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OFFENBARUNGEN

Seattle, Washington · 24. März

 

Heather blickte von der Schachtel auf, die sie gerade auf dem Esstisch zusammenpackte. Von warf die Decke, unter der er verborgen gewesen war, von sich und streckte sich gähnend. Sie bemerkte mit einer gewissen Belustigung, dass er, obwohl er sich für den Schlaf ein wenig ausgezogen hatte – jetzt trug er nur noch seine schwarze Jeans, Socken und ein weißes Unterhemd – , doch noch sein doppeltes Schulterholster umhatte.

Garantiert gehörte er zu den Kundschaftern, als er noch ein Sterblicher war, und hat für seinen Clan die Straßen kontrolliert, um nachzusehen, ob sie willkommen sind oder in Gefahr geraten könnten.

Von hob die Nase und schnupperte. Er sprang so schnell auf und befand sich neben dem Sofa, dass Heather kaum bemerkte, wie er sich aus dem Sessel erhoben hatte. Vons Augen richteten sich auf den schlafenden Lyons. »Wer ist denn dieses Dornröschen?«

»Senior Agent Alexander Lyons«, antwortete sie. »Ich habe ihn dabei erwischt, wie er das Haus beobachtete.«

»Wieder einmal zahlt sich Paranoia aus. Was machen wir jetzt mit ihm?«

»Gute Frage«, antwortete Heather und schloss die Schachtel. »Er weiß über Bad Seed und wer dahintersteckt Bescheid. Ich bin nicht sicher, für wen er arbeitet. Er behauptet, von niemandem geschickt worden zu sein. Aber das finde ich nicht sehr glaubhaft.«

»Verstehe, Püppchen.« Eine Pause, dann: »Bad Seed also?«

Der drohende Unterton in Vons Stimme ließ Heather aufschauen. Er beugte sich über Lyons, die Fäuste geballt, die Kiefermuskeln bebend. »Ist er einer der Arschlöcher, die Dante so zugesetzt haben?«

»Das glaube ich nicht«, antwortete Heather. Sie wischte sich die staubigen Hände an ihrer Jeans ab, kam um den Tisch herum und ins Wohnzimmer hinüber. Dort blieb sie neben Von stehen. »Aber er hat Informationen.«

Der Blick des Nomads richtete sich auf Lyons’ Hals. »Wirklich? Informationen, die wir zweifellos dringend brauchen. «

»Zweifellos«, entgegnete Heather. »Er will mit Dante allein reden.«

Von schnaubte. »Ganz sicher nicht.« Er richtete sich auf und ließ die Schultern kreisen, während er langsam ausatmete. Seine Hände entspannten sich.

»Der Typ hat auch behauptet, ein Team wolle Heather abholen«, meldete sich Jack zu Wort. »Aber er ist dazwischengegangen. Er will das Team beseitigt haben.«

Heather warf einen Blick über die Schulter. Der Drummer kam gerade aus der Küche herein. Er zog seine Pistole hinten aus seiner Jeans, während er das Zimmer durchquerte. Vor Von blieb er stehen und gab diesem die Waffe.

Von schob die Knarre in seinen Holster. Er blickte Heather an und zog eine Braue hoch. »Das ist schon das zweite Mal, Schatz. Ein drittes Mal lasse ich mir das nicht bieten.«

Jack begann, unverfänglich vor sich hin zu pfeifen und kehrte in die Küche zurück, wo Eli und Antoine gemeinsam für den Rückflug am Abend Sandwiches vorbereiteten.

»Was war das zweite Mal?«, wollte Heather wissen.

»Das zweite Mal, dass du mir nicht berichtet hast, dass auch du in Schwierigkeiten steckst.«

Heather blickte ihn an. Aus Vons grünlichen Augen war jegliche Belustigung verschwunden. »Ich … das war keine Absicht … ich habe mir Sorgen um Dante gemacht und …« Sie brach ab. Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, ihm von den Problemen zu berichten, mit denen sie sich konfrontiert sah. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass sie mehr verband als nur Dante. Doch nach der unfreundlichen, fast wütenden Miene des Nomads zu urteilen gab es da mehr. Sie spürte, dass sie grinsen musste.

»Tut mir leid«, sagte sie und meinte es auch so. »Wird nicht mehr vorkommen.«

Von nickte und wandte seinen Blick wieder dem Mann auf dem Sofa zu. »Er behauptet also, er hat die bösen Jungs ausgeschaltet. Glaubst du das, Püppchen? Sagt er die Wahrheit? «

»Ja.« Heather dachte an Lyons’ ruhigen Blick. »Das glaube ich.«

Von sah sich um. »Sieht aus, als packst du.«

»Tue ich auch. Aber nur die Sachen, die sich nicht ersetzen lassen. Alles andere – Einrichtungsgegenstände, Hausrat, Fernseher – lasse ich zurück.« Lyons’ Geschichte mochte wahr sein oder nicht – sie hatte sie jedenfalls davon überzeugt, dass sie mit ihrem Verdacht seit dem Treffen mit Rodriguez, Rutgers und ihrem Vater Recht gehabt hatte.

Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Du musst verschwinden.

Dank ihres Vaters war die Sanduhr gerade abgelaufen.

Vor ihrem inneren Auge sah sie James William Wallace im flackernden Neonlicht der Tiefgarage stehen. Ich will, dass wir wieder eine Familie sind, Heather. Wir alle.

Heathers Kiefer verkrampften sich. Wir waren nie eine Familie. Ihr Vater hatte sie belogen, aber von ihm hatte sie im Grunde auch nichts anderes erwartet. Doch die Erkenntnis, dass er dieselbe billige Lüge benutzt hatte, um aus Annie Informationen herauszubekommen, ließ Heather fast würgen. Sie würde ihm nie vergeben, dass er Annie benutzt hatte.

Heather hatte versucht, mit ihr über das zu sprechen, was Lyons gesagt hatte. Aber Annie, die endlich Heathers Bademantel trug, hatte sich geweigert, sie auch nur anzuschauen, und sich in ihr Zimmer zurückgezogen.

»Wir können später darüber reden, wie deine Pläne aussehen«, sagte Von.

Heather sah ihn an. Er wies mit dem Kopf auf Lyons. Der Halbmond, der unter dem Auge des Nomad eintätowiert war, schillerte wie Frost in einer Winternacht. »Was bist du eigentlich genau?«, wollte sie wissen.

»Was ist denn das für eine Frage?«

»In der Gesellschaft der Nachtgeschöpfe, meine ich. Llygad. «

Von strich sich mit Daumen und Zeigefinger über den Oberlippenbart. Seine Miene wirkte zerstreut. »Gut.« Er kehrte zum Fernsehsessel zurück, setzte sich und zog seine Stiefel an. Dann fasste er nach hinten, zog den Gummi aus seinem Pferdeschwanz und schüttelte sein Haar. Es fiel ihm in einem tiefen, schimmernden Braun über die Schultern.

Gerade als Heather annahm, er werde nichts weiter sagen, meinte er: »Wir sind die Bewahrer der Geschichte der Nachtgeschöpfe – die unabhängigen Augen der Wahrheit.«

Heather dachte einen Augenblick lang nach. Sie erinnerte sich, wie er regungslos neben Dante gestanden hatte, als Ronin diesen im Club Hell besucht hatte. »So etwas wie Zeugen?«

»Mehr oder weniger.« Von zog sein Haargummi über seine Hand. »Früher einmal – so erzählte man mir – nannte man uns Filidh. Das waren Kriegerbarden. Wir behüteten und erzogen, formten die Geschichte und die Wahrheit und machten daraus Epen. Aber selbst das beinhaltet nicht alles, was unsere Aufgabe ist.«

»Sind alle Llygads Nachtgeschöpfe oder können sie auch Sterbliche oder Gefallene sein?«

»Llygaid, Püppchen. Der Plural heißt Llygaid, und um den Job können sich nur Nachtgeschöpfe bewerben.« Vons Blick kehrte zur Couch zurück. »Da ist jemand wach und tut nur so, als würde er schlafen.«

Lyons öffnete zuerst ein Auge und dann das andere, als er Vons Bemerkung hörte. Er setzte sich auf und rieb sich das Gesicht. »Habe ich plötzlich anders geatmet, oder was hat mich verraten? Etwas an meinem Geruch?« Ein warmes, freundliches, offenes Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen.

Wahrscheinlich funktioniert das immer, dachte Heather. Wetten, dass dieses Lächeln sowohl schon Verbrecher als auch andere Agenten dazu veranlasst hat, nicht mehr so vorsichtig zu sein?

»Sag ich nicht.« Vons Stimme klang scharf und kalt wie ein Eiszapfen. Er erhob sich.

»Ich habe Nachforschungen angestellt, während Sie schliefen«, sagte Heather. »Ich habe festgestellt, dass Sie in Damascus leben und das Haus einer gewissen Gloria Lyons gehört.« Lyons’ Lächeln wurde kraftloser. »Ihrer Mutter.«

Lyons nickte, sein eindringlicher meergrüner Blick bohrte sich in den ihren.

»Aber über Ihren Vater habe ich nichts herausgefunden«, fuhr Heather fort und verlagerte ihr Gewicht auf eine Hüfte. »Was seltsam ist. Das wirklich Seltsame ist allerdings der Nachname Ihrer Zwillingsschwester: Athena Wells. Wollen Sie das vielleicht erklären?«

»Es ist kompliziert«, erwiderte Lyons.

»Was ist kompliziert?«, flüsterte Dante heiser. Er war plötzlich hinter Heather aufgetaucht.

 

Alex’ Mund wurde trocken. Die Hand des Nomads krallte sich in seine Schulter.

Dante stand unter der Tür, die in den Flur führte. Sein Oberkörper war nackt, er war barfuß und trug seinen Bondagereif und eine schwarze Lederhose, deren Gürtel er in den blassen Fingern hielt. Seine Augen funkelten in dem Zimmer, das in düsteres Abendlicht getaucht war. Er schüttelte sich das schwarz glänzende Haar aus dem Gesicht.

Ein roter Kater schmiegte sich an sein Bein. Dante ließ sich auf ein Knie nieder und kraulte dem schnurrenden Tier den Rücken.

Alex’ Herz hämmerte gegen seine Rippen, während er versuchte, dem Zaubernetz aus Anmut und Leidenschaft zu widerstehen, das der Blutgeborene ausgeworfen hatte.

Als Heather sich zu Dante umdrehte, blickte er auf, lächelte sie an – ein schiefes, vertrautes Lächeln – und ließ Alex aus seinen Fängen.

Dem Blick nach zu urteilen, den Heather und Dante gerade ausgetauscht hatten, waren die beiden ein Liebespaar. Er versuchte, sich auf diese Tatsache zu konzentrieren, sich zu überlegen, wie er das gegen Dante einsetzen könnte. Um ihn zu verletzen. Tief zu verletzen. Alex holte lange und tief Luft, während er seinen rasenden Puls dazu brachte, wieder langsamer zu schlagen.

Die Programmierung auslösen. Ihn zerbrechen. Ihn kontrollieren. Ihn benutzen.

»Noch ein Inferno-Fan mit Panzerklebeband?«, fragte Dante und wies mit dem Kopf auf ihn.

Heather blinzelte. »Noch einer?« Die Katze stieß mit dem Kopf gegen ihr Bein und wanderte in die Küche.

»Das ist eine andere Geschichte«, erwiderte Dante. »Also – wer sind Sie?«

Alex sah in Dantes geheimnisvolle Augen. Er zwang sich zu einem Lächeln. »Alexander Lyons«, sagte er. »Sie können mich Alex nennen.«

»Er ist der Agent, der mich zu dem Ort begleitet hat, wo meine Mutter getötet wurde«, warf Heather ein.

Dante erhob sich und trat mit zwei geschmeidigen Schritten zu ihr. Sein Blick richtete sich einen Augenblick lang nach innen, ehe er sich wieder auf Alex konzentrierte. »Von meint, Heather hätte Sie draußen erwischt, wie Sie das Haus beobachteten. Er meint, Sie wüssten über Bad Seed Bescheid.«

Fabelhaft, diese Telepathie. Ich glaube, ich werde meine fürs Erste für mich behalten. »Da hat er Recht«, antwortete er und legte die gefesselten Hände auf seine Knie. »Ich habe Informationen für Sie, aber ich möchte unter vier Augen mit Ihnen sprechen.«

»Nein. Was Sie zu sagen haben, können Sie mir auch vor Heather und Von mitteilen.«

»Na gut. Wie Sie wollen. Es ist ziemlich verzwickt«, fuhr Alex fort. »Mein Vater spielt dabei eine erhebliche Rolle.«

Dantes Miene wurde argwöhnisch. »Wer ist Ihr Vater?«

Heather schien plötzlich zu begreifen und war sogleich alarmiert. Sie fasste Dante am Arm und trat vor ihn, als könne sie ihn vor den Worten, die nun folgen würden, abschirmen. Als könne sie ihn vor der Wahrheit schützen – einer Wahrheit, die er brauchte.

»Dr. Robert Wells«, sagte Alex.

Dantes Gesichtsausdruck wurde nichtssagend. Dann schimmerte Schmerz in seinen Augen. »Sagen Sie das nochmal. Langsam. «

»Robert …«

»Nein!«, unterbrach Heather. »Halten Sie den Mund.« Sie wandte sich an Dante, die Hand immer noch auf seinem Arm. »Schau mich an«, befahl sie drängend.

Es störte Alex, wie sie von Alex zu Lyons gewechselt war. Verdammt, dachte er, ich würde sogar noch Sir bevorzugen – so kalt hatte sie seinen Nachnamen ausgesprochen.

Wenn sie jedoch Baptiste sagte, schwang eine Innigkeit und Vertrautheit mit, die etwas ganz anderes beinhaltete, als es ein Nachname vermuten ließ.

Dante richtete seinen Blick auf sie. »Genau wie zuvor, nicht? Der Name, den ich mir nicht merken kann.«

Nicht merken? Eine plötzliche Erkenntnis brannte wie Trockeneis Löcher durch seine bisherigen Hypothesen. Sein Vater hatte einen besonderen Schutz in Dantes Programmierung eingebaut, um zu verhindern, dass der Blutgeborene gegen ihn eingesetzt werden konnte.

Heather nickte. »Genau.« Sie drückte Dantes Arm und ließ ihn los. Als sie sich wieder zu Alex umdrehte, war ihr Gesichtsausdruck kalt. »Wiederholen Sie den Namen nicht mehr.«

Alex nickte eifrig. »Das wusste ich nicht«, erklärte er.

»Worum geht es eigentlich?«, fragte Dante ihn.

»Ich habe etwas, das Sie brauchen.«

»Mal was ganz Neues«, meinte Dante verächtlich. »Was soll ich denn Ihrer Meinung nach brauchen?«

Alex sah auf den iPod, der auf einem Kissen am anderen Ende des Sofas lag. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, die Programmierung des jungen Blutgeborenen auszulösen. Dafür waren zu viele Leute dabei, und es gab zu viele Möglichkeiten, was alles schieflaufen konnte. Er hätte eine etwas intimere Situation bevorzugt, um die Arbeit seines Vaters auf die Probe zu stellen – nur er, Dante und Heather.

Alex sah zu dem Nomad auf und sagte: »Könnten Sie ihm den USB-Stick geben, der da bei meinem Zeug liegt?«

Der Nomad – Von? – sah Dante an, und Dante nickte. Von nahm also das kleine Plastikteil und warf es ihm zu.

Dante fing den Stick und musterte ihn. »Was ist da drauf?«

»Ihre Vergangenheit«, antwortete Alex. »Ihre Mutter. Ihre Geburt. Alle Dinge, die Bad Seed von Ihnen aufgenommen hat, einschließlich Ihrer Begegnungen mit meinem Vater und Dr. Moore. Da ist alles drauf.«

Heather holte vernehmlich Luft.

Dante fixierte den USB-Stick. Sein Körper verkrampfte sich, und seine Muskeln spannten sich unter seiner weißen Haut an, als erwarte er einen Schlag oder wolle jeden Augenblick selbst einen austeilen. Vielleicht auch beides. Verschiedene Gefühle spiegelten sich so rasch in seinem Gesicht, dass Alex sie nicht ausmachen konnte.

Eines jedoch konnte er ausmachen, eine spannende Sache: Schmerz auf dem verdammten und wundervollen Gesicht des jungen Blutsaugers. Dante litt. So sehr ihm diese Erkenntnis auch Aufwind gab, so fragte er sich doch gleichzeitig, warum Dante litt. Schließlich sollte er sich eigentlich an nichts erinnern und nichts fühlen dürfen.

»Baptiste.« Heathers Stimme klang hell und stark. »Ich bin hier.«

Er riss sich von dem Anblick des Sticks los und sah auf. Heather legte ihre Hand über seine und verschränkte ihre Finger mit den seinen, so dass sie nun beide zusammen seine Vergangenheit festhielten.

»J’su ici«, sagte er.

»Wollen Sie sehen, was drauf ist?«

»Oui. Ja, das will ich. Aber nicht jetzt.«

»Ich habe es gesehen, und ich finde, du solltest es dir auf keinen Fall allein ansehen«, sagte Heather. »Wir werden es zusammen in Augenschein nehmen, wenn du willst.«

Dante drückte ihr den Stick in die Hand. »Ja, das will ich. Bewahre du es für mich auf, chérie. Wenn es an der Zeit ist, schauen wir es uns gemeinsam an.«

»Gemeinsam.« Heather streckte sich und gab ihm einen Kuss auf die Lippen.

Einen Augenblick lang verspürte Alex große Reue. Er wünschte sich, Heather aus dem heraushalten zu können, was kommen würde. Er wünschte sich, sie wäre stark genug gewesen, Dante zu widerstehen, als es dafür noch nicht zu spät war.

»Was ist der Preis dafür, Lyons?« Heather schob den USB-Stick in die Hosentasche.

»Es gibt keinen Preis«, antwortete Alex. »Ich hoffe, dass Sie meinen Vater für das, was er getan hat, zur Verantwortung ziehen, wenn Sie es angeschaut haben. Das ist alles.«

»Warum ist Ihnen das so wichtig?«

»Meine Schwester ist wegen der Dinge krank, die er uns noch vor unserer Geburt angetan hat. Aber ich habe gesehen, was Sie getan haben«, sagte Alex und beugte sich auf dem Sofa vor. Die Finger des Nomads krallten sich noch fester in seine Schulter. Heißer Schmerz schoss durch Alex’ Arm bis in den kleinen Finger. Er erstarrte, und der Druck ließ nach. »Ich weiß, Sie können ihr helfen.«

»Das ist also ›kein Preis‹«, flüsterte Heather.

Dante sah Alex in die Augen. Er blickte tief in ihn, so dass Alex sein Bewusstsein mit Bildern Athenas und ihres unendlichen Geflüsters, ihrer nach innen gerichteten Augen füllte, die durchaus der Wahrheit entsprachen.

Ich verliere sie, und sie ist alles, was ich habe.

»Wie kommen Sie auf die Idee, ich könnte Ihrer Schwester helfen?«

»Ich habe Aufzeichnungen gesehen, was Sie im Center mit Moore gemacht haben. Ich weiß auch, dass Sie Heather das Leben gerettet haben.« Er wies mit dem Kopf auf die Agentin. »Genau deshalb wird sie jetzt gejagt, und sie werden sie in ihre Einzelteile zerlegen, um herauszufinden, was genau Sie gemacht haben.«

Dante sah Heather an. »Stimmt das?«

»Das behauptet er – ja«, antwortete sie und warf Alex einen eisigen Blick zu, »und er behauptet auch, das Team getötet zu haben, das mich abholen sollte.« Ihre Augen wanderten zu Dante, ehe sie hinzufügte: »Wir sprechen später darüber. Einverstanden? «

Dante sah sie lange schweigend an. Dann nickte er. Er beugte sich vor, strich ihr das Haar hinters Ohr und wisperte ihr etwas zu. In ihrer Miene zeigte sich Besorgnis. Sie legte die Lippen an sein Ohr und flüsterte ihm ihrerseits etwas zu. Dann nahm sie den USB-Stick aus der Hosentasche und drückte ihn Dante in die Hand.

Nicht zum ersten Mal wünschte sich Alex, das scharfe Gehör eines Vampirs zu besitzen. »Ich habe Heather etwas Zeit verschafft«, sagte er. »Vielleicht zwei Tage, um unterzutauchen. «

»Danke«, meinte Dante und wandte sich ihm wieder zu, »und das mit Ihrer Schwester tut mir wirklich leid. Aber wir haben einander nichts weiter zu sagen.« Er warf ihm den Stick zu. »Wenn Sie Athena helfen wollten, sollten Sie sie so schnell wie möglich wegbringen – außer Reichweite Ihres Vaters. «

Automatisch fing Alex den Stick auf. »Das war ein Geschenk. «

»Nein. So läuft das nicht. Ich lasse mich nicht nötigen oder bestechen oder sonst was.«

»Ich würde Ihnen meinen Vater auf einem gottverdammten Silbertablett servieren. Das Einzige, was Sie tun müssen, ist, Athena zu heilen.«

Ein dunkles Lächeln umspielte Dantes Lippen. »Ich werde mir Ihren Alten schon noch holen. Darauf können Sie wetten. Aber dann, wenn ich so weit bin und so, wie ich das will.«

Von ließ Alex’ Schulter los. »Zeit zu gehen«, sagte er und fuhr mit einem Fingernagel durch das Panzerband, mit dem Alex noch gefesselt war.

Widerwillig stand Alex auf und ließ den USB-Stick auf die Couch fallen, während er seine Sachen einsammelte und wieder einsteckte. Er warf Heather einen Blick zu. »Kann ich meine Waffe wiederhaben?«

»Klar.« Heather ging zum Esstisch hinüber und nahm die S & W. Ohne zu zögern holte sie das Magazin heraus und leerte die Patronen in ihre Hand. Dann kehrte sie zur Couch zurück und gab Alex die leere Waffe.

»Sie wissen, wo es rausgeht«, sagte sie.

Mit einem trockenen Lächeln nahm Alex die Pistole entgegen, schob sie hinten in seine Jeans und zog dann seine Kapuzenjacke darüber. Zeit, etwas zu riskieren und ein paar Zweifel zu säen.

Er blieb vor Dante stehen. »Genevieve bat darum, Sie halten zu dürfen, nachdem Sie auf der Welt waren. Man hat es ihr untersagt. Jede Minute, die Sie meinen Vater am Leben lassen, wird ihr Gerechtigkeit versagt.«

Dante bewegte sich. Seine Hand schloss sich um Alex’ Oberarm, und im Bruchteil einer Sekunde später flog Alex durchs Zimmer. Der Vampir riss ihn mit nach draußen – Stimmen verschwimmen, ein scharfes Keuchen, Heather. Das Knirschen einer Wand, der Türknauf, der gegen die Mauer schlägt – und knallte ihn gegen einen Geländewagen, der vor dem Haus parkte.

Alex schlug hart auf. Ein unangenehmer Schmerz schoss von seiner rechten Schulter durch seine Brust. Einen Augenblick lang konnte er kaum atmen. Zorn funkelte in Dantes schönen Augen, die jetzt rot unterlaufen waren.

»Habe ich nicht gesagt, ich will selbst entscheiden, wann ich mir Ihren Vater vorknöpfe?«

Der Blutgeborene starrte auf Alex’ Hals, und einen kurzen, schrecklichen Moment lang war sich Alex sicher, dass er Dantes Reaktionen nicht nur völlig falsch eingeschätzt, sondern dass dieser jetzt auch vorhatte, ihm die Haut aufzureißen und sich an ihm zu laben. Stattdessen ballte Dante jedoch die Fäuste und blickte Alex wieder ins Gesicht. »Lassen Sie mich in Ruhe, und lassen Sie verdammt nochmal auch Heather in Ruhe.« Seine weiße Haut schien das Mondlicht, das die Nacht erhellte, in sich aufzusaugen.

»Soweit ich das beurteilen kann«, sagte Alex, richtete sich auf und rieb sich die schmerzende Schulter, »sind Sie es, der Heather in Ruhe lassen sollte. Wie lange glauben Sie wohl, dass sie es an Ihrer Seite aushalten wird? Man jagt sie Ihretwegen. «

»Sie sind ein Riesenarschloch, und das geht Sie gar nichts an.« Trotzdem zeigte sich in Dantes Gesicht einen Augenblick lang Bedenken. Sein Blick wanderte nach innen, als lausche er jemandem. »Psst«, wisperte er. Es schien, als wolle er diesen Jemand beruhigen. Seine Finger fuhren zu seiner Schläfe.

Alex lief es eiskalt über den Rücken. Wie stabil war Dantes Geist eigentlich genau? Wie sicher war die Programmierung seines Vaters? So weit Alex das beurteilen konnte, schien Dante auf den Wahnsinn zuzutreiben.

Alex fühlte auf einmal große Aufregung. Adrenalin schoss durch seine Adern, vertrieb die Kälte und gab ihm neue Kraft. Der Blutgeborene sah aus, als sei er reif für die Eroberung.

Jetzt brauchte Alex nur noch den richtigen Augenblick abzuwarten.

Über Dantes Schulter sah Alex, dass Heather vor der Haustür stand. Ihr Gesichtsausdruck wirkte besorgt. Der Nomad hatte ihr eine Hand auf den Arm gelegt, ließ aber Dante nicht aus den Augen.

»Ich kann Ihnen helfen, sich an meinen Paps zu erinnern. Ich kann Ihnen helfen, seine Sicherheitsvorkehrungen und die Programmierung zu überwinden. Ich kann ihn Ihnen ausliefern. «

»Verpissen Sie sich. Ich spiele nicht mit. Va jouer dans ta cour a toi.« Dante trat einige Schritte zurück, drehte sich um und joggte wieder zum Haus.

Gemeinsam gingen Heather, Von und der Blutgeborene hinein. Mit einem lauten Knall fiel die Tür ins Schloss. Aus den Wohnzimmerfenstern fiel Licht, als jemand die Lampe einschaltete.

Alex sprintete den Block entlang bis zu seinem Pick-up und stieg ein. Er ließ den Motor an, der mit einem tiefen, satten Dröhnen ansprang. Eine Weile ließ er ihn im Leerlauf. Zugegebenermaßen hatte ihn Dante ziemlich aus dem Konzept gebracht, als er ihm den USB-Stick wiedergegeben hatte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Wut und Starrköpfigkeit des Vampirs stärker als sein Wissensdrang sein würden, stärker als sein Hunger nach der Wahrheit.

Alex trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad. Die Interaktion zwischen Dante und Heather faszinierte ihn. Es schien, als verankere ihre Gegenwart Dante im Hier und Jetzt. Doch was ihren Gesichtsausdruck von gerade eben betraf, so verstörte ihn seine Heftigkeit trotz dieser intimen Beziehung.

Alex schaltete die Scheibenwischer ein. Während diese über die Windschutzscheibe fuhren und die letzten Tropfen eines früheren Regenschauers beseitigten, bemerkte er eine Bewegung an einem der dunklen Schlafzimmerfenster.

Etwas fiel aus dem Fenster ins Gebüsch darunter. Dann kletterte eine Gestalt heraus und sprang zu Boden. Der schmale Schatten blickte sich um, holte die Tasche aus dem Gebüsch und warf sie sich über die Schulter. Kurz darauf joggte die Gestalt die Straße hinunter und bog nach links ab.

Alex machte die Scheibenwischer aus und die Scheinwerfer an. Er legte den ersten Gang ein und fuhr die Straße hinunter, um der Schattengestalt zu folgen. Er war sich ziemlich sicher, dass es sich um eine Frau handelte, und plötzlich war er einfach so da, der richtige Augenblick.

Amen, Bruder, Amen.

 

Annie warf sich ihre Sporttasche über die Schulter und schlenderte am Straßenrand entlang, den Daumen ausgestreckt. Grelle Scheinwerfer und blinkende Neonschilder von trendigen Cafés, Läden und einer Tankstelle stachen ihr in die Augen, wodurch der pochende Schmerz über ihrem rechten Auge noch stärker wurde. Eine drohende Migräne. Hervorragend.

Sie tastete erneut die Tasche ihres Kapuzenpullis ab, falls sie in der Nacht zuvor eine der Pillen übersehen hatte. Doch leider war dem nicht so. Sie hatte nicht einmal etwas zu rauchen. Ihre Muskeln spannten sich noch mehr an. Sie brauchte dringend etwas, um die Schmerzen zu verdrängen und den Kopf freizubekommen. Sie brauchte etwas, um die düsteren Gedanken zu vertreiben, die durch ihr Bewusstsein schossen.

Ihr Dad hat ein Mitglied der Schattenabteilung kontaktiert … deshalb hat die Schattenabteilung beschlossen, Sie für Tests abzuholen, um herauszufinden, was er mit Ihnen gemacht hat und wie.

Heather musste kapiert haben, dass Annie Dad ihr Geheimnis verraten hatte. Höchstwahrscheinlich hasste Heather sie jetzt. Endlich, nicht wahr? Jetzt ist die letzte Verbindung gefallen. Es gab keinen Grund für sie, noch länger zu bleiben. Das Einzige, was sie je dargestellt hatte, war ein flüchtiger Schatten gewesen, den Heather notgedrungen bei sich behalten hatte.

Mit Silver war das etwas anderes gewesen. Er hatte sowohl im Bett als auch außerhalb viel Spaß gemacht und im Gegensatz zu den sterblichen Jungs nie schlappgemacht. Obwohl er bereits sechsundzwanzig war, hatte er sich mit fünfzehn in einen Vampir verwandelt, weshalb der Sex mit ihm ihr das Gefühl gegeben hatte, auf herrliche Weise ein bisschen pervers zu sein. Silver hatte ihr auch ein Gefühl der Leichtigkeit vermittelt, wie ein Blatt, das in den Himmel flog.

Silver nimmt ihre Hand. Er legt seinen Arm um ihre Taille, und dann bewegt er sich. Annie verschlägt es fast den Atem, als sie durch die Menge auf dem Bürgersteig rasen und alles an ihr vorbeizieht – Farben und Licht und Geräusche.

Annie fliegt.

Sie hat das Gefühl, als sei Silver ihre Stützräder, während sie durch den Himmel segelt, knapp über dem Boden. Ihre Hand liegt in der seinen, sein Arm umfasst ihre Körpermitte. Sie glaubt, dass sich ihre Füße nur wenige Zentimeter über dem Boden befinden, aber trotzdem gleitet und schwebt sie in seinen Armen und will nie mehr damit aufhören.

Doch als sie Silver bat, sie ebenfalls zu einem Nachtgeschöpf zu machen, weigerte er sich. Er erklärte ihr, er arbeite hart daran, Dantes Vertrauen wiederzuerlangen, nachdem er es schon einmal verloren hatte, weshalb es wahrscheinlich nicht die beste Idee der Welt wäre, sie jetzt in einen Vampir zu verwandeln.

Silvers geistesabwesendes Gesicht und seine angespannten Muskeln hatten Annie ebenso viel mitgeteilt wie seine wehmütig klingende Stimme. Er liebte Dante und sehnte sich nach ihm. Sie wusste, dass sie ihn nicht dazu überreden konnte, ihr den Wunsch zu erfüllen. Jedenfalls nicht in der Zeit, die noch blieb, ehe die Band zum Flughafen aufbrach.

Annie hatte also beschlossen zu verschwinden, wenn sie schon nicht fliegen oder zur Vampirin werden konnte. Sie wollte sich blindlings besaufen. Jetzt brauchte sie nur noch ein Bier oder zwölf.

Heather würde sich außerdem wahnsinnig ärgern, wenn sie feststellte, dass ihre Schwester vor ihrer Flucht noch ein paar Dinge aus Dantes Tasche hatte mitgehen lassen.

Annie lachte. Ihr Lachen klang genauso fragil, wie sie sich fühlte. Wenn sie jetzt stolperte und auf den Bürgersteig knallte, würde sie dann in tausend Stücke zerbrechen? Wie der gute alte Humpty-Dumpty? Sie holte tief Luft, was sie sogleich wieder bedauerte, denn der aromatische Duft nach Curry und Würstchen brachte ihren empfindlichen Magen dazu, sich zu verkrampfen.

Reifen rollten zischend auf der nassen Straße vorbei. Scheinwerfer tauchten die feuchte Oberfläche in ein Band aus blauweißem Licht. Zwei Scheinwerfer, die so grell wie eine Supernova schienen, blendeten sie. Sie hob die Hand, um ihre Augen zu schützen. Das Auto – ein großer, rumpelnder Pick-up – hielt neben ihr. Sie ging zur Beifahrertür, die sich sogleich öffnete.

Der charmante junge Mann mit den blonden Locken, den Heather in ihrem Wohnzimmer befragt hatte, lehnte sich zu ihr herüber. Ein warmes Lächeln lag auf seinen Lippen. »Kann ich dich irgendwohin mitnehmen?«, fragte er. Da eine winzige Stimme in ihrem Inneren laut »Nein« rief, stieg Annie ein und schlug mit pochendem Herzen die Tür zu.