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WAS EWIG LIEGT

Seattle, Washington · 23. März

 

Shannon schwankt am Rand des Highways entlang, den Daumen ausgestreckt, und späht ins Dunkel. Sie muss wirklich heim. Sie hatte nur einen kurzen Zwischenstopp gemacht, um etwas zu trinken, während sie ein paar Dinge erledigte. Die Kinder waren beim Fußballtraining, beim Gitarrenunterricht oder bei den Pfandfindern, und sie hatte einige Augenblicke für sich selbst.

Einige Augenblicke, um sich auf all die unglaublichen Ideen und Gedanken und Pläne zu konzentrieren, die ihr wie fleißige Bienen durch den Kopf summen und sie nicht schlafen lassen. Nachts scheint ein Licht die Dunkelheit hinter ihren Augen zu erleuchten, ihr Bewusstsein zu erhellen und mit diesen dummen fleißigen Bienen gemeinsame Sache zu machen.

Nur ein paar Augenblicke, um diese Nervensägen auszublenden und das Licht in ihrem Kopf zu dimmen.

Das Nächste, was sie weiß, ist, dass es dunkel um sie ist und der Mond hoch am Himmel steht. Ihre neuen Bekannten versuchen, sie dazu zu überreden, noch zu bleiben, und einen Moment lang zieht sie es sogar in Betracht. Doch dann erinnert sie sich daran, wie Jimmy gedroht hat: Ich werde dir die Kinder wegnehmen, ich schwöre es, Shannon! Du musst dich zusammenreißen. Du musst wieder auf Entzug.

Also reißt sie sich von ihren sie beschwörenden Freunden los – Komm schon! Nur noch einen! – und flieht in die kühle Oktobernacht. Das Auto springt nicht an, und sie kann ihr Mobiltelefon nicht finden. Scheiße. Sie lässt den Wagen stehen und beschließt zu trampen. Wird Jim höchstwahrscheinlich ärgern, und er wird wieder einmal die Verbrechensstatistiken aufzählen, bis sie das Geräusch seiner Stimme ausblendet und anfängt, leise vor sich hinzusummen.

Manchmal wünscht sie sich, er hätte nie bei diesem verdammten FBI angefangen. Mit dieser Art Liebe, mit dieser Art Hingabe kann sie nicht mithalten. Er ist wie ein Priester, und die Pathologie war seine Erstkommunion beim geheiligten FBI.

Oktober, und die Luft ist eisig und klar. Doch ihr ist nicht kalt, sie brennt, lebt, fliegt. Bald ist Heathers Geburtstag. Dann wird sie zwölf. Zwölf, aber irgendwie auch schon vierzig. Sie sieht zu viel und vielleicht doch nicht genug.

Habe ich sie verloren?

Shannon stolpert, ihr Absatz verfängt sich am unebenen Asphaltrand der Straße. Sie kichert. Gut, dass sie nicht fährt. Immerhin etwas Gutes an der Sache. Sie leckt sich eine Fingerspitze ab und zeichnet damit einen unsichtbaren Strich in die Luft. Dann zieht sie den Schuh aus und betrachtet den Absatz.

Scheinwerfer durchdringen die Nacht. Sie streckt den Schuh statt des Daumens raus und balanciert dabei lächelnd ihr Gewicht auf einem Bein. Die Scheinwerfer blenden sie, zwei helle Kreise füllen ihr Sichtfeld.

Der Wagen hält am Straßenrand, die Reifen knirschen auf dem Kies des Seitenstreifens. Der Auspuff strömt eine Abgaswolke aus, und der benebelnde Gestank von Benzin liegt in der kalten Luft.

Geblendet schwankt sie, als sie versucht, den Schuh wieder anzuziehen. Ein paar Schritte springt sie rückwärts, ehe sie auf ihren Hintern plumpst. Sie wirft den Kopf zurück und lacht schallend. Gut, dass sie sich keinem Alkoholtest unterziehen muss. Noch ein Gutes, was die Sache hat. Sie malt einen weiteren unsichtbaren Strich in die Luft. Dann zieht sie den anderen Schuh aus und steht auf, wobei sie nur wenig schwankt. Sie klopft sich den Schmutz vom Hintern, als der Fahrer die Autotür öffnet.

Ein Mann steigt aus. Der Motor läuft noch. Etwas schimmert matt in seiner Hand.

»Brauchst du Hilfe, Shannon?«, fragt er.

 

Heather erwachte mit dem schnurrenden Leerlaufgeräusch eines gut gepflegten Motors in den Ohren. Ihr Herz raste. Licht drang durch die Lücken des heruntergelassenen Rollladens in den Raum. Sie rollte sich auf die Seite, öffnete die Schublade ihres Nachtkästchens und holte einen Schreibblock und einen Stift heraus. Sie schrieb alle Einzelheiten auf, an die sich erinnern konnte: der nicht anspringende Wagen; das verlorene Handy; die kalte, klare Luft; der Geruch der Kiefern und der regenfeuchte Boden; der Mann, der den Namen ihrer Mutter nannte.

Shannon und ihr Mörder kannten sich.

Heather hielt inne. Moment mal. Das war ein Traum – nur ein Traum. Kein Blick ins Gehirn einer Frau, die seit zwanzig Jahren tot war. Nur ein Traum, den sie seit Jahren immer wieder hatte, kein Gespräch mit dem Opfer.

Seufzend warf Heather Block und Bleistift auf den Nachttisch und setzte sich auf. Sie schlang die Arme um ihre Knie, die noch unter der Decke steckten. Eerie lag auf dem Rücken am Fußende des Bettes, den Bauch zum Streicheln bereit. Er musterte sie durch schmale, zufrieden wirkende Augen.

»Guten Morgen«, sagte sie.

Vielleicht nur ein Traum, aber einer, der sich weigerte zu verschwinden. Sie glaubte, noch immer das Knarzen der Autotür zu hören, als diese sich öffnete, und Shannons betrunkenes Kichern. Sie roch den Zigarettenrauch aus der Kneipe. Nur ein Traum, aber einer, der sie tief ins Bewusstsein ihrer Mutter geführt hatte – ein Traum, der mehr Einzelheiten gehabt hatte als je zuvor.

Seit Washington.

Seufzend sah sie auf die Uhr. Die rot leuchtenden Ziffern weckten sie endgültig. 11 Uhr 45. Scheiße! Sie sprang aus dem Bett, riss ihren Morgenmantel vom Stuhl, zog ihn über den Pyjama und band den Gürtel zu.

Seit man auf sie geschossen hatte, schlief sie immer länger. Hatte der Schock, den ihr ganzes System erlitten hatte, ihren Biorhythmus verändert? Sie war noch nie eine Frühaufsteherin gewesen, hatte aber mit den Jahren gelernt, damit zurechtzukommen – wie die meisten Leute, die tagsüber arbeiteten. Hatte Dante, als er sie geheilt hatte, etwas in ihr verändert? Der Gedanke ließ sie innehalten.

Mantra: eins nach dem anderen.

Heather holte tief Luft und schob den beängstigenden Gedanken beiseite. Sie wusste, dass sie sich später genauer damit auseinandersetzen musste. Sie trat auf den Gang und roch frisch gekochten Kaffee. Ein angenehmer Geruch.

Sie blieb im Flur stehen und fuhr sich mehrfach mit den Fingern durchs Haar, ehe ihr klarwurde, dass sie versuchte, Kraft zu sammeln – für Annie.

Doch statt weiterzugehen, schloss sie die Augen. Unsicherheit und Verzweiflung nagelten sie auf den Boden. Konnte sie Annie helfen? Allmählich blieben ihr nicht mehr viele Möglichkeiten, und die Hoffnung begann sie auch zu verlieren. Natürlich würde ihr die Wahrheit über die Mutter eventuell auch einen Einblick in Annie geben. Aber reichte das, um sie zu retten?

Shannons selbstquälerischer Gedanke hallte in ihr wider: Habe ich sie verloren?

Heather öffnete die Augen. Nein. Ich kann nicht. Ich will nicht. Sie schob ihre Zweifel beiseite und betrat das Esszimmer. Annie saß im Schneidersitz auf dem Boden vor der Couch und blätterte eines von Heathers Büchern über Vampire durch, das den Titel Während wir schlafen trug. Auf dem Couchtisch stand ein Kaffeebecher.

Annie sah auf. »Guten Morgen. Kaffee ist in der Küche.«

Heather nickte grinsend. »Ja, dir auch einen guten Morgen, und danke.« Sie ging in die Küche, wo sie einen Becher aus dem Schrank holte und sich Kaffee eingoss. Sie tat Zucker und fettarme Milch hinein. Sie rollte sich auf der Couch zusammen und fragte: »Wie geht es dir? Keinen Kater?«

Annie klappte das Buch zu und legte es wieder auf den Couchtisch. Sie zuckte die Achseln. »Mir geht es gut.« Sie warf Heather einen Blick über die Schulter zu, wobei ihr die blauen, schwarzen und amethystfarbenen Strähnen ins Gesicht fielen. »Tut mir leid wegen gestern Abend … all die Sachen, die ich über Mom gesagt habe. Nachdem ich diese Bilder gesehen habe … ich meine, ich hätte nie gedacht …«

»Ich weiß«, unterbrach Heather sie. »Nichts kann einen auf die Wirklichkeit vorbereiten.«

Annies Entschuldigung verblüffte sie. Gewöhnlich, wenn sie die Kontrolle verloren und alles um sie herum angegriffen oder kurz und klein geschlagen hatte, tat sie hinterher, als wäre nichts passiert. Oder entschuldigte es damit, betrunken gewesen zu sein.

»Wie gehst du damit um? Ich meine, mit dem Anblick von Leichen? Ist das nicht manchmal schrecklich?«

»Sicher, von Zeit zu Zeit macht es mich fertig. Um ehrlich zu sein weiß ich nicht, wie ich damit fertig werde, ich tue es einfach.« Heather trank einen Schluck Kaffee und setzte hinzu: »Ich muss, wenn ich herausfinden will, wer sie umgebracht hat.«

»Aber Mom ist schon seit einer halben Ewigkeit tot«, sagte Annie und strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Warum fängst du jetzt plötzlich an zu graben?«

»Weil ich jemanden kennengelernt habe, der für sein Mutter gesprochen hat, und mir wurde klar, dass niemand – nicht einmal Dad – je das Wort für sie ergriffen hat.«

»Wen?«

»Dante.«

»Seine Mutter wurde auch getötet?«, fragte Annie. Sie wickelte eine Locke hinter ihr Ohr, so dass man die vielen kleinen Ohrstecker sah. Ihr Gesichtsausdruck wirkte nachdenklich. »Kein Wunder …«

»Kein Wunder was?«

»Nichts.« Annie schüttelte den Kopf. »Er ist ganz anders als die anderen Typen, mit denen du zusammen warst. Ich meine, außer der Tatsache, dass er ein verdammter Vampir ist.«

»Stimmt.«

»Er sieht so jung aus. Stehst du jetzt auf Knaben oder ist er in Wirklichkeit Hunderte von Jahren alt?« Annie sah Heather fragend an. Die Ringe in ihren Brauen blitzten im Sonnenlicht.

»Danke, vielen Dank, Fräulein Sechsundzwanzig. Warte nur, bis du einunddreißig bist. Er ist dreiundzwanzig, also kein Jugendlicher mehr, und außerdem sind wir kein Paar.«

»Oh, entschuldige«, antwortete Annie. »Ihr schlaft nur miteinander. «

»Gut, wechseln wir das Thema«, sagte Heather. Eerie hüpfte aufs Sofa und setzte sich schnurrend auf ihren Schoß. Seine warme Anwesenheit hatte etwas Beruhigendes. Sie stellte den Kaffeebecher auf die Armlehne der Couch und begann, ihn zu streicheln, indem sie mit der flachen Hand über sein glattes seidiges Fell fuhr. »Wie sehen deine Pläne aus? Ist das nur ein Besuch oder suchst du hier nach einem Obdach?«

Annies Schultern sackten nach vorn, ihr Körper versteifte sich. »Scheiße, ich bin noch nicht einmal einen Tag hier, und schon willst du mich wieder loswerden.« Sie stellte den Becher auf den Couchtisch und erhob sich.

»Fang nicht wieder so an«, sagte Heather. »Ich versuche nicht, dich loswerden. Du bist in mein Haus eingebrochen, und ich will wissen, ob du einen Plan hast. Was ist mit deiner Wohnung in Portland? Ziehst du hierher? Wie sieht es mit Arbeit aus? Mit deinen Medikamenten? Der Therapie?«

»Oh, ich verstehe.« Annie drehte sich um, die Fäuste geballt. »Lobotomisieren wir Annie am besten. Das würde alles viel einfacher für dich machen, nicht?«

Heather hob Eerie hoch und setzte ihn auf ein Kissen neben ihr. »Hör auf, alles absichtlich misszuverstehen! Es geht nicht um mich!«

»Klar. Mhm.« Annie zeigte mit dem Mittelfinger auf den Stapel von Papieren und Bildern. »Diese tote Schlampe ist dir wichtiger als ich.«

Wut katapultierte Heather vom Sofa hoch. »Hör auf, Annie!«, flüsterte sie gepresst. »Hör sofort auf.«

»Dir sind nur die Toten wichtig! Nur an die denkst du! Nur über die redest du!«, brüllte Annie. »Vielleicht, wenn ich tot wäre …«

Heather packte sie an den Schultern. »Sag das nicht!«

»Aber es stimmt!« Sie schlug mit einer Faust gegen Heathers Schulter. »Was, wenn du stürbest? Hä? Was, wenn du stürbest und mich ganz allein zurückließest?«

Heathers Schulter schmerzte. Aber Annies Worte hatten sie schwerer getroffen als ihr Schlag. Die Worte bohrten sich in ihr Herz und raubten ihr einen Augenblick lang den Atem. Was, wenn du stürbest?

Sie schlang die Arme um Annie und zog ihren verspannten, widerstrebenden Körper an sich. Umarmte sie fest. »Es ist alles in Ordnung. Wir finden eine Lösung. Du weißt doch, ich würde dich nie im Stich lassen. Es ist nur so, dass derzeit nicht sicher ist …«

»Lass Mom in Frieden ruhen, Heather. Lass Mom tot sein, damit wir wieder eine Familie sein können.«

Heather erstarrte. Ihr war plötzlich eiskalt, als sei in ihr der Winter ausgebrochen – grau und klirrend kalt.

Ich möchte, dass wir wieder eine Familie sind. Wir alle. Grab die Vergangenheit nicht wieder aus, Heather. Schau in die Zukunft, und lass den Toten ihren Frieden.

Vielleicht war niemandes Telefon abgehört worden.

Sie hatte nur einem Menschen erzählt, was Dante getan hatte. Sie hatte Annie ihre Geheimnisse und ihr Innerstes anvertraut, da sie geglaubt hatte, dass sie, die ihr immer wieder ihre Sehnsüchte und verrückten Begierden zuflüsterte, jemand wäre, der sie nicht verurteilte. Heather hatte geglaubt, ihre einander gestandenen Geheimnisse würden das Band zwischen ihnen stärken – zwischen Schwestern und Überlebenden.

Ich bin froh, dass dich Prejean gerettet hat.

Wie viele Geheimnisse hatte Annie im Laufe der Jahre verraten?

Heather hielt Annie weiter fest. Sie fühlte sich wie betäubt, während die Rädchen in ihrem Hirn wie verrückt ratterten. Zum ersten Mal in ihrem Leben war ihr klar, wie allein sie tatsächlich war.