DREIUNDZWANZIG
BUDAPEST, UNGARN
»Was hast du mit ihr gemacht?«, schrie Mattim. »Wo
wart ihr? Was hast du gemacht?«
Kunun schob ihm eine blasse Hanna in die Arme, die
aussah wie eine Schlafwandlerin. Ihre Augen und ihr Haar schienen
dunkler geworden zu sein, und ihre Haut war blass, als hätte sie
lange in der Finsternis gelebt, fern vom Licht der Sonne.
Kunun schubste sie über die Fahrstuhlschwelle zu
ihm hin.
Hanna starrte Mattim an, als würde sie träumen.
»Was hast du getan!«, rief er wieder und wieder. »Das durftest du
nicht! Ich hasse dich!«
»Das hier ist mein Haus«, erinnerte Kunun mit
gefährlich leiser Stimme, »und ich darf hier alles. Wenn du dich um
deine kleine Freundin sorgst, dann mach ihr endlich klar, dass sie
hier nichts zu suchen hat. Weder dich noch sonst was. Das habe ich
dir schon einmal gesagt, und wenn du es nicht fertigbringst, hast
du dir die Konsequenzen selbst zuzuschreiben.«
Hasserfüllt starrte Mattim auf seinen Bruder, der
sich mit einem leisen, zufriedenen Lächeln abwandte. Die
Fahrstuhltür schloss sich zwischen ihnen.
Mattim legte den Arm um Hanna und führte sie zum
Ausgang. Draußen blieb sie stehen und betrachtete lange den
Löwenkopf.
»Du wirst dich nicht daran erinnern«, sagte Mattim.
»An nichts, was heute geschehen ist. An gar nichts.«
Der kostbare Moment in seinem Zimmer. Ihr Kuss, süß
und innig. All das, was er ihr erzählt hatte, von Akink und seiner
Aufgabe. Ihre Begeisterung darüber, dass sie ihm vielleicht sogar
helfen konnte. Alles verloren.
Er konnte sich nicht vorstellen, Kunun jemals so
gehasst zu haben.
Der junge Mann strich Hanna übers Haar und lehnte
sein Gesicht an ihre Wange. Er hasste nicht nur Kunun, er hasste
sich selbst. Warum hatte er sie nicht beschützen können? Er, der
goldene Prinz mit dem Schwert? Was war er wert, wenn er nicht
einmal sein Mädchen beschützen konnte?
Sie flüsterte etwas, kaum hörbar.
»Was sagst du?«
»Attila.« Sie hob den Kopf, unendlich müde.
»Attila.«
Mattim konnte gar nicht sagen, wie sehr er sie in
diesem Moment liebte. Gerade der Lebensgefahr entronnen, dachte sie
als Erstes an das Kind, für das sie verantwortlich war. »Ich muss
den Jungen abholen.«
»Du wirst zu spät kommen«, sagte er leise. »Aber
vielleicht schaffen wir es sogar noch. Wir fahren mit der Metró.
Komm.«
Sie saßen nebeneinander, Hanna lehnte sich an seine
Schulter. Schweigend. Er kämpfte unterdessen die Tränen nieder,
kämpfte gegen das Gefühl grenzenlosen Verlusts, gegen den Drang,
aufzuspringen, zum Baross tér zurückzukehren und Kunun irgendeine
nutzlose Waffe in den Bauch zu rammen.
»Woran kannst du dich als Letztes erinnern?«,
fragte Mattim schließlich, den Arm immer noch um sie gelegt, die
Lippen an ihrer Stirn. Sie hatte die Augen geschlossen, er dachte
schon, sie schliefe. Doch sie antwortete ihm.
»Dunkelheit«, sagte sie. »Ich fiel ins Dunkle …
Wenn ich die Augen schließe, sehe ich nur Schwarz, und wenn ich sie
öffne, ist es immer noch dunkel. Es ist, als wäre ich blind
geworden. Ich kann immer noch sehen«, bei diesen Worten
richtete sie sich auf und blickte ihn an, in seine
wolkenverhangenen Augen, »ich sehe alle diese Leute hier und auch
dich … Aber gleich dahinter ist die Dunkelheit.«
»Was hat er dir angetan?«, fragte Mattim
untröstlich.
»Das ist seine Seele«, sagte Hanna. »Ich glaube, er
hat mir seine Seele gezeigt.«
»Aber …« Da fiel ihm etwas anderes ein, und er
sagte: »Du erinnerst dich, dass es Kunun war? Dass er es war und
nicht ich? Wie kannst du das wissen? So, wie du aus dem Fahrstuhl
gekommen bist, hat er dir wesentlich mehr weggenommen als eine
Viertelstunde.«
Irritiert runzelte Hanna die Stirn. »Keine Ahnung …
Ich spüre es.« Sie horchte in sich hinein. »Du hinterlässt
irgendwie ein anderes Gefühl. Diesmal ist es wie ein fremder
Geruch, wie die Spuren eines fremden Tieres im Schnee … Das hört
sich unsinnig an, oder?«
»Wir müssen aussteigen.« Er bot ihr den Arm, und
sie ging mit staksigen Schritten neben ihm her. Erst als ihnen oben
der kalte Wind entgegenschlug, ließ sie ihn los, hielt ihr Gesicht
unter das Grau des Himmels und atmete tief ein. »Fühlst du dich
sehr schwach?«, erkundigte er sich besorgt.
»Es geht. Wir müssen noch ein Stück mit dem Bus
fahren. Attila wird sich wundern, dass ich nicht mit dem Auto
komme. Ich habe das Gefühl, er wird mich umwerfen, wenn er auf mich
zugelaufen kommt.« Sie lächelte, ganz ihr altes Lächeln, als wäre
sie nicht von einer Dunkelheit berührt worden, von deren Existenz
sie nichts geahnt hatte.
»Ich werde mich hinter dich stellen. Dann kann er
dich nicht umrennen.«
Er rechnete halb damit, dass sie versuchen würde,
ihn nach Hause zu schicken und vorgeben würde, stark genug zu sein
für ihre Pflichten. Aber sie sagte nicht, dass sie nun alleine
klarkommen würde. Zusammen erwarteten sie den Jungen vor der
Schule, zusammen fuhren sie zu den Szigethys
nach Hause, und obwohl Mattim nicht die geringste Ahnung vom
Kochen hatte, konnte er zumindest Hannas Anweisungen durchführen,
den Kochtopf mit Wasser füllen, Herdplatten einschalten und Teller
auf den Tisch stellen.
Attila brauchte nicht viel, um glücklich zu sein.
Er fand die Unterbrechung in der normalen Routine aufregend,
stopfte die Nudeln in sich hinein, ohne auch nur eine Sekunde mit
dem Reden aufzuhören, und beobachtete fasziniert, wie Mattim zum
ersten Mal in seinem Leben Spaghetti aß und mit dem Besteck
kämpfte.
»Er kann das nicht«, urteilte der Junge so
gnadenlos wie zufrieden. »Er hält die Gabel total falsch.«
Mattim genoss den ungewohnten Geschmack auf der
Zunge. Kunun wollte ihn dazu bringen, mit dem Essen aufzuhören;
genau deswegen war es so großartig, es zu tun. Zu kauen und zu
schlucken, als könnte man verhungern, als könnte man sterben, wenn
man nicht täglich irgendetwas zu sich nahm. Als könnte dieses Essen
die Leere füllen, die er in seiner Brust verspürte, den kalten,
unbeweglichen Stein, der hinter seinen Rippen wohnte.
Nach dem Essen legte Hanna sich hin, und Mattim
konnte Attila dazu bewegen, ihm zu zeigen, wie man das Geschirr
abwusch. Auch die Hausaufgaben machten viel mehr Spaß, wenn ein
Großer dabei war, der ständig dumme Fragen stellte und dieselben
Aufgaben auf ein Blatt Papier kritzelte.
Irgendwann kam Réka und zog die Brauen hoch, als
sie Mattim im Wohnzimmer auf dem Teppich liegen sah, Attila auf dem
Rücken.
»Was macht der denn hier?« Sie musterte den Prinzen
aus zusammengekniffenen Augen, so kritisch, als müsste er gleich
eine Prüfung ablegen. »Du bist der Junge auf dem Foto! Du bist -
Hannas Freund?«
Hanna tauchte im Türrahmen auf. Sie sah wieder
etwas erholter aus. »Szia. Auch wieder da?«
»Mama kommt gleich«, sagte Réka. »Vielleicht sollte
der da lieber gehen.«
Mattim wechselte einen Blick mit seiner Freundin
und sprang trotz Attilas Protesten auf. »Natürlich. Ich will nicht,
dass du Ärger bekommst.«
Es hörte sich so einfach an, aber es war ihm nahezu
unmöglich, zur Tür zu gehen und sich zu verabschieden, es
erforderte eine übermenschliche Kraft, Hanna zum Abschied nicht zu
küssen. Réka stand daneben und starrte die beiden unentwegt an. Es
war, als würde sie ihn mit ihren Augen hinauswischen wie ein
Flöckchen Staub.
»Hast du heute Abend frei?«, fragte er.
Hanna nickte. »Ich werde dich finden.«
»Nein, das wirst du nicht.« Es fiel ihm schwer, das
zu sagen und sie daran zu erinnern, was passiert war.
Sie machte einen Schritt auf ihn zu, sodass sie
ganz nah vor ihm stand. »Jeden Abend stehe ich oben an der Burg und
blicke auf den Fluss und die Stadt hinunter … Schon vergessen? Wenn
man jemanden gut genug kennt, wird man ihn immer finden.«
Mattim nickte. »Dann bis später. Oben an der
Burg.«
Bevor die Tür hinter ihm zufiel, hörte er noch
Rékas ätzende Stimme: »Ich glaube nicht, dass Mama es schätzt, wenn
du deine Freunde mit ins Haus bringst.« So laut, dass er es ja
nicht überhören konnte.
Die Stadt zu ihren Füßen, ein funkelndes
Lichtermeer, das sich bis zum Horizont erstreckte. Mattim stand an
der Mauer und blickte hinunter auf den breiten Fluss, in dem sich
die Lichter spiegelten. Es war kalt, und er wunderte sich, dass es
diesem merkwürdigen Körper möglich war, zu frösteln. Ein Zittern
durchfuhr ihn, und er steckte die Hände in die Jackentaschen.
Erkälten würde er sich nicht. Vampire kannten weder Schnupfen noch
Lungenentzündung. Aber so, wie er Schmerz empfand, wie er den
Geschmack von
Nudeln mit Butter und Salz auf der Zunge spüren konnte, nahm sein
Körper auch die Kälte wahr und teilte ihm mit, was er wusste. Seine
Nackenhaare stellten sich auf, jemand näherte sich …
Er drehte sich um. »Hanna.«
Sie lächelte, doch in ihren Augen lag ein
feierlicher Ernst.
»Du hast mir von Akink erzählt. Von diesem anderen
Fluss, der so ähnlich heißt wie die Donau. Und davon, wie du das
erste Mal durch die Pforte in unsere Welt gelangt bist.« Ihr
Lächeln wurde breiter, strahlender. »Dann …« Sie streckte die Hände
aus, fasste in sein Haar und zog ihn näher zu sich heran. Ihre
Lippen berührten sich, ihr warmer Atem strich über sein Gesicht.
Süß schmeckte sie. Süßer als der Frühling, der noch auf sich warten
ließ, süßer als alle seine Träume.
Ihm war, als müsste sein Herz wieder beginnen zu
schlagen, hoch aufjauchzend vor Glück.
»Du erinnerst dich!«
Sie lächelte nicht mehr, sie grinste. »Ich habe die
Erinnerung zurückgerufen, und sie ist gekommen.«
»Du bist erstaunlich«, sagte er. »Ich glaube, das
ist eine besondere Gabe, die sonst keiner hat.«
Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Das glaube ich
weniger. Du bist es, Mattim. Niemand kann mir die Zeit mit dir
rauben. Niemand. Nicht einmal Kunun.«
Der Name seines Bruders fuhr wie ein Keil zwischen
sie.
»Was ist passiert, dort im Fahrstuhl? Erinnerst du
dich auch daran?«
»Stell dir vor, ich habe den Code.« Sie lachte
leise. »Ich habe ihn ausgetrickst. Ich weiß jetzt, wie man in den
Keller kommt. Ich sagte, zeig mir Magyria, und er ist mit mir
hinuntergefahren, und …«
Mattim war einen Moment sprachlos. »Du hast …?
Hanna, bist du verrückt? Du hast ihn gebeten, dich nach unten
zu bringen? Allein? Warum hätte er das tun sollen?« Sein Gesicht
verfinsterte sich. »Ich habe euch gesehen, durchs Glas, solange ihr
noch im Erdgeschoss wart. Wie du mit ihm gesprochen hast. So -
vertraut. Als würdet ihr euch schon lange kennen. Du hast dich
überhaupt nicht gewehrt, du hast ihn angeschaut und ihn so
angelächelt, wie du mich immer anlächelst.« Er merkte, dass er sie
verletzt hatte, dass ihr Lächeln erstarb, trotzdem konnte er
einfach nicht aufhören. »Und dann fährst du mit ihm nach unten. Was
glaubst du, wie ich mich dabei gefühlt habe? Ich dachte, er bringt
dich um! Ich dachte, er tötet dich und lässt deine Leiche in
Magyria, damit niemand sie jemals findet. Und ich konnte euch nicht
folgen, ich konnte nichts tun.«
»Er hätte mich nicht umgebracht«, sagte Hanna.
»Nicht, wenn ich bei Tageslicht sein Haus betreten habe und jemand
sich daran erinnern könnte.«
»Du hast es dir also genau überlegt, was er alles
tun würde? Allmählich verstehe ich gar nichts mehr. Du weißt, wer
Kunun ist. Wenn du dich an alles erinnerst, was ich dir erzählt
habe … Und dann machst du Kunun schöne Augen, damit er mit dir in
den Keller fährt?«
Bis jetzt, solange er um sie besorgt gewesen war,
hatte Mattim verdrängt, was er empfunden hatte, während sie mit
Kunun im Fahrstuhl gewesen war. Er hatte beobachtet, wie sie zu ihm
aufgeblickt hatte, die schönste Frau der Welt mit ihrem
geheimnisvollen Lächeln. Nie, niemals hätte sie Kunun so ansehen
dürfen!
»Du wolltest es, nicht wahr?«, fragte er. »Du
wolltest, dass er dich beißt.«
»Es war für dich!«, rief Hanna. »Weil du den Code
brauchst. Weil ich dir helfen wollte. Weil …«
»Ich will den Code nicht!«, schrie Mattim. »Nicht,
wenn ich ihn damit bezahlen muss, dass du dich Kunun an den Hals
wirfst!«
Hannas Unterlippe bebte. »Du tust ja, als wenn ich
mit
ihm geschlafen hätte. Er hat mich gebissen, Mattim. Nur gebissen.
Es hat richtig wehgetan. Und ja, ich habe versucht, mir nicht
anmerken zu lassen, dass ich Angst habe. Ich habe versucht, ihn
dazu zu bringen, mir den Keller zu zeigen. Kunun hätte mich sowieso
gebissen. Er wollte es schon oben tun, im Erdgeschoss. Ich dachte
nur, wenn ich ihn vorher dazu bringen kann, mir etwas
Entscheidendes zu verraten, wenn er den Code eingibt und du siehst
das vielleicht durch die Scheibe. Ich war mir nicht sicher, ob ich
mich erinnern würde. Aber ich dachte, wenn du es vielleicht siehst
…«
»Glaubst du allen Ernstes, ich denke noch einen
Augenblick lang an diesen verfluchten Code, wenn du mit Kunun in
einen Fahrstuhl eingesperrt bist!«
Ihre Stimme wurde immer leiser. »Ich wollte den
Zeitpunkt bestimmen. Es war mir nicht klar, dass es dir lieber ist,
wenn ich weine und schreie und ihm das Gesicht zerkratze.«
Hass hatte er empfunden, auf seinen Bruder, und
eine Angst, die ihn schier zerreißen wollte. Um Hanna. Er hatte
nicht gewusst, dass Hass und Angst zusammen den Namen Eifersucht
trugen. Er wollte sie um Verzeihung bitten, er wollte ihr sagen,
dass es ihm leidtat, dass sie keine Schuld traf, dass er stolz
darauf war, wie tapfer und besonnen sie reagiert hatte, als Kunun
so unverhofft nach Hause gekommen war. Aber er konnte das Bild
nicht auslöschen, konnte es nicht aus seinen Augen reißen, wie sie
beide im Fahrstuhl standen, seine Hanna und der Prinz der Schatten,
dicht an dicht und einander so zugewandt, dass sie wie Liebende
wirkten. Hanna, seine wunderbare, liebliche Hanna. Und Kunun, groß,
dunkel und makellos schön, der Prinz, dem die Herzen zuflogen … Er
selbst, ausgeschlossen, stand draußen, ein hilfloser Beobachter,
unfähig, irgendetwas zu tun.
»Sag es mir«, forderte er, statt sich zu
entschuldigen, statt
sie in den Arm zu nehmen, »dass es keinen Augenblick gab, nicht
den winzigsten Moment, in dem du dir gewünscht hast, er würde dich
beißen, ganz egal, was es dich kostet.«
Wenn sie es ausgesprochen hätte, wenn sie ihm
versichert hätte, dass sie nie auch nur den Gedanken gehabt hatte,
ihn zu verraten - dann wäre alles gut gewesen. Dass sie auf eine
Weise mit Kunun gespielt hatte, die er weder verstehen noch
billigen konnte, würde er irgendwie annehmen können. Aber Hanna
schwieg. Sie wandte den Blick von ihm ab, auf die Stadt, auf den
Nachthimmel, aus dem heraus der kalte, stürmisch aufbrausende Wind
ihr die Tränen in die Augen trieb.
Also doch.
Hatte er es nicht gewusst? Er war nichts als Kununs
kleiner Bruder, eine Hand im Nacken, die ihm das Gesicht in ein
Kissen drückte.
Es gab nichts mehr zu sagen.
Mattim drehte sich um und ging.
Es war so unfair. So verdammt unfair.
Wie konnte Mattim ihr vorwerfen, dass sie sich von
Kunun hatte beißen lassen? Sie hatte beim besten Willen nicht die
Möglichkeit gehabt, ihm zu entkommen!
Trotzdem war da dieser Moment, dieser Augenblick,
der ihr schwer wie ein Stein auf der Seele lag, als sie sich
gewünscht hatte, Kunun würde in ihr etwas Kostbares erkennen, nicht
nur ein Opfer, nicht nur ein junges Ding, das ihm lästig war, weil
es das Geheimnis um sein Haus bedrohte, sondern eine Frau, die ihm
gefiel, die begehrenswert war und um die er Mattim beneidete. Einen
Augenblick, in dem sie sich gewünscht hatte, er würde sagen: Ich
will nicht Réka und auch keine andere, sondern nur dich …
War das denn so verwerflich? Dass sie sich
wünschte, von ihm ernst genommen zu werden? Kunun am Fluss, das
Foto aus Rékas Schublade … Die Bilder wirbelten durch
ihren Geist wie ein Schwarm gieriger Fledermäuse. Es war
unmöglich, sie abzuschütteln, vor ihnen zu fliehen. Immer wieder
sah sie vor sich, wie Kunun sich zu ihr beugte. Und dann die
Dunkelheit. Undurchdringliche Finsternis. Es spielte keine Rolle,
dass sie sich sagte: Das ist die Höhle. Das ist nur eine Höhle,
und sie gehört Mattim genauso wie Kunun. Magyria gehört Mattim,
nicht Kunun, es gehört dem Licht …
Nichts spielte eine Rolle. Wie eine Betrunkene
wankte Hanna nach Hause. Der Wind zerzauste ihr Haar. Als sie am
frühen Abend aufgebrochen war, war ihr warm gewesen bei der
Vorfreude auf das Wiedersehen mit Mattim. Jetzt war ihr nur kalt,
so kalt, dass sie immer wieder rannte. Stehen blieb, keuchend, und
dann wieder losrannte. Sie wollte sich in keine Straßenbahn, in
kein Auto setzen. Nur laufen und laufen und laufen … Automatisch
fiel sie in den gleichmäßigen Trab, den sie sich beim Joggen
angewöhnt hatte. Der Regen perlte durch ihr Haar, Schneematsch
häufte sich in den Rinnsteinen, es spritzte bei jedem ihrer
Schritte. Langsam wich die Verzweiflung einer dumpfen Schwere. Die
Gedanken hörten auf zu kreisen. Irgendwann spürte sie nur noch ihre
Beine, die schmerzenden Lungen, hörte ihren eigenen keuchenden
Atem, aber sie weigerte sich anzuhalten. Den Hügel herunter. Über
die Straße. Sie lief auf dem Fußweg parallel zum Fluss weiter,
zwischen den beiden Uferstraßen, wich Joggern und Spaziergängern
mit ihren Hunden aus. Auf einmal sah sie zwei Gestalten vor sich
und wusste sofort, um wen es sich handelte.
Die beiden standen auf der Betonkante, direkt am
Fluss, einer Bootsanlegestelle für die Ausflugs- und
Restaurantboote, die hier zahlreich vor Anker lagen. Die tiefer
gelegene Straße trennte sie von dem Fußweg. Hanna konnte nur stehen
bleiben und auf die andere Seite starren.
Réka und Kunun. Am Ufer der Donau. Statt nach Hause
war sie, ohne es zu merken, direkt hierhergelaufen. Zu Kunun.
Natürlich, er trug ihr Blut in sich, das, was er ihr geraubt
hatte, und sie war seiner Anziehungskraft gefolgt wie ein kleiner
Eisenspan, der sich blindlings und mit untrüglicher Sicherheit, auf
einen Magneten ausrichtete.
Hanna blieb stehen und wartete, bis sie wieder
ruhig atmen konnte, sie hielt sich die Seite. So schnell sie nur
konnte, war sie zu ihm gelaufen, zu ihm, dessen Gesicht vor ihren
Augen tanzte, bloß um hier auf ihn zu stoßen - mit Réka.
Sollte das Mädchen um die Uhrzeit nicht zu Hause
sein? Was tat sie überhaupt hier? Was tat sie mit Kunun?
Er gehört mir!, wollte Hanna rufen. Mir, nur
mir!
Doch sie tat es nicht. Sie starrte auf das Paar,
ohne sich zu rühren.
Kununs Hand lag auf Rékas Haar, während er leise
auf sie einredete. Réka machte eine Bewegung, als wolle sie von ihm
fort, aber sein Arm fing sie wieder ein.
»Ich muss jetzt wirklich nach Hause«, sagte das
Mädchen laut, durch das Rauschen des Verkehrs gedämpft. Oder
wünschte Hanna sich nur, dass sie das sagte? »Lass mich, ich muss
los …«
Küsste er sie, um ihren Widerstand zu brechen? Biss
er zu? Hanna konnte es von ihrem Standpunkt aus nicht erkennen. Sie
wollte vorspringen, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Réka
von ihm wegzuzerren, um ihn für sich alleine zu haben, und etwas
anderem, einem Ruf, der aus ihrem wahren Selbst aufstieg: Rette
sie! Zieh sie von ihm weg! Sein Einfluss auf sie lässt nach, wenn
er jemand anders beißt. Lass es nicht zu, dass er sie
zurückbekommt. Es ist Réka, deine Réka! Spinnst du, hier noch
herumzustehen und dabei zuzusehen?
Beide Wünsche vereint hätten sie dazu bringen
müssen, zu den beiden zu laufen und das Mädchen vor Kunun zu
retten, aus welchen Gründen auch immer, aber ihre Füße bohrten sich
in den Asphalt, als wollten sie Hanna dazu
zwingen, Wurzeln zu schlagen, damit sie sich wie ein Baum fühlen
konnte, stark und ruhig und gefasst.
Lass ihn. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt,
um sie zu retten. Er hat Réka gewählt, nicht dich.
Durch ihre Wut und ihren Schmerz darüber stieg ein
anderes Bild auf: Mattim. Mattim. Du liebst nur ihn.
Niemand durfte eine solche Anziehungskraft auf sie
ausüben wie Kunun, niemand durfte mit einem Blick aus seinen
schwarzen Augen alles auslöschen, was ihr etwas bedeutete. Niemand
durfte sie mit seinem Biss zu einer willenlosen Sklavin machen.
Auch nicht Kunun. Schon gar nicht Kunun.
Das Paar stand ganz ruhig da, eng umschlungen.
Kunun trank von Rékas Blut. Hanna wusste es. Wusste es, ballte die
Fäuste und spürte die Tränen aus ihren Augen perlen und über die
Wangen rinnen. In der Wolle ihres Schals versickerten sie wie
schmelzender Schnee. Sie griff nicht ein, sie tat gar nichts.
Stattdessen ließ sie zu, dass Kunun das Band, das er zwischen ihnen
geknüpft hatte, wieder durchtrennte. Dass er erneut Réka, die sich
noch viel weniger wehren konnte, an sich fesselte. Langsam ging
Hanna weiter in Richtung Batthyány tér, den Kopf gesenkt.