mehr Material.«

»Gut, ich werde mich darum kümmern.« Alex setzte sich neben seine Schwester auf die Couch. »Was hast du heute noch gemacht?«

»Studiert.« Ihre Augen wanderten unruhig über die Bilder auf dem Monitor, immer wieder von links nach rechts und wieder zurück.

»Ah.« Das bedeutete, sie hatte Dante studiert und noch einmal die Aufnahmen aus der medizinischen Abteilung des Bush-Centers angesehen. Er seufzte. »Wir müssen reden.«

»Über …?« Athena sah auf. Das Lampenlicht spiegelte sich in ihren Augen wie Sonnenschein auf einer ruhigen Wasseroberfläche. Für einen Moment wirkten ihre Pupillen durchsichtig und erinnerten an ein stilles Meer.

»Darüber, was jetzt passieren soll.«

»Ich höre«, sagte sie und wandte den Blick wieder dem Monitor zu.

Alex streckte die Hand aus und klappte den Deckel des Laptops zu. »Es reicht. Du solltest das nicht länger ansehen. « Er nahm ihr den Computer ab, auch wenn sie diesen noch einen Moment festhielt, und stellte ihn auf den Couchtisch.

»Aber ich muss ihn verstehen«, protestierte sie. »Wenn ich ihn anschaue, kann ich nichts jenseits von ihm entdecken, und ich weiß nicht, was das bedeutet.«

»Du bist einfach müde«, meinte Alex. »Du musst dich ausruhen. « Die dunklen Ringe unter ihren Augen bewiesen, dass er Recht hatte, und waren zudem ein Hinweis auf all die ruhelosen, schlaflosen Nächte, die sie hinter sich hatte. Dennoch waren ihre Visionen immer richtig, ob sie schlief oder nicht, ob sie ihre Medikamente nahm oder wegließ.

Visionen, von denen ihr Vater nichts wusste.

»Ich muss herausfinden, wie man Dante deprogrammieren kann.«

»Darüber kannst du nachdenken, wenn ich ihn herbringe. Komm. Etwas frische Luft. Medikamente. Beweg mal wieder deinen Arsch.« Er griff nach Athenas Hand und zog sie auf die Füße. Dann führte er sie durch die Küche zur Hintertür und nach draußen, ehe er hinter ihnen die Tür wieder schloss.

Alex ließ ihre Hand los, als sie sich in die Hollywood-Schaukel auf der Terrasse setzte. Er machte es sich neben ihr bequem. Das Holz gab ein wohliges Knarzen von sich. Ohne hinzusehen fasste er erneut nach Athenas Hand. Ihre Finger fühlten sich warm und hart an, als sie mit den seinen verschränkte.

Behaglich sog er die feuchte, nach Kiefern duftende Luft ein. »So ist es besser.«

»Wenn du meinst.«

Ein rascher Blick zeigte ihm ein angedeutetes Lächeln, das die Lippen seiner Zwillingsschwester umspielte. Er musste auch lächeln.

»Die SA hat vermutlich vor, Vater zu töten«, sagte Alex und sah in den Nachthimmel. Er beobachtete, wie die Sterne wimmelten und funkelten – wie Votivkerzen in einer dunklen Kirche. »Mann, das FBI heißt diesen Plan nach dem Fiasko mit Moore vielleicht sogar gut.«

»Wissen sie, dass Vater Ronin von Bad Seed erzählt hat?«

»Glaube ich kaum. Das würde echte Intelligenz verlangen. «

»Was, wenn sie Vater töten, ehe er dir beibringen kann, wie man Dante benutzt?«

»Wir können nur hoffen, dass das nicht passiert«, antwortete Alex. »Ich habe Vater bewaffnet und unsere Alarmanlage scharf gemacht, aber …« Er zuckte die Achseln. »Ein Profi könnte diese Hindernisse vermutlich locker überwinden. Ich habe immer wieder versucht, Vater zu überreden abzutauchen, aber er weigert sich.«

»Vielleicht schicken sie ja einen ungeschickten Amateur oder einen schlechten Schützen. Wir haben es nicht mit der Mafia zu tun, nur mit der Regierung.«

Alex lachte. Er beugte sich zu seiner Schwester hinüber, drückte seine Stirn gegen die ihre und lauschte ihrem steten, nie innehaltenden Gedankenfluss: Träumt Vater noch? Von Macht und Göttern? Von all dem, was er niemals sein kann und niemals haben wird?

Athenas Gehirn verweigerte sich der Stille, der Ruhe.

Alex richtete sich wieder auf und lehnte sich auf der Schaukel zurück. Langsam schaukelten die beiden vor und zurück, vor und zurück. Das Holz knarzte und übertönte so das Geräusch von Athenas geflüsterten Gedanken. Er musste sie nicht ansehen, um zu wissen, dass ihre murmelnden Lippen kaum mit den Ideen mithalten konnten, die ihr durch den Kopf schossen.

»Ich glaube nicht, dass Dante weiß, welche Rolle Vater bei seiner Programmierung gespielt hat«, sagte Athena. »Ich glaube, er weiß nicht mal, dass Vater überhaupt existiert.«

»Das wäre gut. Dann wird er uns auch nicht erwarten.«

»Was passiert nun?«

»Ich fahre nach Seattle«, erläuterte Alex. »Dort löse ich Dantes Programmierung aus, betäube ihn, nachdem er getan hat, was er tun soll, und bringe ihn hierher.«

»Wie willst du ihm denn nahe genug kommen, um ihn zu betäuben?« Athena sah ihn fragend an. Ihre blonden Locken fielen ihr ins Gesicht, und sie strich sie mit einer ungeduldigen Bewegung zurück.

»Ich schieße aus sicherer Entfernung auf ihn. Am besten in den Rücken.« Alex überlegte, was er über Dante gelesen hatte und spielte vor seinem inneren Auge noch einmal die Filmaufnahmen ab, die seine Zwillingsschwester so obsessiv betrachtet hatte: Dante umfasst Johanna Moores Gesicht. Seine Hände zittern und beginnen, in einem blauen Licht zu schimmern. Blaue Flammen steigen auf, und sein Haar schlängelt sich in die Luft. Energie knackt und knistert.

Gefährlich.

»Amen, Bruder«, flüsterte Athena. »Aber bald wird er ein Teil von uns sein. Wir überlassen ihm Vater, nachdem wir sein Gedächtnis wiedererweckt haben. Dann hat er etwas zum Spielen.«

»Können wir das? Sein Gedächtnis wiederbeleben?«

»Ich weiß nicht, aber es muss eine Möglichkeit geben …«

»Es sei denn, es wurde zu stark geschädigt«, fügte Alex hinzu.

»Grünes Wasser der Erinnerung«, sagte Athena mit einer dunklen, monotonen Stimme – ihrer Orakelstimme. »Er braucht das grüne Wasser.«

Alex’ Haut kribbelte, als seine Schwester den Blick nach innen richtete und nach der Quelle in ihr suchte. »Grünes Wasser? Für Dante? Was meinst du damit?«

»Grün und grün und grün.«

»Was siehst du?«

»Die alte Kuh ist fast so weit«, flüsterte sie.

»Siehst du das? Mutters Tod?«

Athena lachte. »Ja, eine Vision eines baldigen Ereignisses. Ich sehe ein Kissen auf ihrem Gesicht und meine Hände darauf. «

»Eine Überdosis wäre einfacher und würde weniger Verdacht erregen.«

»Ja, das würde aber auch weniger Spaß machen, Xander, und ich habe doch so wenig Spaß.«

Alex drückte die Hand seiner Zwillingsschwester und lauschte ihren kreisenden Gedanken: Ein Kissen auf ihrem Gesicht, mein Knie und mein Herz und meine Hände auf dem Kissen. Willkommen in der Hölle, blöde Kuh. Lass mich dein Wegweiser sein.

Nenn mich Hades.

Wahnsinn oder göttliche Kraft? Bestand dazwischen ein großer Unterschied?

Vater hatte Athenas und seine Gene manipuliert, als sie noch nicht geboren waren. Er hatte Götter als Kinder gewollt. Aber er glaubte, enttäuscht worden zu sein.

Doch er irrte. Er hatte seine Götter bekommen. Nur nicht solche, wie er sie geplant hatte. Dante war nicht der Einzige, der seine Geheimnisse hatte. Vater hatte zwar Athenas und seine telepathischen Fähigkeiten entwickelt, aber von ihren anderen Begabungen hatte er keine Ahnung.

»Ja, ja und nochmal ja«, flüsterte Athena. »Geheimnisse. Dreigestirn. Gemeinsam mit Dante bilden wir die perfekte Dreifaltigkeit – Eroberer, Berater und Schöpfer. Wir werden ein neues Zeitalter einläuten. Natürlich erst, nachdem wir die Schuldigen bestraft haben.«

»Natürlich«, stimmte Alex zu. »Ist das denn nicht die erste Regel im Handbuch für Dreigestirne und Göttlichkeit

Athena drückte seine Finger. Wie immer machte ihn ihre Berührung erst zu einem Ganzen und schloss einen Kreislauf, der ansonsten offen war. Sie schwiegen eine Weile, während sie gemächlich vor und zurück schaukelten.

In ihr jedoch herrschte nie Schweigen. Nie.

Wenn Vater nur seine medizinischen und technischen Fähigkeiten darauf verwendet hätte, Athena zu helfen, statt sie in den Abfluss zu kippen, den seine sterbende Frau darstellte. Wenn er nur Athena nicht als gescheitertes Projekt, sondern als Tochter betrachtet hätte.

Eine Tochter, die ihn gebraucht hätte. Früher. Jetzt nicht mehr.

Das Geräusch von Athenas Flüstern, das an den Wind in den Kiefern erinnerte, erstarb. Alex drückte zärtlich ihre Hand und ließ sie dann los. »Zeit für deine Medikamente«, sagte er und erhob sich.

Athena begann, wieder zu flüstern und stand ebenfalls auf. Ihr Blick war nach innen gerichtet, und sie war ganz in ihre Gedankenwelt versunken. Alex öffnete die Terrassentür und führte seine Schwester ins Haus. Gemeinsam kehrten sie ins Wohnzimmer zurück, wo sie sich automatisch mit übereinandergeschlagenen Beinen auf der Couch niederließ, ohne mit dem Flüstern aufzuhören.

Alex kniete sich neben den Couchtisch und nahm den kleinen Pappbecher, in dem sich Athenas Medizin befand – Psychopharmaka, Angstlöser, Beruhigungsmittel – und reichte ihn ihr. »Nimm sie in den Mund und schlucke.«

Athena führte den Becher an die Lippen und schüttete sich die Pillen in den offenen Mund. Alex gab ihr eine Flasche Wasser, und sie trank gehorsam. Dann griff er nach der Spritze mit ihrem Schlafmittel.

Er sah seine Schwester nachdenklich an, lauschte dem Orakel in ihrem Inneren und überlegte: Konnte er Athena unter Kontrolle halten, bis Dante hier eintraf? Würde sie noch einige Tage lang ruhig und ausgeglichen bleiben? Sie glitt immer tiefer in den Wahnsinn ab, und die Vorstellung, dass sie zu tief in den Abgrund stürzte, so dass er sie nie mehr finden würde, machte ihm große Angst.

Er schob ihren linken Ärmel hoch und tupfte die Stelle, wo er die Spritze setzen wollte, mit Alkohol ab. Angewidert rümpfte er die Nase, als er den scharfen Geruch wahrnahm.

»Kaltkaltkaltkaltkalt«, wisperte Athena.

»Tut mir leid, ich hätte dich warnen sollen.«

Noch ein paar Tage konnte er das tun, um sie ruhigzustellen. Er musste es tun – für sie beide. Er würde ihr außerdem mehr Material für ihre Versuche besorgen.

»Solange ich weg bin, musst du hierbleiben«, sagte er. »Geh nicht zum Haupthaus hinüber und vermeide es, Vater zu sehen. Ich nehme an, dass die Schattenabteilung nur ihn im Visier hat, aber Kollateralschäden sind nichts Ungewöhnliches, wie wir wissen.«

»Jajajajajajaja.«

»Wenn es dir wieder gutginge«, murmelte Alex heiser. »Wenn du zu deinem früheren Leben und allem, was du hinter dir lassen musstest, zurückkehren könntest, würdest du das tun?«

»Xander.«

Er sah auf und in Athenas Augen, die auf einmal klarer wirkten, als sie das für Jahre getan hatten. »Mir fehlt nichts«, erklärte sie zärtlich. »Ich sehe deutlicher als je zuvor. Ich brauche keine Heilung.«

Etwas in Alex’ Brust zog sich zusammen. Er nickte, stieß die Spritze in die reine Haut seiner Schwester und injizierte das Medikament.

»Ich werde dich nie verlassen. Versprochen«, wisperte Athena.

Alex beugte sich vor und strich mit den Lippen über ihre Stirn. Sie hatte ausgesprochen, wonach er sich gesehnt hatte. Doch statt sich darüber zu freuen, dass sich der Kreislauf, das Band ihrer zeitgleichen Geburt erneut geschlossen hatte – ein Band, das sie fünf Jahre zuvor zwischen ihnen geschlungen hatte –, empfand er in diesem Moment nur größte Verzweiflung.

Es war ein hohles Versprechen, das sie gab, denn es lag nicht in ihrer Macht, es zu halten.

Das Band zwischen ihnen war auf ewig zerrissen. Der Kreislauf konnte nie mehr geschlossen, nie zu einer Endlosschleife werden, wie er sich das so sehr gewünscht hatte – jedenfalls nicht, bis Dante ihre fehlgeschalteten Synapsen repariert und das tosende Gewitter in ihrem hyperaktiven Gehirn beruhigt hatte.

Athena neigte den Kopf zur Seite, als lausche sie all den Ideen und Gedanken, die ständig durch ihren unruhigen Geist schossen. Alex wusste, dass sie das auch tat. Sie löste ihre Gedanken von den seinen.

»Soll ich dir noch irgendetwas besorgen, wenn ich unterwegs bin?«

Auf ihren Wangen zeigten sich Grübchen, als sie lächelte. »Mein Xander«, sagte sie und lachte dann – ein Laut, den er viele Jahre nicht mehr bei ihr vernommen hatte. Es klang mädchenhaft, leicht und glücklich und löste in seinem Herzen ein wahres Feuerwerk aus.

»Was ist so lustig?«, fragte er und grinste.

»Könntest du mir das Handbuch für Dreigestirne und Göttlichkeit mitbringen?«

Alex schmunzelte. »Komm. Zieh deinen Schlafanzug an und dann ab ins Bett.«

Er nahm sie in die Arme und hob sie von der Couch hoch. Tiefe Traurigkeit erfüllte ihn, als sie ihre Arme um seinen Nacken schlang. Sie war so federleicht, seine Göttin der Weisheit, so lebendig in ihrer Visionskraft, so ungebunden an die Schwere der Erde. Er stellte sich vor, wie sie von ihm wegschwebte und immer höher in den Nachthimmel stieg, bis sie aus seinem Blickfeld verschwand.

Während er seine Schwester ins Bad trug, erfüllte ihr rauschendes Flüstern den Gang und die Korridore in seinem Herzen.