DREIUNDZWANZIG
BUDAPEST, UNGARN
»Was hast du mit ihr gemacht?«, schrie Mattim. »Wo wart ihr? Was hast du gemacht?«
Kunun schob ihm eine blasse Hanna in die Arme, die aussah wie eine Schlafwandlerin. Ihre Augen und ihr Haar schienen dunkler geworden zu sein, und ihre Haut war blass, als hätte sie lange in der Finsternis gelebt, fern vom Licht der Sonne.
Kunun schubste sie über die Fahrstuhlschwelle zu ihm hin.
Hanna starrte Mattim an, als würde sie träumen. »Was hast du getan!«, rief er wieder und wieder. »Das durftest du nicht! Ich hasse dich!«
»Das hier ist mein Haus«, erinnerte Kunun mit gefährlich leiser Stimme, »und ich darf hier alles. Wenn du dich um deine kleine Freundin sorgst, dann mach ihr endlich klar, dass sie hier nichts zu suchen hat. Weder dich noch sonst was. Das habe ich dir schon einmal gesagt, und wenn du es nicht fertigbringst, hast du dir die Konsequenzen selbst zuzuschreiben.«
Hasserfüllt starrte Mattim auf seinen Bruder, der sich mit einem leisen, zufriedenen Lächeln abwandte. Die Fahrstuhltür schloss sich zwischen ihnen.
Mattim legte den Arm um Hanna und führte sie zum Ausgang. Draußen blieb sie stehen und betrachtete lange den Löwenkopf.
»Du wirst dich nicht daran erinnern«, sagte Mattim. »An nichts, was heute geschehen ist. An gar nichts.«
Der kostbare Moment in seinem Zimmer. Ihr Kuss, süß und innig. All das, was er ihr erzählt hatte, von Akink und seiner Aufgabe. Ihre Begeisterung darüber, dass sie ihm vielleicht sogar helfen konnte. Alles verloren.
Er konnte sich nicht vorstellen, Kunun jemals so gehasst zu haben.
Der junge Mann strich Hanna übers Haar und lehnte sein Gesicht an ihre Wange. Er hasste nicht nur Kunun, er hasste sich selbst. Warum hatte er sie nicht beschützen können? Er, der goldene Prinz mit dem Schwert? Was war er wert, wenn er nicht einmal sein Mädchen beschützen konnte?
Sie flüsterte etwas, kaum hörbar.
»Was sagst du?«
»Attila.« Sie hob den Kopf, unendlich müde. »Attila.«
Mattim konnte gar nicht sagen, wie sehr er sie in diesem Moment liebte. Gerade der Lebensgefahr entronnen, dachte sie als Erstes an das Kind, für das sie verantwortlich war. »Ich muss den Jungen abholen.«
»Du wirst zu spät kommen«, sagte er leise. »Aber vielleicht schaffen wir es sogar noch. Wir fahren mit der Metró. Komm.«
Sie saßen nebeneinander, Hanna lehnte sich an seine Schulter. Schweigend. Er kämpfte unterdessen die Tränen nieder, kämpfte gegen das Gefühl grenzenlosen Verlusts, gegen den Drang, aufzuspringen, zum Baross tér zurückzukehren und Kunun irgendeine nutzlose Waffe in den Bauch zu rammen.
»Woran kannst du dich als Letztes erinnern?«, fragte Mattim schließlich, den Arm immer noch um sie gelegt, die Lippen an ihrer Stirn. Sie hatte die Augen geschlossen, er dachte schon, sie schliefe. Doch sie antwortete ihm.
»Dunkelheit«, sagte sie. »Ich fiel ins Dunkle … Wenn ich die Augen schließe, sehe ich nur Schwarz, und wenn ich sie öffne, ist es immer noch dunkel. Es ist, als wäre ich blind geworden. Ich kann immer noch sehen«, bei diesen Worten richtete sie sich auf und blickte ihn an, in seine wolkenverhangenen Augen, »ich sehe alle diese Leute hier und auch dich … Aber gleich dahinter ist die Dunkelheit.«
»Was hat er dir angetan?«, fragte Mattim untröstlich.
»Das ist seine Seele«, sagte Hanna. »Ich glaube, er hat mir seine Seele gezeigt.«
»Aber …« Da fiel ihm etwas anderes ein, und er sagte: »Du erinnerst dich, dass es Kunun war? Dass er es war und nicht ich? Wie kannst du das wissen? So, wie du aus dem Fahrstuhl gekommen bist, hat er dir wesentlich mehr weggenommen als eine Viertelstunde.«
Irritiert runzelte Hanna die Stirn. »Keine Ahnung … Ich spüre es.« Sie horchte in sich hinein. »Du hinterlässt irgendwie ein anderes Gefühl. Diesmal ist es wie ein fremder Geruch, wie die Spuren eines fremden Tieres im Schnee … Das hört sich unsinnig an, oder?«
»Wir müssen aussteigen.« Er bot ihr den Arm, und sie ging mit staksigen Schritten neben ihm her. Erst als ihnen oben der kalte Wind entgegenschlug, ließ sie ihn los, hielt ihr Gesicht unter das Grau des Himmels und atmete tief ein. »Fühlst du dich sehr schwach?«, erkundigte er sich besorgt.
»Es geht. Wir müssen noch ein Stück mit dem Bus fahren. Attila wird sich wundern, dass ich nicht mit dem Auto komme. Ich habe das Gefühl, er wird mich umwerfen, wenn er auf mich zugelaufen kommt.« Sie lächelte, ganz ihr altes Lächeln, als wäre sie nicht von einer Dunkelheit berührt worden, von deren Existenz sie nichts geahnt hatte.
»Ich werde mich hinter dich stellen. Dann kann er dich nicht umrennen.«
Er rechnete halb damit, dass sie versuchen würde, ihn nach Hause zu schicken und vorgeben würde, stark genug zu sein für ihre Pflichten. Aber sie sagte nicht, dass sie nun alleine klarkommen würde. Zusammen erwarteten sie den Jungen vor der Schule, zusammen fuhren sie zu den Szigethys nach Hause, und obwohl Mattim nicht die geringste Ahnung vom Kochen hatte, konnte er zumindest Hannas Anweisungen durchführen, den Kochtopf mit Wasser füllen, Herdplatten einschalten und Teller auf den Tisch stellen.
Attila brauchte nicht viel, um glücklich zu sein. Er fand die Unterbrechung in der normalen Routine aufregend, stopfte die Nudeln in sich hinein, ohne auch nur eine Sekunde mit dem Reden aufzuhören, und beobachtete fasziniert, wie Mattim zum ersten Mal in seinem Leben Spaghetti aß und mit dem Besteck kämpfte.
»Er kann das nicht«, urteilte der Junge so gnadenlos wie zufrieden. »Er hält die Gabel total falsch.«
Mattim genoss den ungewohnten Geschmack auf der Zunge. Kunun wollte ihn dazu bringen, mit dem Essen aufzuhören; genau deswegen war es so großartig, es zu tun. Zu kauen und zu schlucken, als könnte man verhungern, als könnte man sterben, wenn man nicht täglich irgendetwas zu sich nahm. Als könnte dieses Essen die Leere füllen, die er in seiner Brust verspürte, den kalten, unbeweglichen Stein, der hinter seinen Rippen wohnte.
Nach dem Essen legte Hanna sich hin, und Mattim konnte Attila dazu bewegen, ihm zu zeigen, wie man das Geschirr abwusch. Auch die Hausaufgaben machten viel mehr Spaß, wenn ein Großer dabei war, der ständig dumme Fragen stellte und dieselben Aufgaben auf ein Blatt Papier kritzelte.
Irgendwann kam Réka und zog die Brauen hoch, als sie Mattim im Wohnzimmer auf dem Teppich liegen sah, Attila auf dem Rücken.
»Was macht der denn hier?« Sie musterte den Prinzen aus zusammengekniffenen Augen, so kritisch, als müsste er gleich eine Prüfung ablegen. »Du bist der Junge auf dem Foto! Du bist - Hannas Freund?«
Hanna tauchte im Türrahmen auf. Sie sah wieder etwas erholter aus. »Szia. Auch wieder da?«
»Mama kommt gleich«, sagte Réka. »Vielleicht sollte der da lieber gehen.«
Mattim wechselte einen Blick mit seiner Freundin und sprang trotz Attilas Protesten auf. »Natürlich. Ich will nicht, dass du Ärger bekommst.«
Es hörte sich so einfach an, aber es war ihm nahezu unmöglich, zur Tür zu gehen und sich zu verabschieden, es erforderte eine übermenschliche Kraft, Hanna zum Abschied nicht zu küssen. Réka stand daneben und starrte die beiden unentwegt an. Es war, als würde sie ihn mit ihren Augen hinauswischen wie ein Flöckchen Staub.
»Hast du heute Abend frei?«, fragte er.
Hanna nickte. »Ich werde dich finden.«
»Nein, das wirst du nicht.« Es fiel ihm schwer, das zu sagen und sie daran zu erinnern, was passiert war.
Sie machte einen Schritt auf ihn zu, sodass sie ganz nah vor ihm stand. »Jeden Abend stehe ich oben an der Burg und blicke auf den Fluss und die Stadt hinunter … Schon vergessen? Wenn man jemanden gut genug kennt, wird man ihn immer finden.«
Mattim nickte. »Dann bis später. Oben an der Burg.«
Bevor die Tür hinter ihm zufiel, hörte er noch Rékas ätzende Stimme: »Ich glaube nicht, dass Mama es schätzt, wenn du deine Freunde mit ins Haus bringst.« So laut, dass er es ja nicht überhören konnte.
 
Die Stadt zu ihren Füßen, ein funkelndes Lichtermeer, das sich bis zum Horizont erstreckte. Mattim stand an der Mauer und blickte hinunter auf den breiten Fluss, in dem sich die Lichter spiegelten. Es war kalt, und er wunderte sich, dass es diesem merkwürdigen Körper möglich war, zu frösteln. Ein Zittern durchfuhr ihn, und er steckte die Hände in die Jackentaschen. Erkälten würde er sich nicht. Vampire kannten weder Schnupfen noch Lungenentzündung. Aber so, wie er Schmerz empfand, wie er den Geschmack von Nudeln mit Butter und Salz auf der Zunge spüren konnte, nahm sein Körper auch die Kälte wahr und teilte ihm mit, was er wusste. Seine Nackenhaare stellten sich auf, jemand näherte sich …
Er drehte sich um. »Hanna.«
Sie lächelte, doch in ihren Augen lag ein feierlicher Ernst.
»Du hast mir von Akink erzählt. Von diesem anderen Fluss, der so ähnlich heißt wie die Donau. Und davon, wie du das erste Mal durch die Pforte in unsere Welt gelangt bist.« Ihr Lächeln wurde breiter, strahlender. »Dann …« Sie streckte die Hände aus, fasste in sein Haar und zog ihn näher zu sich heran. Ihre Lippen berührten sich, ihr warmer Atem strich über sein Gesicht. Süß schmeckte sie. Süßer als der Frühling, der noch auf sich warten ließ, süßer als alle seine Träume.
Ihm war, als müsste sein Herz wieder beginnen zu schlagen, hoch aufjauchzend vor Glück.
»Du erinnerst dich!«
Sie lächelte nicht mehr, sie grinste. »Ich habe die Erinnerung zurückgerufen, und sie ist gekommen.«
»Du bist erstaunlich«, sagte er. »Ich glaube, das ist eine besondere Gabe, die sonst keiner hat.«
Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Das glaube ich weniger. Du bist es, Mattim. Niemand kann mir die Zeit mit dir rauben. Niemand. Nicht einmal Kunun.«
Der Name seines Bruders fuhr wie ein Keil zwischen sie.
»Was ist passiert, dort im Fahrstuhl? Erinnerst du dich auch daran?«
»Stell dir vor, ich habe den Code.« Sie lachte leise. »Ich habe ihn ausgetrickst. Ich weiß jetzt, wie man in den Keller kommt. Ich sagte, zeig mir Magyria, und er ist mit mir hinuntergefahren, und …«
Mattim war einen Moment sprachlos. »Du hast …? Hanna, bist du verrückt? Du hast ihn gebeten, dich nach unten zu bringen? Allein? Warum hätte er das tun sollen?« Sein Gesicht verfinsterte sich. »Ich habe euch gesehen, durchs Glas, solange ihr noch im Erdgeschoss wart. Wie du mit ihm gesprochen hast. So - vertraut. Als würdet ihr euch schon lange kennen. Du hast dich überhaupt nicht gewehrt, du hast ihn angeschaut und ihn so angelächelt, wie du mich immer anlächelst.« Er merkte, dass er sie verletzt hatte, dass ihr Lächeln erstarb, trotzdem konnte er einfach nicht aufhören. »Und dann fährst du mit ihm nach unten. Was glaubst du, wie ich mich dabei gefühlt habe? Ich dachte, er bringt dich um! Ich dachte, er tötet dich und lässt deine Leiche in Magyria, damit niemand sie jemals findet. Und ich konnte euch nicht folgen, ich konnte nichts tun.«
»Er hätte mich nicht umgebracht«, sagte Hanna. »Nicht, wenn ich bei Tageslicht sein Haus betreten habe und jemand sich daran erinnern könnte.«
»Du hast es dir also genau überlegt, was er alles tun würde? Allmählich verstehe ich gar nichts mehr. Du weißt, wer Kunun ist. Wenn du dich an alles erinnerst, was ich dir erzählt habe … Und dann machst du Kunun schöne Augen, damit er mit dir in den Keller fährt?«
Bis jetzt, solange er um sie besorgt gewesen war, hatte Mattim verdrängt, was er empfunden hatte, während sie mit Kunun im Fahrstuhl gewesen war. Er hatte beobachtet, wie sie zu ihm aufgeblickt hatte, die schönste Frau der Welt mit ihrem geheimnisvollen Lächeln. Nie, niemals hätte sie Kunun so ansehen dürfen!
»Du wolltest es, nicht wahr?«, fragte er. »Du wolltest, dass er dich beißt.«
»Es war für dich!«, rief Hanna. »Weil du den Code brauchst. Weil ich dir helfen wollte. Weil …«
»Ich will den Code nicht!«, schrie Mattim. »Nicht, wenn ich ihn damit bezahlen muss, dass du dich Kunun an den Hals wirfst!«
Hannas Unterlippe bebte. »Du tust ja, als wenn ich mit ihm geschlafen hätte. Er hat mich gebissen, Mattim. Nur gebissen. Es hat richtig wehgetan. Und ja, ich habe versucht, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich Angst habe. Ich habe versucht, ihn dazu zu bringen, mir den Keller zu zeigen. Kunun hätte mich sowieso gebissen. Er wollte es schon oben tun, im Erdgeschoss. Ich dachte nur, wenn ich ihn vorher dazu bringen kann, mir etwas Entscheidendes zu verraten, wenn er den Code eingibt und du siehst das vielleicht durch die Scheibe. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich erinnern würde. Aber ich dachte, wenn du es vielleicht siehst …«
»Glaubst du allen Ernstes, ich denke noch einen Augenblick lang an diesen verfluchten Code, wenn du mit Kunun in einen Fahrstuhl eingesperrt bist!«
Ihre Stimme wurde immer leiser. »Ich wollte den Zeitpunkt bestimmen. Es war mir nicht klar, dass es dir lieber ist, wenn ich weine und schreie und ihm das Gesicht zerkratze.«
Hass hatte er empfunden, auf seinen Bruder, und eine Angst, die ihn schier zerreißen wollte. Um Hanna. Er hatte nicht gewusst, dass Hass und Angst zusammen den Namen Eifersucht trugen. Er wollte sie um Verzeihung bitten, er wollte ihr sagen, dass es ihm leidtat, dass sie keine Schuld traf, dass er stolz darauf war, wie tapfer und besonnen sie reagiert hatte, als Kunun so unverhofft nach Hause gekommen war. Aber er konnte das Bild nicht auslöschen, konnte es nicht aus seinen Augen reißen, wie sie beide im Fahrstuhl standen, seine Hanna und der Prinz der Schatten, dicht an dicht und einander so zugewandt, dass sie wie Liebende wirkten. Hanna, seine wunderbare, liebliche Hanna. Und Kunun, groß, dunkel und makellos schön, der Prinz, dem die Herzen zuflogen … Er selbst, ausgeschlossen, stand draußen, ein hilfloser Beobachter, unfähig, irgendetwas zu tun.
»Sag es mir«, forderte er, statt sich zu entschuldigen, statt sie in den Arm zu nehmen, »dass es keinen Augenblick gab, nicht den winzigsten Moment, in dem du dir gewünscht hast, er würde dich beißen, ganz egal, was es dich kostet.«
Wenn sie es ausgesprochen hätte, wenn sie ihm versichert hätte, dass sie nie auch nur den Gedanken gehabt hatte, ihn zu verraten - dann wäre alles gut gewesen. Dass sie auf eine Weise mit Kunun gespielt hatte, die er weder verstehen noch billigen konnte, würde er irgendwie annehmen können. Aber Hanna schwieg. Sie wandte den Blick von ihm ab, auf die Stadt, auf den Nachthimmel, aus dem heraus der kalte, stürmisch aufbrausende Wind ihr die Tränen in die Augen trieb.
Also doch.
Hatte er es nicht gewusst? Er war nichts als Kununs kleiner Bruder, eine Hand im Nacken, die ihm das Gesicht in ein Kissen drückte.
Es gab nichts mehr zu sagen.
Mattim drehte sich um und ging.
 
Es war so unfair. So verdammt unfair.
Wie konnte Mattim ihr vorwerfen, dass sie sich von Kunun hatte beißen lassen? Sie hatte beim besten Willen nicht die Möglichkeit gehabt, ihm zu entkommen!
Trotzdem war da dieser Moment, dieser Augenblick, der ihr schwer wie ein Stein auf der Seele lag, als sie sich gewünscht hatte, Kunun würde in ihr etwas Kostbares erkennen, nicht nur ein Opfer, nicht nur ein junges Ding, das ihm lästig war, weil es das Geheimnis um sein Haus bedrohte, sondern eine Frau, die ihm gefiel, die begehrenswert war und um die er Mattim beneidete. Einen Augenblick, in dem sie sich gewünscht hatte, er würde sagen: Ich will nicht Réka und auch keine andere, sondern nur dich …
War das denn so verwerflich? Dass sie sich wünschte, von ihm ernst genommen zu werden? Kunun am Fluss, das Foto aus Rékas Schublade … Die Bilder wirbelten durch ihren Geist wie ein Schwarm gieriger Fledermäuse. Es war unmöglich, sie abzuschütteln, vor ihnen zu fliehen. Immer wieder sah sie vor sich, wie Kunun sich zu ihr beugte. Und dann die Dunkelheit. Undurchdringliche Finsternis. Es spielte keine Rolle, dass sie sich sagte: Das ist die Höhle. Das ist nur eine Höhle, und sie gehört Mattim genauso wie Kunun. Magyria gehört Mattim, nicht Kunun, es gehört dem Licht …
Nichts spielte eine Rolle. Wie eine Betrunkene wankte Hanna nach Hause. Der Wind zerzauste ihr Haar. Als sie am frühen Abend aufgebrochen war, war ihr warm gewesen bei der Vorfreude auf das Wiedersehen mit Mattim. Jetzt war ihr nur kalt, so kalt, dass sie immer wieder rannte. Stehen blieb, keuchend, und dann wieder losrannte. Sie wollte sich in keine Straßenbahn, in kein Auto setzen. Nur laufen und laufen und laufen … Automatisch fiel sie in den gleichmäßigen Trab, den sie sich beim Joggen angewöhnt hatte. Der Regen perlte durch ihr Haar, Schneematsch häufte sich in den Rinnsteinen, es spritzte bei jedem ihrer Schritte. Langsam wich die Verzweiflung einer dumpfen Schwere. Die Gedanken hörten auf zu kreisen. Irgendwann spürte sie nur noch ihre Beine, die schmerzenden Lungen, hörte ihren eigenen keuchenden Atem, aber sie weigerte sich anzuhalten. Den Hügel herunter. Über die Straße. Sie lief auf dem Fußweg parallel zum Fluss weiter, zwischen den beiden Uferstraßen, wich Joggern und Spaziergängern mit ihren Hunden aus. Auf einmal sah sie zwei Gestalten vor sich und wusste sofort, um wen es sich handelte.
Die beiden standen auf der Betonkante, direkt am Fluss, einer Bootsanlegestelle für die Ausflugs- und Restaurantboote, die hier zahlreich vor Anker lagen. Die tiefer gelegene Straße trennte sie von dem Fußweg. Hanna konnte nur stehen bleiben und auf die andere Seite starren.
Réka und Kunun. Am Ufer der Donau. Statt nach Hause war sie, ohne es zu merken, direkt hierhergelaufen. Zu Kunun. Natürlich, er trug ihr Blut in sich, das, was er ihr geraubt hatte, und sie war seiner Anziehungskraft gefolgt wie ein kleiner Eisenspan, der sich blindlings und mit untrüglicher Sicherheit, auf einen Magneten ausrichtete.
Hanna blieb stehen und wartete, bis sie wieder ruhig atmen konnte, sie hielt sich die Seite. So schnell sie nur konnte, war sie zu ihm gelaufen, zu ihm, dessen Gesicht vor ihren Augen tanzte, bloß um hier auf ihn zu stoßen - mit Réka.
Sollte das Mädchen um die Uhrzeit nicht zu Hause sein? Was tat sie überhaupt hier? Was tat sie mit Kunun?
Er gehört mir!, wollte Hanna rufen. Mir, nur mir!
Doch sie tat es nicht. Sie starrte auf das Paar, ohne sich zu rühren.
Kununs Hand lag auf Rékas Haar, während er leise auf sie einredete. Réka machte eine Bewegung, als wolle sie von ihm fort, aber sein Arm fing sie wieder ein.
»Ich muss jetzt wirklich nach Hause«, sagte das Mädchen laut, durch das Rauschen des Verkehrs gedämpft. Oder wünschte Hanna sich nur, dass sie das sagte? »Lass mich, ich muss los …«
Küsste er sie, um ihren Widerstand zu brechen? Biss er zu? Hanna konnte es von ihrem Standpunkt aus nicht erkennen. Sie wollte vorspringen, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Réka von ihm wegzuzerren, um ihn für sich alleine zu haben, und etwas anderem, einem Ruf, der aus ihrem wahren Selbst aufstieg: Rette sie! Zieh sie von ihm weg! Sein Einfluss auf sie lässt nach, wenn er jemand anders beißt. Lass es nicht zu, dass er sie zurückbekommt. Es ist Réka, deine Réka! Spinnst du, hier noch herumzustehen und dabei zuzusehen?
Beide Wünsche vereint hätten sie dazu bringen müssen, zu den beiden zu laufen und das Mädchen vor Kunun zu retten, aus welchen Gründen auch immer, aber ihre Füße bohrten sich in den Asphalt, als wollten sie Hanna dazu zwingen, Wurzeln zu schlagen, damit sie sich wie ein Baum fühlen konnte, stark und ruhig und gefasst.
Lass ihn. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um sie zu retten. Er hat Réka gewählt, nicht dich.
Durch ihre Wut und ihren Schmerz darüber stieg ein anderes Bild auf: Mattim. Mattim. Du liebst nur ihn.
Niemand durfte eine solche Anziehungskraft auf sie ausüben wie Kunun, niemand durfte mit einem Blick aus seinen schwarzen Augen alles auslöschen, was ihr etwas bedeutete. Niemand durfte sie mit seinem Biss zu einer willenlosen Sklavin machen. Auch nicht Kunun. Schon gar nicht Kunun.
Das Paar stand ganz ruhig da, eng umschlungen. Kunun trank von Rékas Blut. Hanna wusste es. Wusste es, ballte die Fäuste und spürte die Tränen aus ihren Augen perlen und über die Wangen rinnen. In der Wolle ihres Schals versickerten sie wie schmelzender Schnee. Sie griff nicht ein, sie tat gar nichts. Stattdessen ließ sie zu, dass Kunun das Band, das er zwischen ihnen geknüpft hatte, wieder durchtrennte. Dass er erneut Réka, die sich noch viel weniger wehren konnte, an sich fesselte. Langsam ging Hanna weiter in Richtung Batthyány tér, den Kopf gesenkt.
Magyria 01 - Das Herz des Schattens
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