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DRAHTSEIL

Damascus, Oregon · 23. März

 

Caterina knackte das Schloss und öffnete dann vorsichtig die Hintertür. Sie glitt hinein und drückte sich an die Wand. Sie sah sich in dem Raum um, einer Küche – Kühlschrank, Schneidbrett, Backofen auf Augenhöhe, Herd. Es herrschte fast völlige Stille; nur der Kühlschrank surrte leise vor sich hin. Es roch nach Chili, Paprika und Gurken.

Sie schlich über den gefliesten Boden zur Tür. Dort befand sich ein Gang in beide Richtungen. Rechts drang Licht unter einer geschlossenen Tür hindurch. Links fiel Licht aus einem Zimmer.

Caterina hielt inne und umfasste ihre Glock fester. Der Kühlschrank schaltete sich ab, und die unerwartete Stille erschreckte sie wie ein plötzlicher elektrischer Schlag.

Sie berührte den Knopf in ihrem Ohr.

»Hier«, sagte Beck.

»Aufpassen«, wisperte sie.

Sie bezweifelte keine Sekunde, dass Athena Wells gewusst hatte, dass sie und Beck das Haus beobachteten. Es bestand auch kein Zweifel daran, dass sie die Alarmanlage ausgeschaltet hatte.

Es war Zeit herauszufinden, warum.

Caterina ließ die Schultern kreisen, um sie zu lockern und trat in den Gang hinaus, um zu lauschen. Links vernahm sie ein schwaches Geflüster, das wie das Rascheln von Blättern klang. Eine Frauenstimme. Ein leises Stöhnen, tief und männlich, unterbrach das Geflüster immer wieder.

Caterina ging an der Wand entlang bis zu dem erleuchteten Zimmer am Ende des Gangs. Je näher sie kam, desto besser konnte sie das regelmäßige Piepsen eines medizinischen Geräts hören. Es musste sich um Gloria Wells’ Zimmer handeln. Jetzt konnte sie die Worte ausmachen, die immer und immer wieder geflüstert wurden: SiebalanciertaufeinemDrahtseilsiebalanciertaufeinemDrahtseilsiebalanciertaufeinemDrahtseilsiebalanciertaufeinemDrahtseil …

Plötzlich brach das Geflüster ab, und Angst klopfte mit eisiger Faust gegen Caterinas Brust. Drahtseil? Sie holte tief Luft, sammelte sich und schob ihre Angst beiseite. Sie sprang ins Zimmer, duckte sich und suchte mit der gezückten Glock das Zimmer ab.

Innerhalb einer Millisekunde hatte sie einen Überblick gewonnen: zwei Betten an gegenüberliegenden Wänden, nur eines davon benutzt, dazwischen medizinische Apparate; ein Stuhl; ein Mann auf dem Boden; eine hellblonde Frau in Cordhose und blutbeflecktem Arztkittel am Fußende eines Bettes, einen Speer wie einen Spazierstock in einer Hand, einen Elektroschocker in der anderen.

Caterina richtete ihre Waffe auf die Frau und straffte sich. »Athena Wells?«

Sie schüttelte ihre hellen Locken und antwortete: »Früher einmal. Jetzt bin ich Hades.«

Im Bett lag eine kleine, abgezehrt wirkende ältere Frau, die Caterina beobachtete. Ihren Augen nach stand sie zwar unter starken Medikamenten, schien aber klar denken zu können. In ihrem Handrücken, der voller blauer Flecken war, steckte ein Port. »Helfen Sie mir«, wisperte Gloria Wells. »Meine Tochter ist wahnsinnig.«

Untertreibung, dachte Caterina.

Sie richtete ihre Pistole auf den Mann auf dem Boden. Aus Dr. Robert Wells’ Brust ragten die Elektroden eines Elektroschockers. Sein Kopf war zur Seite gerollt, und das Weiß seiner Augen schimmerte furchterregend in den Raum. Er stöhnte. Der Gestank von Urin und verbranntem Fleisch hing in der Luft. Caterina fragte sich, wie oft Athena Wells ihrem Vater wohl einen Elektroschock verpasst hatte.

»Sie ist hier, um euch umzubringen«, erläuterte Athena ihrem Vater. »Aber das werde ich nicht zulassen.«

Athena irrte sich, aber Caterina hatte nicht vor, sie zu korrigieren.

Caterinas Finger krümmte sich um den Abzug. Aber statt zu schießen, hörte sie sich fragen: »Woher wussten Sie, dass wir hier sind?«

»Ich wusste, dass die Seiltänzerin hier ist.«

Athenas Worte hingen deutlich in der Luft. Caterinas Haut prickelte. Sie hielt den Finger am Abzug und nickte in Wells’ Richtung. »Wieso?«

»Ich wärme ihn schon mal für Dante vor.«

»Das müssen Sie erläutern.«

»Xander ist nach Seattle, um Dante heimzuholen. Wir werden ihm Vater überlassen.«

Renatas zornige Worte kamen Caterina in den Sinn – Den tötest du langsam, ganz langsam.

Wells hatte ein unschuldiges Kind erbarmungslos gequält und gemartert, ein blutgeborenes Kind, und außerdem dessen Mutter ermordet. Wenn jemand die Chance verdiente, diesen Mann zu töten, dann war es Dante. Wenn sie ihm diese Möglichkeit einräumte, würde sie möglicherweise sein Vertrauen gewinnen. Dann konnte sie ihn nach Rom zu ihrer Mutter bringen. Caterinas Herz raste.

Sie richtete den Blick wieder auf Athena. »Wann ist Ihr Bruder zurück?«

Athenas meergrüne Augen schienen im Licht fast durchsichtig. »Sobald er Dante hat.«

»Bitte helfen Sie mir«, flüsterte Gloria Wells noch einmal, und ihre Worte kamen abgehackt aus dem trockenen Hals. »Mein Mann …«

»Ist ein Monster«, beendete Caterina den Satz und senkte die Glock. Aber eventuell war ja auch die Frau des Monsters ein Opfer. Sie trat ans Bett und gab Gloria ein Glas Wasser, das auf dem Nachttisch stand. In Glorias Augen zeigte sich Dank. Sie schob den Strohhalm zwischen ihre Lippen und trank.

Wenn Lyons nicht mit Dante Baptiste zurückkam, konnte Caterina Wells immer noch töten und diesen Teil ihres Auftrags erfüllen. Sie trat hinter den Mann, beugte sich vor und packte ihn unter den Achseln. Dann warf sie Athena einen Blick zu. »Packen Sie ihn an den Füßen. Wir legen ihn aufs Bett.«

Wortlos lehnte Athena ihren Speer gegen das Bett ihrer Mutter und stand auf. Sie huschte zu einem Schrank hinüber, wobei ihre nackten, schmutzigen Füße auf dem Teppich keine Geräusche machten. Sie öffnete die Tür und wühlte eine Weile im Inneren des Schrankes herum. Schließlich drehte sie sich um. Ein mädchenhaftes Lächeln lag auf ihren Lippen. Sie hielt einige Lederfesseln hoch.

»Mit denen hat er mich immer angebunden, als ich noch seine Tochter war.«

»Dann werden wir die jetzt auch benutzen«, antwortete Caterina.

Athena legte sich die Fesseln über die Schulter, ging in die Hocke und packte ihren Vater an den Knöcheln. Gemeinsam schafften es die beiden, Wells’ schlaffen Körper hochzuhieven und auf das zweite Bett zu legen. Einige Augenblicke später war er an Knöcheln und Handgelenken festgezurrt. Caterina wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Wissen Sie, ob Ihr Vater vor etwa einer Woche eine Sendung aus Nevada erhielt?«

Athena warf einen mürrischen Blick auf ihren Vater und lächelte dann. »Ja«, sagte sie und ging in den Gang hinaus.

Caterina folgte ihr und dem erneut einsetzenden Geflüster den Flur entlang zu der Tür, unter der der Lichtstreifen zu sehen war. Dahinter lag ein edel ausgestattetes Arbeitszimmer, das mit Lanzen, Schilden und Rüstungen dekoriert war – vermutlich aus dem antiken Griechenland, wenn man Wells’ Interesse an allem Griechischen bedachte.

Athena führte sie zum Schreibtisch. Sie beugte sich über den Computer und drückte zwei Tasten, um eine Datei zu öffnen. Dann trat sie einen Schritt zurück. »Hier.«

Caterina stellte sich hinter den Schreibtisch und warf einen Blick auf den Bildschirm. Dunkle Flügel ragten hinter dem Rücken eines Mannes auf – eines Mannes? Nein, eines Gefallenen – , der Dante in den Armen hielt.

»Erinnern Sie sich an Genevieve Baptiste? Die Mutter meines Sohnes?«, fragte der gefallene Engel.

Mit weichen Knien ließ sich Caterina auf den Stuhl sinken. Ihr Herz pochte heftig in ihrer Brust, und tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf.

Endlich wusste sie, was mit Johanna Moore geschehen und warum Jon Bronlee freiwillig vor einen Lastwagen gelaufen war.