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DIE GRENZE BEGINNT ZU VERSCHWIMMEN

Seattle, Washington · 23./24. März

 

Von trug Dante in Heathers Schlafzimmer und legte ihn behutsam auf das Bett. Dante regte sich nicht. »Bist du sicher, dass es ihm gutgeht?«, fragte Heather und ließ Dantes Reisetasche, die schon einiges mitgemacht zu haben schien, neben das Bett auf den Boden fallen.

»Ja«, antwortete Von und strich Dante einige Strähnen aus dem Gesicht. »Ziemlich.«

»Ziemlich? Was soll das heißen?«

Der Nomad zuckte die Achseln, so dass seine Lederjacke knarzte. »Wir haben ihm Morphium in die Adern gepumpt, Püppchen. Ihm geht es so gut, wie es unter diesen Umständen möglich ist.«

Heather biss sich auf die Unterlippe, dann nickte sie. »Verstehe. «

Von bückte sich und begann, Dantes Stiefel aufzuschnüren.

»Ich mache das«, sagte Heather. »Du kümmerst dich um die Jungs. Im Schrank im Flur sind Decken und Handtücher. Die sollten eigentlich reichen, und ganz unten ist auch noch ein Schlafsack. Im Kühlschrank ist genügend zu essen. Bedient euch.«

Ein Lächeln huschte über die Lippen des Nomads, als er sich aufrichtete. »Danke, Püppchen.« Er ging auf die Tür zu und hielt dann inne. Während er sich mit einer Hand am Türrahmen abstützte, drehte er sich nochmal zu Heather um und sah sie an. »Was auch immer das bedeuten mag, du tust ihm gut«, sagte er.

Heather blickte überrascht auf.

Vons grünliche Augen sahen sie noch immer an. »Familie«, sagte er. »Es geht im Grunde nur darum, wer einen aufnimmt, wenn man eine unbekannte Straße entlangfährt, und wer für einen anhält, wenn man einen Platten hat und die Straße gefährlich wird … Familie.« Er hielt inne, klopfte zweimal mit den Fingerknöcheln gegen den Türrahmen, als ob er überlegte, ob er noch etwas hinzufügen sollte, doch dann ging er.

Heather wiederholte in Gedanken immer wieder Vons Worte, als sie sich an den Rand des Bettes setzte und begann, Dantes Stiefel aufzuschnüren. Sie zog ihm erst den einen und dann den anderen Stiefel aus und stellte sie nebeneinander auf den Boden. Dann blickte sie Dante an. Du tust ihm gut. Sie hoffte, dass das stimmte. Es fiel ihr inzwischen schwer, sich ein Leben ohne ihn vorzustellen, auch wenn sie noch immer nicht wusste, ob das gut oder schlecht war.

Vorsichtig zog sie ihm die Socken aus und steckte sie in seine Stiefel. Sie musste an die Musik denken, die sie während des Konzerts und in ihrer Küche so stark miteinander verbunden hatte – wild, dunkel und rastlos. Sie schien sie irgendwie zu verknüpfen und sie beide klarer zu definieren.

Heather rückte zum Kopfende des Bettes hoch und zog Dante das T-Shirt aus, gefolgt von dem langärmeligen Netzhemd. Flacher Bauch, athletischer Brustkorb, lange Muskeln. Seine fast durchsichtige Haut schimmerte im dämmrigen Licht der Lampe. Sein Duft nach verbranntem Laub und dunkler Erde machte sie ganz benommen.

Wann immer du willst, gehöre ich dir.

Jetzt.

Doch sie holte nur tief Luft, um ihren rasenden Puls zu beruhigen. Sie war eine erwachsene Frau und wollte ihn nicht für ihre Fantasien missbrauchen, während er unter Drogen stand und schlief. Der Gedanke an all die Leute, die in den Keller der Prejeans gekommen waren und ihn dort missbraucht hatten, reichte vollkommen, um wieder klar denken zu können.

Sie stand auf, nahm die Steppdecke, die am Fuß der Matratze zusammengefaltet war, und legte sie über Dantes schlafende Gestalt. Eerie sprang mit einem besorgten Miauen aufs Bett. Er tapste zu Dante und schnüffelte vorsichtig einige Augenblicke lang, ehe er sich neben ihn legte und zusammenrollte.

Heather lächelte. »Kleiner Beschützer. Du kümmerst dich für mich um ihn, ja?« Eerie hob seinen Kopf und blinzelte einen Moment lang, als gäbe er sein Einverständnis.

Sie schaltete die Lampe aus und verließ das Zimmer, um sich um ihre anderen Gäste zu kümmern. Eli hatte es sich auf der Couch bequem gemacht. Er hielt die Fernbedienung des Fernsehers in der Hand, und das flackernde Licht des Bildschirms spiegelte sich in seinen Augen.

Das gedämpfte Geräusch der Kühlschranktür ließ sie in Richtung Küche schauen. Jack schmierte gerade Mayonnaise auf mehrere Schichten Brot. Auf der Arbeitsplatte lagen ein Päckchen Käse, eine Tube Senf, Eisbergsalat, Tomatenscheiben, gekochter Schinken und gekochtes Putenfleisch – alle Zutaten für mehrere Sandwiches oder ein gewaltiges Riesen-Sandwich. Schlagzeug spielen machte offensichtlich großen Hunger.

Das Rauschen von Wasser zeigte ihr, dass Antoine duschte.

Ihr Magen knurrte. Erst jetzt merkte sie, wie hungrig sie war. Geradezu ausgehungert. Sie wollte gerade zu Jack in die Küche gehen, als ihr klarwurde, dass Von fehlte.

Sie drehte sich um und fragte Eli, ob er den Nomad gesehen hätte. Er nickte. »Draußen«, sagte er. »Kümmert sich um die Nachbarschaft.«

Nachbarschaft? »Danke.«

Draußen nieselte es wieder, die zarten Wassertropfen bedeckten bald ihr Gesicht und ihre Kleidung. In der Einfahrt stand nur ihr Trans Am.

Der Tourbus, sein Chauffeur, ein paar Roadies und das Equipment der Band befanden sich bereits wieder auf dem Weg zurück nach New Orleans, und zwar auf der Autobahn Richtung Südosten. Alle anderen hatten vor, am nächsten Abend nach Hause zurückzufliegen.

Heathers Schuhe knirschten auf dem Kiesweg, als sie ums Haus herumging. Eine bleiche Hand griff nach dem oberen Rand des Holzzauns, und Von sprang so leichtfüßig herüber, als ob er von einem Trampolin gestartet wäre. Er landete mit katzenartiger Anmut im Garten.

»Sieht alles gut aus«, sagte er und schlenderte zu ihr herüber. Seine Augen funkelten im Dunkeln. Regentropfen glitzerten wie Diamanten in seinem schwarzen Haar. »Ich glaube nicht, dass uns die Nachtgeschöpfe Seattles nochmal Probleme bereiten werden. Jedenfalls nicht hier. Wozu soll man sich auch prügeln, wenn der Kerl, auf den man wütend ist, gar nichts mitbekommt? Das macht doch gar keinen Spaß.«

»Schlägerei-Etikette … klingt nach einem Einführungskurs im College«, meinte Heather und grinste. »Aber im Moment mache ich mir mehr Sorgen um Sterbliche, die andere Pläne verfolgen.«

Von nickte. »Ja, daran habe ich auch schon gedacht – dieser Bad-Seed-Abschaum, von dem du erzählt hast, von diesem angeblichen Spin-Fotografen ganz zu schweigen. Hast du irgendwelche Autos bemerkt, die nicht hierhergehören? Irgendetwas Auffälliges?«

»Nein«, sagte Heather. »Aber das heißt nicht, dass sie uns nicht beobachten.«

»Besser zu paranoid, Püppchen, als nicht paranoid genug. Ich werde die Nachtwache übernehme«, sagte Von. »Jack sagte, er übernimmt bei Sonnenaufgang.«

»Weiß Jack, wie man eine Waffe benutzt?«

»Ja, er ist ein Bayou-Junge.«

»Hat er schon mal Wache geschoben?«

»Nein. Bisher war Lucien immer da, um diesen Part zu übernehmen. «

Heather schüttelte den Kopf. »Dann übernehme ich bei Tagesanbruch. Jack wird nach dem Konzert müde sein. Er kann später weitermachen.«

»Du hast noch Zeit, dich auszuruhen. Es ist erst zwei …«

»Annie ist noch nicht zu Hause, und …«

»Verstehe, Püppchen.«

»Also … was halten die Clans eigentlich davon, wenn einer von ihnen zum Vampir wird?«

»Es gilt als große Ehre, als etwas ganz Wichtiges«, erklärte Von. »Du hättest bei dem Fest dabei sein sollen, das mein Clan gab, als ich ausgewählt wurde, Vampir zu werden. Alle waren nächtelang betrunken.«

»Dann wolltest du das also? Gezeugt werden?«

»Ja, das kann man sagen.« Er sah Heather einen Augenblick lang an und strich sich mit Daumen und Zeigefinger über seine Schnurrbartenden. Anscheinend dachte er nach.

»Raus damit«, sagte Heather. »Was immer es ist. Ich werde es nicht verraten.«

Er hörte auf, über seinen Schnurrbart zu streichen. »Das weiß ich«, flüsterte er. »Ganz gleich, wer oder was Dante sein mag, ganz gleich, was er getan hat oder noch tun wird – sein Herz ist gut. Ich habe es nie bereut, mein Leben auf der Straße für ihn aufgegeben zu haben.«

»Hat Dante dich darum gebeten?«, fragte Heather.

»Nein, das war meine Entscheidung. Ich habe ihn gesehen und es gewusst.«

»Was gewusst?«

»Er ist die unendliche Straße.«

»Aber wohin?«, fragte Heather, ohne Vons ruhigem Blick auszuweichen.

»Unwichtig und mir egal. Ich werde bei ihm sein.«

»Ich bin froh, dass du das bist«, murmelte Heather und fügte dann hinzu: »Seit vierzig Jahren Nachtgeschöpf? Wie alt bist du eigentlich?«

»Was ist denn das für eine Frage, Frau? Wie alt. Einundsiebzig. Ich bin noch immer minderjährig, was die Nachtgeschöpfe betrifft.« Von gab ihr einen gutmütigen Stoß mit der Schulter. Eine überraschende Geste, die sie irgendwie an eine Katze erinnerte. Auf seinen Lippen zeigte sich ein keckes Grinsen. »Du bist ganz schön feucht.«

»Du auch.«

»Dann lass uns reingehen, ja?«

Lächelnd versetzte auch Heather ihm einen kleinen Stoß. »Gut, Mr. Minderjährig.«

Von lachte.

Drinnen war alles still. Eli schnarchte auf dem Sofa, während Jack fernsah, einen Teller mit Sandwiches auf seinem Schoß. Antoine hatte es sich im Fernsehsessel bequem gemacht und las mit einem belustigt-ungläubigen Blick in einem von Heathers Büchern über Vampire.

Heather schloss die Haustür ab und schob die Riegel vor, ehe sie ein Handtuch aus dem Bad holte und ins Schlafzimmer ging, um nach Dante zu sehen. Er hatte sich bewegt; er lag zusammengerollt auf der Seite, das Gesicht zur Tür gewandt, und Eerie hatte es sich in seiner Armbeuge bequem gemacht. Eerie öffnete schlaftrunken die Augen. Er maunzte leise und schloss sie dann wieder. Über alle Maßen zufrieden.

Heather hatte noch nie erlebt, dass Eerie sich so zu einem ihrer Gäste hingezogen gefühlt hatte. Diese Zuneigung bedeutete ihr viel, denn sie vertraute Eeries Urteil. Sie schlüpfte aus ihren Schuhen und zog ihre feuchten Klamotten aus. Nachdem sie sich mit dem Handtuch abgetrocknet hatte, zog sie ihren Schlafanzug und ihre Hausschuhe an.

Sie holte ihre Achtunddreißiger aus der Handtasche und kontrollierte, ob sie geladen und gesichert war. Dann ging sie mit der Pistole in der Hand ins Bad, um das Handtuch zum Trocknen aufzuhängen. Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, sah sie, dass Von gerade die Haustür wieder aufschloss und entriegelte.

»Was ist los?«, fragte sie.

Von öffnete die Tür. Annie kam herein, gefolgt von Silver. Beide waren nass und ziemlich mitgenommen – Annies Schminke war verschmiert und ihre Röcke in umgekehrter Reihenfolge als zuvor. Außerdem stank zumindest ihre Schwester nach Alkohol und Zigarettenrauch.

Heather war außerordentlich erleichtert, sie zu sehen. Sie merkte, wie sie sich entspannte. Sie öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder. Es hatte keinen Sinn, etwas zu Annie zu sagen, wenn sie sich in diesem Zustand befand. Außerdem war sie erst einmal froh, dass sie heil und sicher wieder nach Hause gekommen war.

»Hi«, sagte Silver. »Alles klar?«

»Sonnenklar«, sagte Von und schloss die Tür wieder ab.

»Wie geht es Dante?«

»Noch weggetreten.«

»Oh.«

Heather hörte etwas Trauriges und irgendwie Verlorenes in Silvers Stimme. Sie fragte sich, was das bedeutete, und musste an seine Nachdenklichkeit in New Orleans denken. Sehnte er sich vielleicht nach zu Hause?

»Ich bin wieder da«, verkündete Annie und hob das Kinn. »Komm«, sagte sie zu Silver und nahm seine Hand. Sie führte ihn ins Gästezimmer – momentan ihr Zimmer – und schlug die Tür hinter ihnen zu.

Heather sah Von an. Er grinste sie an. »Was?«

»Ein Schäfchen-Schlafanzug und eine Waffe«, sagte er. »Wie scharf ist das denn?«

»Nicht halb so scharf wie ein Nachtgeschöpf-Nomad, der meinen Teppich volltropft«, antwortete sie. »Los. Im Schrank draußen sind noch Handtücher.«

»Im Schrank.« Von schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Wäre ich nie draufgekommen.«

»Da Annie jetzt da ist, gehe ich ins Bett. Weck mich, bevor du schläfst, ja?«

Von nickte. »Mach ich, Herzblatt. Schlaf gut.«

In ihrem Schlafzimmer legte Heather die Achtunddreißiger auf den Nachttisch, zog die Hausschuhe aus und ließ die Tür einen Spalt weit offen, damit Eerie hinein und hinaus konnte. Dann schlüpfte sie unter das Federbett und schmiegte sich an Dante. Sie kuschelte sich von hinten an seinen heißen Körper und legte einen Arm über seine Taille. Als sie einschlief, umfing sie sein warmer Duft und begleitete sie sanft in ihre Träume.