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BODENLOSE TIEFEN

Seattle, Washington · 24. März

 

Sheridan beobachtete auf dem Minimonitor, wie der Trans Am in Wallaces Einfahrt fuhr. Die Scheinwerfer erloschen. Die Beifahrertür öffnete sich, und Dante Prejean stieg aus. Das Licht der Straßenlaternen schimmerte auf seiner Lederhose und seinem Latex-Shirt und ließ seine Haare bläulich schimmern.

Er ging die Einfahrt hinunter, und Sheridan konnte nicht anders, als seine federnde, raubtierartige Anmut zu bewundern. Er bemerkte auch, dass die Körpersprache des Vampirs seine angespannten Muskeln und große Nervosität verriet. Hunger.

Prejean sah die Straße hinauf und hinunter, fuhr sich dann mit der Hand durchs Haar, drehte sich auf dem Absatz um und ging die Einfahrt wieder hoch. Spannend. Offenbar wartete er auf jemanden, war aber nicht froh darüber, dass dieser jemand kommen sollte.

Mal sehen, auf wen er wartet.

 

Dante ging um den Wagen herum auf Heathers Seite. Der Kies knirschte unter seinen Stiefeln. Es hatte wieder zu nieseln begonnen, und die kleinen Regentropfen glitzerten auf ihrem schwarzen Trenchcoat und ließen ihre Haare noch verführerischer als sonst schimmern.

»Wenn alles schiefgeht und Lyons mit dir abhaut«, erklärte sie gequält, »dann werde ich dich finden. Ich werde nicht aufgeben. Hast du gehört?«

Dante umfasste Heathers regenkühles Gesicht mit den Händen. »Ich habe dich gehört, chérie, und das Gleiche gilt für mich.« Er senkte das Gesicht auf ihres. »Viel Glück.« Er küsste sie, und sie erwiderte seinen Kuss voller Leidenschaft. Ihre Lippen öffneten sich unter den seinen, und ihre Hände wanderten zu seinen Hüften.

In seinem Inneren verschwand das Summen der Wespen. Es wurde ebenso wie der Schmerz in Dantes Kopf von einer Welle weißer Stille hinweggespült.

Das tiefe Brummen eines starken Motors ließ Dante aufblicken. Er sah Heather nervös an. »Da kommt ein Pick-up.«

»Aus welcher Richtung?« Sie griff in ihren Trenchcoat, um ihre Waffe zu ziehen. »Lyons fährt einen Dodge Ram.«

»Osten.«

Das Licht von Scheinwerfern ließ Dantes Augen blauweiß erleuchten. Zugleich schoss der Schmerz wieder in seinen Kopf, schlimmer als zuvor. Er blinzelte und hielt eine Hand vor die Augen, um sie zu schützen.

Das Motorengeräusch verklang, und die Scheinwerfer wurden ausgeschaltet. Grelle Lichtflecken tanzten vor Dantes Augen. Er zog seine Sonnenbrille aus dem Kragen seines Hemdes und setzte sie auf.

Heather musterte den tiefroten Pick-up, der auf der Straßen geparkt hatte. »Ist Annie bei ihm?«

Dante sah nur eine Gestalt in der Fahrerkabine: Lyons. Er versuchte, das heftige Schlagen von Heathers Herz zu ignorieren und lauschte. Im Auto war nur das schnelle Hämmern eines sterblichen Herzens zu vernehmen. Dantes Fäuste ballten sich. »Nein. Sie ist nicht bei ihm.« Er weigerte sich, die Möglichkeit, was das bedeuten konnte, auch nur auszusprechen – dass sie bei ihm war, aber ihr Herz nicht mehr schlug.

»Scheiße«, murmelte Heather.

Das Beifahrerfenster glitt herunter. Ein dünner Faden von Zigarettenrauch schlängelte sich in die Luft und löste sich im Nieselregen sofort auf. »Legen Sie die Waffe weg, Heather«, rief Lyons.

»Wo ist Annie?«, fragte Dante, während sich Heather nach unten beugte und ihre Pistole auf den Kies am Rand der Einfahrt legte.

»Irgendwo.« Belustigung schwang in Lyons’ Stimme mit – eine Belustigung, die ihm Dante am liebsten auf der Stelle herausgeprügelt hätte.

Heather richtete sich auf. »Woher sollen wir wissen, dass es Annie gutgeht?«, fragte sie.

»Sie werden mir einfach glauben müssen. Das ist die einzige Möglichkeit.«

Nein.

Dante schloss die Augen und unterdrückte die pochenden Schmerzen in seinem Kopf, um sich besser konzentrieren zu können. Er tastete nach Lyons’ Geist – und prallte von einem stahlglatten Schild ab. Dante riss die Augen auf. In seinem Sichtfeld tanzten Lichtchen. »Scheiße«, flüsterte er.

»Alles in Ordnung?« Heather griff besorgt nach seinem Arm.

»Ich habe mich schon gefragt, ob Sie das probieren würden«, meinte Lyons.

»Er ist Telepath«, erklärte Dante. Blut troff ihm aus der Nase. Er wischte es mit dem Handrücken fort. »Ich kann seine Schilde nicht bezwingen. Jedenfalls nicht kampflos.«

»Scheiße.« Heather ließ seinen Arm los. »Wie kriegen wir Annie wieder?«, rief sie. »Was wollen Sie?«

»Ich will, dass sich Dante etwas auf meinem iPod anhört«, antwortete Lyons.

»Ich dachte, Sie wollen, dass er Ihre Schwester heilt«, gab Heather zurück.

»Das auch«, antwortete Lyons. »Aber zuerst will ich sehen, wie genau er Anweisungen befolgt.«

»Du kannst mich mal«, sagte Dante. »Dann wirf mir den verdammten iPod mal zu.«

»Ich schicke ihn Ihnen«, antwortete Lyons.

Während Dante noch überlegte, was das heißen sollte – schicken? Wie eine E-Mail? Oder ein verdammtes Päckchen? –, spürte er einen heftigen elektrischen Sog. Ein kleines Etwas flog aus dem Fenster des Pick-ups und segelte auf einer Energiewelle die Einfahrt hoch.

Dante starrte den iPod an, als dieser auf Brusthöhe vor ihm anhielt und auf winzigen Energieströmen in der Luft schwebte. Er sah Lyons an.

Licht und Schatten umspielten das Antlitz des Sterblichen. Er war also nicht nur Telepath, sondern auch Telekinet. Das war eine Begabung, die selbst unter Nachtgeschöpfen selten vorkam. War sie natürlich oder eher das Ergebnis der väterlichen Versuche?

Dante griff nach dem iPod und nahm ihn an sich. Im selben Augenblick schwebte Heathers Pistole wie ein Blatt im Wind vom Rand der Einfahrt hoch. Sie segelte zum Auto hinüber und flog durch das offene Fenster.

»Er hört sich das erst an, wenn wir Annie wiederhaben!«, rief Heather.

»Ich will Ihrer Schwester nicht wehtun, also zwingen Sie mich auch nicht dazu«, erwiderte Lyons. »Dante hat zehn Sekunden, dann fahre ich wieder.«

Wahrheit und Lüge vermischten sich in Lyons Worten – Dante wusste das. Er wusste auch, dass er Annie ohne zu zögern wehtun würde.

»Hör dir nicht an, was auf dem iPod ist. Ich glaube, er versucht, deine Programmierung auszulösen.« Heather blickte Dante an – ihre Augen waren vor Aufregung fast schwarz. »Es muss eine andere Möglichkeit …«

»Tritt beiseite, chérie«, wisperte er. »Damit ich dir nicht wehtun kann. «

Heather folgte seinem Befehl und wich mit zusammengebissenen Zähnen und Tränen in den Augen einige Schritte zurück.

Dante schob die Ohrhörer in seine Ohren und drückte dann mit hämmerndem Herzen die Abspieltaste. Eine aalglatte Stimme drang leise in sein Inneres.

»S — Zeit aufzuwachen, mein schlafender Schöner. Es gibt Arbeit.«

Eine bekannte Stimme, die Dante nicht benennen konnte. Schmerz riss an seinem Bewusstsein, stieg von unten in ihm auf und zerschredderte seine Gedanken, sein Ichgefühl. Laute, flüsternde und murmelnde Stimmen rasten wie ein Wirbelsturm aus seinen zerstörten Tiefen herauf. Summende Wespen formten eine schwarze, wütende Wolke und verspritzten ihr Gift in sein Herz.

Der Schmerz zog ihn nach unten.

Er stürzte in bodenlose Abgründe.

Die namenlose Stimme sprach erbarmungslos weiter.