SECHZEHN
BUDAPEST, UNGARN
Zum zweiten Mal nach Ungarn zu kommen war wie eine
Heimkehr. Es tat Hanna leid, Weihnachten und Silvester hier
verpasst zu haben. Sie hatte geglaubt, dass sie es genießen würde,
ein wenig Abstand zu gewinnen. Weit weg von Budapest, weit weg von
der bohrenden Frage, wie sie Réka helfen sollte. Die ganze
Vampirgeschichte würde ihr aus der Entfernung lächerlich vorkommen,
und sie würde mit klarem Durchblick neu anfangen können. Doch
natürlich hatte sie die ganze Zeit an nichts anderes gedacht. Ihr
altes Kinderzimmer, der Tannenbaum, die Geschenke - das alles hatte
ihr noch nie so wenig bedeutet. Es machte auch keinen Spaß, von
Ungarn zu erzählen, von der Familie und den Kindern, denn sie
konnte nie alles loswerden, was ihr auf der Zunge lag.
»Ich hatte Angst, du kommst nicht zurück.« Attila
drückte sie so fest, dass sie ihn kitzeln musste, um sich zu
befreien. Sie rollten lachend über den Boden.
Sogar von Réka gab es eine Umarmung, etwas
verhaltener zwar, aber ihre Stimme klang aufrichtig, als sie sagte:
»Gut, dass du wieder da bist. Du gehörst einfach dazu. Es war ganz
komisch, Weihnachten ohne dich.«
Das Mädchen wirkte blass, fast durchscheinend, ein
wandelndes Gespenst.
Mit einem einzigen Vorsatz für das neue Jahr war
Hanna nach Budapest zurückgekehrt: Kunun auf frischer Tat zu
ertappen.
Freitags kam Réka erst gegen vier Uhr nach Hause,
weil sie noch zum Sport ging. Ob sie das tatsächlich tat? Sie sah
nicht aus, als würde sie überhaupt irgendetwas für ihre Gesundheit
tun.
Freitagmittag holte Hanna Attila von der Schule ab
und befahl ihm, Hausaufgaben zu machen. Das war der beste Weg, um
dafür zu sorgen, dass er sich wutschnaubend in sein Zimmer
zurückzog und die Tür zuknallte. Dabei hätte sie die Sache längst
durchschauen müssen. Wenn sie wollte, dass er brav über seinen
Heften saß, musste sie ihm etwas Tolles in Aussicht stellen.
»Wollen wir heute Nachmittag losziehen und Réka
abholen? Das geht allerdings nur, wenn du rechtzeitig fertig
bist.«
»Fahren wir mit dem Bus?«
Attila fuhr für sein Leben gern mit öffentlichen
Verkehrsmitteln. Als Hanna nickte, holte er sofort seine
Schulaufgaben aus dem Ranzen und war fünf Minuten später fertig.
Sonst kontrollierte sie immer, was er getan hatte, denn der Junge
neigte dazu, so schnell zu schreiben, dass man weder Buchstaben
noch Zahlen erkennen konnte. Heute wollte Hanna jedoch rechtzeitig
beim Gymnasium sein und fand es ausnahmsweise vertretbar,
nachlässig zu sein.
»Na, dann komm.«
Réka würde sich vielleicht wundern, dass sie beide
vor der Schule aufkreuzten, aber wenigstens hatte es dann nicht den
Anschein, als würde Hanna ihr hinterherspionieren. Wir wollten uns
nur ansehen, wie du Handball spielst, würde sie sagen. Ist doch
kein Problem, oder?
Aufgeregt zappelte Attila auf dem Sitz herum. Er
konnte sich nicht entscheiden, ob er lieber aus dem Fenster schauen
oder die anderen Fahrgäste beobachten sollte. Sonst machte es Hanna
nervös, wenn er ständig hin und her rutschte, doch heute störte es
sie gar nicht, so sehr war sie mit ihren eigenen bösen Vorahnungen
beschäftigt. Das letzte Stück
gingen sie zu Fuß, wobei Attila unermüdlich über das Pflaster
hüpfte und sang.
»Das ist die Schule«, sagte er, als sie durch den
Zaun auf die Lehrerparkplätze hinabspähten. »Wo ist denn die
Turnhalle?«
»Ich weiß es nicht genau«, musste Hanna zugeben.
»Ich hatte gehofft, du könntest mir das sagen. Vielleicht auf der
Rückseite?«
Es war noch zu früh. Réka würde gerade erst mit dem
Unterricht fertig sein und sich umziehen gehen - oder auch nicht.
Denn am Zaun, nur wenige Meter von ihnen entfernt, stand Kunun. Er
musste weiter weg geparkt haben, nicht willens, an einer der
allgegenwärtigen Kameras vorbei auf den Schulhof zu fahren. Hanna
freute sich tierisch über diesen Moment, als er sie bemerkte und
ein erschrockener, ertappter Ausdruck über sein Gesicht huschte. Er
hatte sich zwar sofort wieder in der Gewalt, aber es fühlte sich an
wie ein erster Sieg. Sie schickte Attila los, um auf dem Schulhof
nach seiner Schwester Ausschau zu halten, und ging auf den jungen
Mann zu.
»Hanna«, sagte er nur. Es klang wie ein leiser
Tadel, als hätte sie etwas ausgefressen.
Sie nahm all ihren Mut zusammen. Es fiel ihr nicht
einmal so schwer, wie sie gedacht hatte, denn in ihr war ein
solcher Aufruhr, ein Wirbel von Wut und Sorge, der ihr die Kraft
verlieh, für ihre Schutzbefohlene zu kämpfen.
»Lass Réka in Ruhe«, sagte sie, hingerissen von
ihrer eigenen Stärke. »Hast du verstanden? Lass sie in Ruhe!«
»Sonst was?«, fragte er mit einem unerträglichen
Lächeln.
»Sonst gehe ich zur Polizei«, verkündete sie, doch
er lachte nur leise. Hanna war so wütend, dass sie ihn mit beiden
Händen vor die Brust stieß. »Mir kannst du nichts vormachen. Ich
weiß, was du bist.«
»Ach ja?« Kununs Hände schnellten vor, und er
umklammerte
ihre Handgelenke. Sie konnte nicht anders, als ihm in die Augen zu
schauen, die wie schwarze Fenster in seine dunkle Seele waren. Sein
Gesicht kam ihr auf einmal gar nicht mehr schön vor. Er starrte sie
an mit dem fremdartigen, unergründlichen Blick eines Raubtiers, das
seine Beute fixiert.
»Lass mich los«, ächzte sie. Auf einmal hatte sie
keine Stimme mehr. Zu gewaltig war die Erkenntnis, dass die Gefahr
auch ihr selbst galt, dass nicht Réka gerettet werden musste,
sondern sie selbst. Hier stand sie mit ihm, am helllichten Tag, in
einer Wohnsiedlung, und konnte sich weder rühren noch schreien, als
er sich vorbeugte. In seinen Augen blitzte ein goldener Glanz auf.
Sie spürte schon seinen Atem auf ihrer Haut -
Da schrie jemand anders für sie.
»Kunun! Hanna!« Es war Réka. Sie stand da, die
Schultasche glitt ihr aus den Händen, Attila verharrte
triumphierend neben ihr. Ihre Augen weiteten sich, und sie war
wieder so blass wie eine Erfrorene. Alles Leben war aus ihren Zügen
gewichen und machte dem Entsetzen Platz.
»Oh, nein, nein!« Das Mädchen drehte sich um und
rannte schluchzend davon.
Kunun fluchte, ließ Hanna stehen und eilte ihr
nach. »Réka! Warte!«
Attila zog die liegengebliebene Tasche über die
Steine. »Hat er dich geküsst?«, erkundigte er sich neugierig.
»Nein«, erwiderte Hanna.
»Réka ist ganz schön sauer.«
»Ich weiß.« Sie konnte es immer noch nicht fassen,
was fast passiert wäre. Auf einmal war ihr speiübel, sie schaffte
es gerade noch an einen Zaun und würgte dort alles heraus.
Attila beobachtete sie fasziniert und gab
fachmännische Kommentare von sich. »Man konnte genau sehen, was es
heute zu Mittag gab.«
Zuvorkommend reichte er ihr sogar ein
Taschentuch.
Schwer atmend wischte Hanna sich über die
schweißnasse Stirn.
»Geht’s wieder? Können wir jetzt in die
Sporthalle?«
»Réka wird nicht dort sein.«
»Ich würde trotzdem gerne zusehen.«
Es gab nichts, was sie sonst tun konnten. Réka
suchen? Nach Hause fahren? Es würde unerträglich sein, jetzt zu
Hause zu sitzen und auf sie zu warten.
»Na gut«, sagte Hanna mit zittriger Stimme.
»Schauen wir uns ein Spiel an.«
Zu Hause erwartete sie Klaviermusik. Demnach war
Mónika da. Attila wollte sofort losstürzen; Hanna konnte ihn gerade
noch am Arm erwischen.
»Nicht. Du weißt, dass deine Mutter es nicht leiden
kann, beim Spielen gestört zu werden. Vielleicht wäre es besser,
wenn du …« Sie kam nicht dazu, ihn um den Gefallen zu bitten, nicht
alles zu erzählen. Mit dem markerschütternden Ruf: »Hanna hat
gekotzt!« stürmte er los.
Sie seufzte. Die Schultasche stellte sie vor Rékas
Tür ab. Dann verzog sie sich leise in ihr eigenes Zimmer und setzte
sich aufs Bett. Sie konnte nicht denken. Das war merkwürdig. Sie
hatte keine Ahnung, was sie planen sollte oder was als Nächstes
geschehen würde. Sie wusste nur, dass es fürchterlich
schiefgegangen war. Réka hasste sie jetzt. Trotzdem, wenn sie nicht
gekommen wäre … Hanna merkte, dass sie fror, und rieb sich die
Oberarme, aber das Frösteln kam von innen. Es wurde auch nicht
besser, als sie sich eine Decke um die Schultern schlang.
Ich weiß, was du bist …
»Wunderbar, Hanna«, murmelte sie bitter.
»Genauso führt man Kriege. Immer nur heraus mit allem, was du
weißt. Lass deinen Gegner ja nicht im Unklaren darüber.«
Der Zeiger der Uhr rückte unerbittlich voran.
Demnächst musste sie sich um das Abendessen kümmern. Sie musste
Attila dazu bringen, seine Mutter in Ruhe zu lassen, damit Frau
Szigethy ungestört spielen konnte. Sie musste …
Stattdessen saß sie nur da und fühlte sich wie
gelähmt.
Als jemand die Tür öffnete, schrak sie zusammen,
doch es war nur Mónika.
»Du bist krank, Hanna? Attila hat erzählt, es geht
dir nicht gut?«
Sie musste sich nicht verstellen. »Ja, es geht mir
nicht so besonders. Tut mir leid.« Ich wäre fast von einem
Vampir gebissen worden, aber sonst geht es mir gut, danke der
Nachfrage. Natürlich versuchte sie zu lächeln.
»Das braucht dir nicht leidzutun«, meinte Mónika
freundlich. »Brauchst du etwas? Soll ich dich zum Arzt
fahren?«
»Ist nicht nötig«, sagte Hanna schnell. »Ich hab
bloß meine Tage. Da ist mir manchmal nicht gut.«
»Dann ruh dich am besten aus.« Die Gastmutter
schloss die Tür wieder sacht. Wahrscheinlich hatte sie etwas
vergessen, denn gleich darauf hörte Hanna erneut, wie jemand die
Klinke herunterdrückte. Nur diesmal war es nicht Mónika.
Réka baute sich vor Hannas Bett auf und funkelte
sie von oben herab an. »Du legst dich hin und spielst krank? Um mir
nicht in die Augen schauen zu müssen? Nur zu! Sieh mich an, trau
dich! Wie ist es, wenn man versucht, jemandem den Freund
auszuspannen, he?«
»Ich habe nicht …«, begann Hanna, doch Réka ließ
sie nicht ausreden.
»Jetzt durchschaue ich dich endlich. Du hast mir
Kunun von Anfang an nicht gegönnt. Ständig hast du ihn
schlechtgemacht, damit du ihn dir selbst schnappen kannst! Ich
hasse dich!« Tränen stürzten ihr aus den Augen. »Ich hasse dich
wirklich! Aber du wirst dir an Kunun die Zähne ausbeißen. Er liebt
mich und nur mich. Ich werde dafür sorgen, dass Mama und Papa dich
zurück nach Deutschland schicken. Du wirst schon sehen, das mache
ich!«
»Kunun wollte mich nicht küssen«, sagte Hanna müde.
»Er wollte mich beißen.«
»Du spinnst doch!« Um Rékas Augen lagen dunkle
Ringe. Blass, erschöpft und leer wirkte das Mädchen.
Hanna versuchte, alle Vorwürfe an sich abprallen zu
lassen. »Wie geht es deinem Hals? Alles in Ordnung? Wetten, dass du
dich nicht daran erinnern kannst, was passiert ist, nachdem er dich
eingeholt hat?«
»Er - er liebt mich«, wiederholte Réka stur, war
allerdings noch eine Spur blasser geworden. »Und du verschwindest
jetzt hier. Fang am besten gleich an zu packen.«
»Réka?« Mónika streckte ihr freundliches Gesicht
durch die Tür. »Was schreist du hier so herum? Hanna braucht Ruhe.
Komm an den Tisch.«
»Ich bin gleich da.« Sobald ihre Mutter gegangen
war, trat sie Hanna mit voller Wucht gegen das Schienbein. »Du
gehst«, zischte sie. »Wo auch immer du hergekommen bist.«
»Kannst du das auch auf Deutsch sagen? Wenn nicht,
habe ich hier meine Pflicht noch nicht erfüllt.«
Außer sich vor Wut hob Réka die Hand, aber Hanna
ließ sich nicht einfach so schlagen. Die beiden rollten zusammen
aufs Bett. Réka bekam ihre Haare zu fassen und zog so heftig, dass
Hanna vor Schmerz aufheulte. Dennoch rangen sie beide gedämpft;
keine von ihnen wollte die Mutter das hier sehen lassen. Das
Au-pair-Mädchen mit der Tochter am Raufen - da konnte sie gleich
einpacken.
Hanna zwang Réka nach unten und zerrte an deren
Halstuch. »Zeig her. Nun zeig schon.«
»Du bist ja verrückt! Du Wahnsinnige!«
»Das hier sind also Mückenstiche? Sieht das etwa
aus wie Mückenstiche?«
Ein großer Blutfleck beschmutzte das bunte Tuch.
»Schau dir das an. Schau endlich hin! Kunun ist ein Vampir.«
»Lass mich los! Ich hasse dich!«
»Sieh endlich hin!«
Réka riss sich los und stürmte schluchzend
hinaus.
Es dauerte eine Weile, bis Hannas Herzschlag sich
wieder beruhigte. Was war sie nur für eine Idiotin! Worum ging es
überhaupt - darum, Réka zu retten, oder zu beweisen, wer Recht
hatte? Wenn sie dem Mädchen helfen wollte, nützte es gar nichts, es
so gegen sich aufzubringen.
Sie musste beweisen, dass Kunun ein Vampir war.
Irgendwie musste sie es Réka beweisen. Ihr den Beweis auf den
Schreibtisch legen, damit ihr Schützling sich in Ruhe damit
auseinandersetzen konnte. Ein Foto. Ein Film. Irgendetwas in der
Art, vielleicht gar ein aufgezeichnetes Geständnis, so wie sie es
in den Filmen immer machten.
Hanna begann hastig in ihren Sachen zu kramen, bis
sie ihr Handy fand. Der Akku war noch fast voll.
Tu nichts Unüberlegtes, sagte sie zu sich selbst.
Ganz ruhig. Geh die Sache überlegt an, damit es nicht wieder so
endet.
Tatsache war, dass sie vermutlich sehr wenig Zeit
hatte. Sie hatte keine Ahnung, was Réka ihren Eltern erzählen
würde, um sie loszuwerden. Dass sie ihr den Freund ausgespannt
hatte? Womöglich würde sie irgendetwas erfinden. Falls es ihr
gelang, Ferenc und Mónika auf ihre Seite zu ziehen, würde sie
höchstwahrscheinlich schon sehr bald die Koffer packen müssen. Also
musste sie jetzt sofort los. Heute Abend noch. Falls etwas
schiefging, musste sie auf jeden Fall Vorsorge treffen.
Hanna führte kein Tagebuch; das einzige Heft, in
das sie regelmäßig hineinblickte, war ihr Vokabelheft vom
Sprachkurs. Kurz entschlossen schlug sie es auf und schrieb ein
paar Sätze hinein. Dann schob sie es zurück ins Fach zu ihrem
Lehrbuch. Einen Moment lang zögerte sie, dann warf sie die
Schranktür entschlossen zu.
An der Tür hielt sie noch einmal inne. Sie blickte
zurück
in das Zimmer, ob sie etwas vergessen hatte, und zugleich war es,
als würde sie zum letzten Mal den kleinen Raum betrachten, der für
kurze Zeit ihr Zuhause gewesen war. Wenn sie zurückkam, würde sie
vielleicht schon nicht mehr Au-pair-Mädchen sein. Es sei denn, sie
konnte Réka beweisen, wer Kunun war, und die würde ihre
Anschuldigungen zurücknehmen.
Leise schlich sie die Treppe hinunter. Die Familie
saß beim Abendessen, aus der Küche waren gedämpfte Stimmen zu
hören. Nur Attilas Stimme war alles andere als gedämpft. Lautstark
erzählte er irgendetwas aus der Schule.
Hanna zog die Haustür sacht hinter sich zu.
Draußen war es schon dunkel, ein kühler Wind fuhr
durch ihren Mantel und wirbelte durch ihr Haar. Hinter ihr fiel der
Lichtschein aus den Fenstern auf den stillen Garten.
Erst als sie außer Sichtweite war, einige Häuser
weiter, rief sie Mária an. So abweisend die Ungarin sich auch
benahm, es war wichtig, wenigstens eine Person ins Vertrauen zu
ziehen. Aber Mária war nicht da, und Hanna konnte nur auf den
Anrufbeantworter sprechen. Danach atmete sie tief durch. Mehr
konnte sie nicht tun, um sich abzusichern. Jetzt musste sie die
Sache durchziehen.