VIERZIG
FLUSS DONUA, MAGYRIA
Mattim zerteilte die Fluten mit einigen kräftigen
Bewegungen, bis er durch die Oberfläche brach. Überall um ihn her
schwammen Eisbrocken. Er packte Kunun am Kragen und hielt aufs Ufer
zu, an dem zwei Gestalten riefen und winkten. Unendlich weit weg
schienen sie ihm. Auf einmal war Bela an seiner Seite, und der
Prinz krallte sich in das dichte, nasse Fell.
»Schneller«, flüsterte er, »ich schaffe es nicht
mehr rechtzeitig.«
Der große Wolf hielt zielstrebig auf das rettende
Ufer zu und zog sie beide durch das eisige Wasser. Mattim wankte
vorwärts, als seine Füße endlich Halt fanden, seine Hand unablösbar
in Kununs Mantel gekrallt. Schließlich fiel er in den Schnee und
blickte hoch in Hannas Gesicht wie zu einem Stern, der am Himmel
über ihm strahlte.
»Mattim«, sagte sie, »Mattim. Mattim!« Dann küsste
sie ihn auf die weiße Stirn. Er sah in ihren Augen, was sie fühlte,
was sie nicht aussprechen konnte.
»Kunun!«, schrie Réka. »Was ist mit ihm?« Sie
beugte sich über den Vampir, der reglos dalag wie ein ertrunkener
Gott, und auf einmal legte er die Arme um sie und zog sie eng an
sich heran.
»Lass sie!«, rief Hanna. »Oh Gott, nicht schon
wieder! Lass sie!«
Mattim richtete sich mühsam auf und fasste sie am
Arm. »Warte. Gib ihm einen Moment, nur einen Moment … nur noch
dieses eine Mal, um sein Leben zu retten. Das
Licht kann ihn immer noch töten … Jetzt reicht es. Komm, Réka.«
Der Prinz zog das Mädchen hoch und lächelte, erstaunt und erfreut.
»Es ist wie ein Wunder, dich hier stehen zu sehen.« Doch dann schob
sich eine finstere Wolke über sein Gesicht.
»Was tut ihr hier, Hanna? Ihr solltet längst in der
Höhle sein! Beim Licht, mein Vater ist dort und schließt die
Pforte! Ihr könnt nie mehr zurück!«
»Vielleicht hat er es noch nicht geschafft?«,
fragte Hanna.
»Schnell! Kommt!« Mattim ergriff ihre Hand. »Réka,
los jetzt!«
Mit Gewalt musste er sie von Kunun wegreißen, aber
sobald sie in einen gleichmäßigen Schritt gefunden hatten, sah sie
verträumt nach vorne und folgte ihnen wie eine Schlafwandlerin. Die
drei hasteten durch den Wald.
Still war es hier, merkwürdig still. Keine Wölfe
heulten. Nur ihre Schritte und der keuchende Atem der Mädchen.
Keiner sprach. Nicht einmal Réka fragte, wo sie waren und warum sie
laufen mussten, gehorsam hielt sie mit ihren Begleitern mit.
Schließlich erreichten sie die Höhle, wo ihnen König Farank
entgegenkam.
»Beim Licht«, sagte er nach einem Blick auf die
zerrissenen, steif gefrorenen Kleider seines Sohnes, auf die mit
weißen Eiskristallen überzogenen Haare. »Mattim, du wirst
erfrieren!« Der Monarch nahm seinen Mantel ab und legte ihn dem
Jungen um.
»Hast du die Pforte geschlossen?«, fragte Mattim
bang.
»Ich konnte es nicht«, antwortete der König. Er
klang erschöpft und traurig. »Mir ist, als hätte ich all meine
Kraft am Fluss gelassen.«
Hanna hob den Kopf. »Habt ihr das gehört? Stimmen.
Die Schatten kommen schon! Wir müssen die Pforte schließen! Oder
sind vor uns schon andere Schatten hier eingetroffen? Sind wir etwa
zu spät?«
»Eine Frau ist hindurchgegangen«, sagte der König
leise.
»Eine Frau mit rotem Haar. Sie hat mich nicht bemerkt. Nur diese
eine Frau.«
»Atschorek«, flüsterte Mattim.
»Ich habe auf dich gewartet«, sagte Farank. »Wir
müssen die Pforte gemeinsam schließen, Mattim. Gemeinsam wird unser
Licht stark genug sein.«
»Nein, Vater.« Mattim schüttelte den Kopf. »Ahnst
du es nicht längst? Ich habe kein Licht mehr. Ich bin ein
Schatten.«
»Das kann ich nicht glauben«, sagte der König
leise, »denn das Licht in dir ist stärker als alles andere. Nicht
ich allein habe den Fluss geweckt. Wir beide waren es. Das Eis ist
erst gebrochen, als du deine Hand auf meine gelegt hast.« Er
musterte seinen Sohn mit Liebe und Stolz. »Du kannst kein Schatten
sein. Selbst deine Dunkelheit ist heller als mein Licht. Komm,
Mattim. Lass uns die Pforte schließen.«
Der Junge wandte sich zu Hanna. Mit dem königlichen
Mantel um die Schultern und dem Eis im Haar wirkte er fremd und
unwirklich. Ein Prinz aus einer anderen Welt. Aber als er seine
Hand ausstreckte und ihre Wange berührte, war er nur Mattim. Ihr
Mattim.
»Geht«, flüsterte er. »Bring sie zurück,
Hanna.«
Sie wollte nicht. Sie wollte ihre Arme um ihn
schlingen, ihn an sich drücken und weinen und betteln - aber die
Stimmen im Wald wurden lauter. Es blieb keine Zeit mehr. Also nahm
sie Réka bei der Hand. Mattim legte die Arme um die Schultern der
Mädchen, und zu dritt gingen sie durch den Fels und befanden sich
im nächsten Moment in einem düsteren Keller in einer anderen Stadt
in einer anderen Welt. Die Hand auf ihrer Schulter löste sich, sie
spürte nur noch einen flüchtigen Kuss auf ihrem Haar, dann war
Mattim fort.
»Warum sind wir eigentlich so gerannt?«, fragte
Réka.
»Damit du rechtzeitig zu deiner Geburtstagsparty
kommst.«
»Ach so.« Das Mädchen blinzelte verwirrt. »Dann
muss ich mich aber noch umziehen.«
Hanna blickte sich um. Hinter ihr war nur der
Durchgang in den anderen Kellerraum, in dem ein großer Käfig stand.
Eine Falle für einen Wolf.
»Komm«, sagte sie und zog Réka zum Fahrstuhl.
Wenn Hanna die Wände berührte, spürte sie das
Dröhnen der Bässe. Die Party war in vollem Gange. Bunte Lichter
flackerten über Palmen und Korbstühle und verwandelten den
Wintergarten in eine Tanzhölle. Von ihrem Fenster aus konnte sie
die tanzenden Mädchen sehen. Es war nicht viel nötig gewesen, um
die Gäste, von denen die ersten bei ihrer Rückkehr bereits gewartet
hatten, zufriedenzustellen. Sie hatte Rékas Musikanlage nach unten
geschleppt, Teller und Gläser in der Küche bereitgestellt, die
Getränkekisten aus dem Keller geholt und die Knabbersachen in
Schüsseln arrangiert. Danach hatte sie Pizza bestellt und alles an
Kerzen und Lampen hervorgeholt, was sich im Haus befand. Solange
sie beschäftigt gewesen war, hatte sie nicht nachdenken müssen, war
es ihr fast gelungen, nichts zu fühlen. Konzentriert auf ihre
Aufgabe, innerhalb von einer Viertelstunde Partystimmung aufkommen
zu lassen, hatte sie alles beiseitegeschoben und so getan, als wäre
dies ihr Leben. Dies und nichts anderes.
»Du bist traurig«, stellte Attila mit Kennermiene
fest.
»Geh tanzen«, sagte sie. »Geh ruhig, mein Schatz.
Ich komme später, versprochen.« Sie blinzelte die Tränen
fort.
»Ich muss nicht ins Bett?« Die Augen des Jungen
leuchteten auf.
»Bei dem Lärm kann sowieso keiner schlafen. Geh
ruhig runter. Lass dich nicht wegschicken, ja?«
»Au ja!«
Hanna versuchte zu lächeln. Sie versuchte ihr
Lächeln festzuhalten, als sie den kleinen Jungen die Treppe
hinunterhüpfen
sah, den Lichtern entgegen. Doch sobald sie ihre Zimmertür
geschlossen hatte, entglitt es ihr. Kam der Name wie ein Blitz zu
ihr zurück.
Mattim.
Sie setzte sich aufs Bett und umschlang mit beiden
Armen ihre Knie, sie hielt sich an sich selbst fest und konnte sich
dennoch keinen Trost geben.
»Mattim.« Sie wollte nicht weinen. Sie wollte sich
für ihn freuen, für all das, was er erreicht hatte. Die Pforte war
geschlossen. Sein Vater akzeptierte ihn. Es gab keinen Grund, so
traurig zu sein. Freuen wollte sie sich für ihren Liebsten,
lächelnd wollte sie an ihn denken, an ihn und sein Glück … und
trotzdem stiegen solche ungestümen Schluchzer in ihr hoch, dass sie
sich herumwarf, das Gesicht ins Kissen presste und heiße Tränen
weinte.
»Mattim!« Wie ein Urschrei brach es aus ihr heraus,
und nur der lauten Musik war es zu verdanken, dass nicht alle in
ihr Zimmer stürzten.
Eine Berührung an ihrem Rücken, wie von einer
streichelnden Hand. So sehr sehnte sie ihn herbei, dass sie ihn
schon körperlich spüren konnte.
»Warum brüllst du in dein Kissen?«
Hanna hob den Kopf. Da saß er, an ihrem Bett,
dieses unvergleichliche Grinsen auf seinem Gesicht, das ihr Herz
schmelzen ließ. Sie schlang die Arme um ihn, sie lachte, sie hörte
nicht auf zu weinen, sie lachte und weinte und küsste ihn, alles
gleichzeitig.
»Warum bist du hier? Träume ich?«
Mattim lachte leise. Er trug noch immer den Mantel
des Königs. Aber sein Haar war wieder blond und weich.
»Dachtest du, ich bleibe auf der anderen Seite?
Dachtest du das wirklich? Ich habe nur gesagt, geh voraus.«
»Das stimmt nicht. Du hast gesagt: geh.«
»Na gut, das war vielleicht etwas
missverständlich.« Er küsste sie auf eine Weise, die alles andere
als missverständlich
war. »Der König stand auf der anderen Seite«, erzählte er, »und
ich auf dieser, und dann haben wir die Hände ausgestreckt und uns
berührt. Es war, als würde alles in Flammen aufgehen … Du hast
wirklich geglaubt, du bist mich los? Was soll ich denn in Magyria
ohne dich? Meine Seelengefährtin. Meine Herzgefährtin. Meine
Leibesgefährtin. Ich bin dein Schatten, oder etwa nicht?«
Sie löste den Gürtel seines Mantels. Unter der
königlichen Pracht trug er die Fetzen seines zerrissenen, blutigen
Hemdes, kalt und nass. Staunend berührte sie seine Brust. Seine
Schultern. Seine Arme.
»Deine Wunden«, flüsterte sie ungläubig. »Sie sind
weg. Es ist alles verschwunden, alles. Wie ist das
geschehen?«
Mattim lächelte nur.
Es fiel Hanna schwer, sich auch nur für einen
kurzen Moment von ihm zu lösen, aber sie wollte prüfen, ob die Tür
auch wirklich abgeschlossen war.
»Ich bin durch die Wand gekommen«, sagte er. Der
flackernde Lichtschein von unten tanzte über sein Gesicht.
»Ja«, sagte sie, »aber du wirst nicht wieder durch
die Wand verschwinden. Weder durch die Wand noch durch die Tür.
Nicht heute Nacht.« Und sie drehte den Schlüssel zweimal
herum.