SECHS
BUDAPEST, UNGARN
Hanna hatte Attila zur Schule gebracht, nun gehörte das Haus ihr. Der Sprachkurs war am Dienstag, heute konnte sie tun, was sie wollte. Vielleicht mal wieder joggen gehen? Sie vermisste die Bewegung jetzt schon, obwohl sie erst seit einem halben Jahr regelmäßig lief.
Als sie die Treppe hochgehen wollte, um sich umzuziehen, erstarrte sie. Was waren das für Geräusche? Außer ihr war niemand da. Ferenc und Mónika waren arbeiten, die Kinder in der Schule. Ein Einbrecher? Sie wartete, bis ihr flatterndes Herz sich beruhigt hatte.
»Unsinn«, sagte sie zu sich selbst. »Du kennst dich hier noch nicht aus. Dafür gibt es eine Erklärung.«
Auf leisen Sohlen schlich sie die Stufen wieder hinunter und lugte um die Ecke ins Wohnzimmer.
Eine junge Frau in ihrem Alter wischte gerade den Couchtisch ab und legte die Zeitschriften mit etwas mehr Nachdruck als nötig wieder darauf ab. Aus jeder ihrer Bewegungen sprach ein ungeheurer Ärger.
Plötzlich hob sie den Kopf und sah Hanna an der Tür stehen. Sie zischte etwas auf Ungarisch, schüttelte dann den Kopf und putzte wütend weiter.
»Ich dachte, die Putzfrau kommt nicht mehr«, murmelte Hanna und fühlte sich reingelegt; Mónika hätte ihr ruhig sagen können, dass sie wieder jemanden eingestellt hatte.
»Ich bin nicht die Putzfrau«, erwiderte die Ungarin ärgerlich auf Deutsch.
»Wer bist du dann?«, fragte Hanna überrascht.
»Das ist meine Oma.« Sie hatte sichtlich Mühe mit der Sprache und wechselte ins Englische. »Meine Oma putzt hier. Sie will eigentlich nicht mehr, aber sie braucht das Geld.«
»Deshalb bist du gekommen?«
»Meine Mutter hat mich hergeschickt«, erklärte die Angesprochene unzufrieden.
Hanna machte ein paar Schritte auf sie zu. »Ich bin Hanna.«
»Mária.«
»Du putzt wohl nicht so gern, wie?«
Das ungarische Mädchen schnaubte durch die Nase.
»Soll ich dir helfen? Aber ich hab eigentlich keine Ahnung, was man hier alles machen muss.«
»Du brauchst nicht zu helfen. Das Geld ist für meine Oma. Sie will mit diesem Haus nichts mehr zu tun haben. Und ich auch nicht.«
Ihr abweisender Blick trieb Hanna aus dem Zimmer. Heimlich seufzend zog sie ihre Joggingschuhe an; als sie die Tür schloss, brummte drinnen der Staubsauger. Auch er hörte sich wütend an.
 
»Eine Mária hat heute hier geputzt.« Hanna war immer noch verwundert über die merkwürdige Begegnung vom Vormittag. Aber es erstaunte sie noch mehr, wie Réka auf diese harmlose Bemerkung reagierte.
Ihr Gesicht verfinsterte sich. »Mária. Ich hasse Mária.«
»Wieso? Kennst du sie? Ich dachte, ihre Oma putzt sonst bei euch?«
»Mária passt immer auf uns auf«, erklärte Attila fröhlich.
»Gar nicht«, widersprach Réka mit einem Blick, der ein empfindliches Gemüt zum Weinen gebracht hätte.
»Tut sie wohl!«
Mónika trat in die Küche. »Was ist denn hier los?« Sie hatte so lange im Wohnzimmer Klavier gespielt, dass Hanna sich immer noch wie berauscht fühlte und die Stille ihr fremd vorkam.
»Ich will Mária«, heulte Attila.
»Mária kommt leider nicht mehr«, sagte seine Mutter. »Sie will nicht mehr auf euch aufpassen. Nein, Attila, das ist nicht deine Schuld.«
Réka knallte ihre Tasse auf den Tisch und verschwand aus der Küche.
»Was hat sie denn?«, fragte Hanna. »Ist da etwas vorgefallen, zwischen ihr und Mária?«
Mónika seufzte. »Keine Ahnung. Sie macht aus allem so ein Geheimnis! Mária hat immer auf die beiden aufgepasst, wenn wir abends wegwollten. Sie ist nett und war sehr zuverlässig, sie kam sogar mit Réka klar. Aber dann war auf einmal Schluss. Eigentlich sind wir nur deswegen auf die Idee gekommen, jemanden dauerhaft hier zu haben. Tja, du verdankst es im Grunde Mária, dass du hier bist.«
»Sie hat nicht gesagt, warum sie nicht mehr kommen wollte?«
»Sie hat so etwas wie ein Gespenst gesehen.« Mónika lachte entschuldigend. »Sie glaubt, unter Rékas Freunden wären Geister oder so. Jedenfalls hat sie sogar die arme, alte Magdolna so verwirrt, dass sie auch nicht mehr hier arbeiten will. Aber ich habe sie hoffentlich bald so weit, dass sie wieder für uns putzt.« In ihren klaren Augen lag eine Entschlossenheit, die Hanna noch gar nicht an ihr kannte. »Dass Márias Mutter sie hergeschickt hat, ist schon mal ein gutes Zeichen. Dann ist auch Magdolna bald wieder da, und du kannst aufhören, das Staubtuch zu schwingen.«
»Réka ist mit Geistern befreundet?«
»Manche von den älteren Leuten hier sind ziemlich abergläubisch. Aber von Mária hätte ich wirklich mehr erwartet. Sie ist arbeitslos, obwohl sie einen ziemlich guten Schulabschluss hat, vielleicht liegt es daran.«
Hanna konnte den Zusammenhang nicht erkennen, enthielt sich jedoch eines Kommentars. Sie verstand jetzt wenigstens, warum Réka so schlecht auf Mária zu sprechen war - wenn diese so etwas über ihre Freunde behauptete, konnte man das entweder witzig, verrückt oder gemein finden. Das Mädchen fand es offenbar gemein.
»Sie hat wohl einen Grund gebraucht, um mit dem Babysitten aufzuhören«, meinte Mónika weiter. »Obwohl ich nicht verstehe, warum sie ihre Oma da mit hineingezogen hat. Und das Geld brauchen sie beide. Wie gesagt, das bekommen wir schon hin. Ich glaube, sie hat sich mit Réka gestritten und will es uns gegenüber nicht zugeben. Vielleicht hat unsere Tochter Magdolna beleidigt oder so.«
Hanna nickte, obwohl ihr eher nach Kopfschütteln zumute war. Kein Mensch in Deutschland würde ihr das glauben.
Später klopfte sie an Rékas Tür. »Darf ich reinkommen?«
Manchmal waren sie wie Freundinnen und konnten stundenlang quatschen und lachen. Doch heute starrte sie ein finsteres Geschöpf an, so kühl und abweisend wie die Réka vom ersten Tag. »Was willst du?« Sie sah aus wie ein Geist.
Vielleicht ist Mária deshalb gegangen, dachte Hanna und versuchte es komisch zu finden, nicht weil ihre Freunde seltsam sind, sondern weil Réka selbst etwas Gespenstisches an sich hat.
»Nichts Besonderes. Ich dachte nur …«
»Wenn du nichts willst, dann hau ab.«
So schroff war sie bisher noch nicht gewesen. Hanna atmete tief durch und schloss die Tür wieder.
 
Mónika stand an der Vitrine und stellte gerade hastig eine Flasche weg, als Hanna die Tür zum Wohnzimmer öffnete.
»Entschuldigung. Ich habe nicht geklopft, weil ich dachte, Sie wären nicht zu Hause.«
»Nein, das macht doch nichts. Komm rein.« Ihr herzliches Lächeln schien wirklich echt, aber Hanna hatte das Gefühl, dass sie damit ihre Verlegenheit überspielen wollte. Sie hatte ihre Gastmutter ertappt - nur wobei?
Mónika zog die Vitrine wieder auf. »Möchtest du einen Schluck Palinka?«
Ich soll nicht denken, dass sie hier Schnaps trinkt, dachte Hanna. Sie will nicht, dass ich sie für eine Alkoholikerin halte. Die junge Frau zögerte. Eigentlich wollte sie nichts trinken, aber wenn sie verneinte, musste sie in ihr Zimmer gehen, und es würde immer zwischen ihnen stehen, eine Frage, ein Verdacht. Deswegen nickte sie.
»Ja, gerne. Hab ich noch nie probiert.«
Mónika hatte geweint. Hanna konnte es an ihren Augen sehen, an dem fleckigen Gesicht. Ihre Gastmutter schenkte ihr ein, in ein kleines Kristallglas, das Hanna an das Geschirr ihrer Oma erinnerte.
»Danke.« Sie nippte nur. Der süße Geschmack der Aprikosen brannte auf ihrer Zunge.
Auch Mónika trank nur einen winzigen Schluck.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Hanna vorsichtig.
»Ja, sicher. Was sollte nicht in Ordnung sein?«
Sie fühlte sich so hilflos. Natürlich war überhaupt nichts in Ordnung, doch was sollte sie tun? Sie war hier nur das Au-pair-Mädchen, nur die Gasttochter. Manchmal kam ihr Mónika fast wie eine Gleichaltrige vor, aber dass sie miteinander lachen konnten, was hieß das schon?
In winzigen Schlucken trank Hanna von dem Likör. Der Duft von Aprikosen war das Einzige, was sie daran mochte. Ansonsten fand sie ihn ekelhaft süß und scharf. Alkohol war noch nie ihr Ding gewesen.
»Ich trinke nachmittags sonst nie«, beteuerte Mónika. »Nur heute, ich dachte, ich feiere ein bisschen, weil …« Auf einmal fing sie wieder an zu weinen. Sie versuchte es zu unterdrücken, aber es klappte nicht. Die Tränen liefen ihr die Wangen hinunter, und ein großer Tropfen bildete sich an ihrer Nase. Hastig suchte sie nach einem Taschentuch und schnäuzte hinein. Verlegen saß Hanna dabei und tat, als bemerkte sie nichts. Noch nie war ihr so deutlich bewusst gewesen, dass dies nicht ihre Familie war. Nicht ihre Mutter, nicht ihre Freundin. Sie hätte am liebsten einen Arm um die weinende Frau gelegt, doch das signalisierte eine Nähe, die es gar nicht gab, die sie sich höchstens wünschte.
Sie wusste ja nicht einmal, warum Mónika weinte.
»Ich dachte, es würde mich glücklich machen, wieder arbeiten zu gehen«, sagte Mónika schließlich. »Aber das Glück«, sie legte die Hand über ihr Herz, »muss von hier kommen.«
Hanna wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Und es war mit Sicherheit nicht der richtige Augenblick, um auch noch über Réka zu reden. Nur wann hatte sie schon die Gelegenheit, mit ihrer Gastmutter unter vier Augen zu sprechen? Vielleicht war es auch der Likör, der ihr mehr Mut verlieh, als eventuell ratsam war.
»Und Réka?«, fragte sie. »Verlieren Sie Ihre Tochter nicht ein bisschen aus dem Blick?«
»Réka macht mir im Moment am wenigsten Kummer.«
»Mónika, ganz im Ernst. Sie ist erst vierzehn, aber ich glaube, sie hat einen Freund. Der noch dazu einige Jahre älter ist als sie.«
»Und?«
Hanna konnte es nicht fassen, dass Mónika so gelassen reagierte. Sie hätte empört sein müssen, alarmiert, erschrocken.
»Ich habe das Gefühl, dass Réka ernsthafte Probleme hat«, sagte sie.
»In ihrem Alter sind alle Mädchen verliebt«, behauptete Mónika.
Hanna konnte deutlich spüren, dass das Gespräch damit beendet war.
So blind Mónika für die Probleme ihrer Tochter auch war, jedem anderen, der halbwegs offen dafür war, mussten sie aufgefallen sein. Als Hanna an diesem Morgen Attila abgeliefert hatte, verrieten ihr die Geräusche aus der Küche, dass die Putzfrau zugange war. Magdolna war tatsächlich vor einigen Tagen wiedergekommen. Noch lieber hätte Hanna zwar mit Mária geredet, aber vielleicht konnte sie die alte Dame dazu bringen, eine Nachricht weiterzuleiten.
Hanna öffnete Rékas Zimmertür und war mit ein paar raschen Schritten bei dem Geheimversteck. Ihre Hände zitterten vor Aufregung, als sie das Foto suchte; ja, es war noch da. Genauso wie ihr schlechtes Gewissen. Nach wie vor fühlte es sich schrecklich an, hinter jemandem her zu schnüffeln, auch wenn man sich einredete, dass man es nur gut meinte.
Mit dem Foto in der Hand eilte Hanna die Treppe hinunter. Magdolna, eine winzige Alte in einem altmodischen, geblümten Rock, wirbelte erstaunlich behände durchs Haus.
»Magdolna?«, fragte Hanna und fand ihre Idee im selben Moment einfach nur idiotisch. Sie konnte ihr das Foto gar nicht mitgeben, denn dann würde Réka es garantiert vermissen. Noch einmal würde sie das Bild nicht entwenden, auch das wusste sie. Sie fühlte sich einfach zu schlecht dabei. »Könnten Sie Mária bitte fragen, ob sie diesen Mann kennt?«
»Du bist das Mädchen aus Deutschland«, bemerkte die alte Frau. Sie sprach langsam, damit Hanna sie einigermaßen verstehen konnte. »Wie gefällt es dir hier?« Dann fiel ihr Blick auf das Foto, sie stieß einen Schrei aus und bekreuzigte sich hastig.
»Was ist?«, fragte Hanna alarmiert. »Was ist denn los?«
»Dieser - dieser Mann«, stammelte Márias Großmutter. »Gonosz! Gonosz!«
Hanna verstand fast nichts von dem, was die Frau von sich gab, so schnell und aufgeregt begann sie zu sprechen. Ihre Stimme wurde immer lauter, und auf einmal warf sie den Lappen hin und floh aus dem Haus. Sie schloss nicht einmal die Tür hinter sich.
»Na toll«, murmelte Hanna. »Das war ja mal ein Erfolg.« Mónika war so stolz darauf gewesen, dass es ihr gelungen war, Magdolna zur Rückkehr zu bewegen, und nun hatte sie es tatsächlich geschafft, die Frau wieder zu vertreiben.
Drei Wörter waren in ihrem Gedächtnis hängengeblieben, und Hanna murmelte sie vor sich hin, während sie in ihr Zimmer ging. »Baj. Gonosz. Vér. Baj. Gonosz. Vér.« Auf ihrem Tisch lag griffbereit das Wörterbuch, in dem sie nun mit klammen Fingern blätterte. »Baj. Gonosz. Vér.« Zwischendurch sah sie auf das Foto, auf den dunkelhaarigen Mann, der so unverschämt attraktiv war, dass er bestimmt nicht nur kleinen Mädchen den Kopf verdrehte.
Baj. Gonosz. Vér.
»Baj« bedeutete Unheil.
»Gonosz« war böse.
Und »vér« hieß Blut.
Hanna musste nicht überlegen, warum die Alte so viel von Blut gesprochen hatte. Für ein weiteres Wort, das sie immer wieder ausgerufen hatte, brauchte Hanna nämlich keine Übersetzungshilfe. Vámpír.
Sie sah aus dem Fenster, dann besann sie sich auf das Wesentliche. Sie musste sich sofort bei Magdolna entschuldigen und sie dazu überreden, die Stelle hier nicht aufzugeben, sonst würde sie selbst mächtig Ärger bekommen. Am Telefon fand sie zum Glück nach kurzem Blättern in Mónikas ordentlich geführtem Büchlein die richtige Nummer. Die Stimme, die ihr antwortete, kannte sie jedoch nicht. Sie wollte schon auflegen, als sie Mária am anderen Ende der Leitung hörte.
»Hanna? Bist du das? Ist was mit meiner Oma?« »Ich habe sie vertrieben«, gab Hanna zerknirscht zu. »Dabei habe ich ihr nur ein Foto gezeigt. Ich glaube, es ist Rékas Freund. So ein Dunkelhaariger, bestimmt schon Mitte zwanzig. Kennst du ihn?«
Sie hörte, wie Mária die Luft ausstieß.
»Leg nicht auf. Es tut mir leid! Wie hätte ich wissen können, dass es sie so aufregt? Kannst du ihr bitte sagen, dass es nicht wieder passiert? Dass sie trotzdem morgen kommen soll? Bitte, Mária, Mónika dreht sonst durch. Sie will nur deine Oma, sonst keine.«
Mária antwortete nicht. Doch sie war noch dran.
»Bitte«, flehte Hanna. »Können wir uns treffen? Dann erklärst du mir, was eigentlich hier los ist? Ich bezahl es dir auch, wenn du dir eine Stunde Zeit nimmst.«
Wieder brauchte Mária eine ganze Weile, um nachzudenken. Schließlich sagte sie: »Na gut. Aber Mónika wird auch mit mir böse sein, wenn ich dich aus ihrem Haus vertreibe.«
»Mich vertreibt nichts so schnell«, versicherte Hanna. Glaubte Mária allen Ernstes, dass sie etwas auf dieses Gespenstergerede gab?
»Du kannst zu uns kommen. Warte, ich nenne dir die Adresse.«
Auf dem Weg kaufte Hanna noch einen Blumenstrauß für Magdolna, wobei sie hoffte, dass sie nicht aus Versehen irgendwelche Unglücksblumen erwischt hatte. Mit Aberglauben kannte sie sich so gar nicht aus. Himmel! Niemand hatte sie davor gewarnt, dass es in Ungarn so etwas gab, noch dazu in einem solchen Ausmaß.
Márias Familie wohnte drüben in Pest, im dreizehnten Bezirk. Hanna hoffte nur, dass sie rechtzeitig zurückkam, um Attila von der Schule abzuholen. Viel Zeit konnte sie sich jedenfalls nicht lassen. Zum Glück war es von der Metróstation zu den Wohnblocks westlich der belebten Váci út nicht weit.
Mária öffnete ihr und bedeutete ihr, leise zu sein.
»Meine Mutter ist gerade weg. Ich habe Oma nicht gesagt, dass du kommst. Sie würde dich nicht hier haben wollen.«
»Ich habe ihr nicht das Geringste getan.« Das Ganze war so lächerlich. »Woher kennt sie überhaupt Rékas Freund? Bei den Szigethys zu Hause war er jedenfalls noch nie.«
»Wir haben ihn mal auf der Straße gesehen. Weißt du, was für einen Wagen er fährt? Einen Audi R8, wenn dir das was sagt. Er raubt den Leuten ihr Blut und ihr Geld, ich sage dir, das ist kein Mensch!«
»Mit Autos kenne ich mich nicht aus«, sagte Hanna bescheiden. »Das ist also die Marke, die Vampire bevorzugen?«
»Du glaubst mir nicht!«, rief Mária zornig.
»Ich soll also glauben, dass dieser Kerl Tag und Nacht mit seinem tollen Wagen durch die Stadt fährt und nach Mädchen sucht, die er aussaugen kann?«
»Oh, bestimmt nicht.« Mária lächelte verächtlich. »Typen wie er treten nur nachts in Erscheinung.«
»Das stimmt nicht. Ich hab ihn auch schon mal getroffen, und das war am helllichten Tag. Mária, du glaubst doch nicht im Ernst an Vampire!«
»Du hast ihn am Tag gesehen?« Mária blickte sehr ungläubig drein. »Setz dich und gib mir die Blumen.«
Hanna beobachtete, wie die Ungarin im Wohnzimmerschrank nach einer passenden Vase kramte.
»Du hast ja keine Ahnung«, meinte Mária. »Ich hab es gesehen, verstehst du? Wie er sie gebissen hat, dieser Kunun. In den Hals. Genau hier.«
»Im Ernst?«
»Du glaubst es ja doch nicht, also warum fragst du? Meine Oma ist die Einzige, die mir glaubt. Und sonst erzähle ich es auch keinem. Ich bin ja nicht verrückt. Aber ich weiß, was ich gesehen habe.«
»Wenn er sie gebissen hat, dann ist Réka jetzt also auch ein Vampir?«
Mária wedelte unwillig mit den Händen. »Tust du nur so, oder bist du so dumm? Réka ist kein Vampir, sie ist das Opfer. Er lebt von ihrem Blut. Deshalb ist sie ja auch so blass und traurig. Trotzdem will sie diesen Kunun ja partout nicht aufgeben!«
»Kunun heißt er? Was ist das denn für ein Name?«
Mária schüttelte den Kopf. Wütend. Egal, was sie tat, sie wirkte immer wütend. Selbst als sie Hanna etwas zu trinken anbot, bebte sie vor unterdrücktem Zorn. Zu gern hätte Hanna ihr gesagt, dass sie ihr glaubte, dass sie verstehen konnte, warum sie nicht mehr bei den Szigethys arbeiten wollte, dass niemand anders gehandelt hätte als sie - nur wie konnte man so etwas glauben?
»Würdest du deine Oma bitte trotzdem überreden, wiederzukommen?«
Um Márias Mundwinkel zuckte es.
»Mónika kann doch nichts dafür. Wenn sie eine neue Hilfe einstellen muss, dreht sie am Rad. Außerdem glaube ich, sie mag Magdolna wirklich.«
»Ich werde sie überreden«, sagte Mária zu Hannas Überraschung. Sie hatte gerade überlegt, ob sie der jungen Ungarin auch dafür Geld anbieten sollte und wie viel das kosten mochte. »Unter einer Bedingung. Du sorgst dafür, dass das aufhört.«
»Gerne. Réka liegt mir selbst sehr am Herzen. Aber wie stellst du dir das vor?«
»Sorg dafür, dass sie sich nicht mehr mit diesem Vampir trifft. Bring sie zur Vernunft. Auf mich hört sie nicht, auf dich dagegen …?«
Hanna versuchte, ruhig zu bleiben. Ihr Gefühl sagte ihr, dass Mária es völlig ernst meinte, dass sie nicht scherzte; überhaupt schien die Ungarin recht wenig Humor zu haben.
»Glaubt Réka auch daran?«, fragte sie und wählte ihre Worte sehr sorgfältig. »Ich meine daran, dass ihr Freund ein Vampir ist? Weiß sie es?«
»Sie lacht mich aus«, erklärte Mária finster. »Wenn du mich jetzt auch noch auslachst, dann …« Sie brachte ihren Satz nicht zu Ende. Es klang nicht wirklich wie eine Drohung, sondern eher verzweifelt.
Auf einmal konnte Hanna das Ganze nicht mehr lächerlich finden. Wenn Mária wirklich so etwas glaubte, war sie vielmehr zu bedauern.
»Ich lache dich nicht aus«, versicherte sie. »Ich werde mir diesen Kunun einmal näher ansehen. Das zumindest kann ich dir versprechen.«
 
Hanna hatte völlig vergessen, dass sie das Foto auf ihrem Schreibtisch hatte liegen lassen. Es fiel ihr erst wieder ein, als Attila damit durch die Wohnung tanzte.
»Gib das her! Wirst du das wohl hergeben!«
Lachend rannte Attila vor ihr her.
Gleich kam Réka aus der Schule. Es würde noch viel mehr Unheil geben, wenn das Mädchen das hier mitbekam.
Hanna verfolgte Attila durch die ganze Wohnung. Sie kletterte ihm übers Sofa nach, versuchte ihn unter dem Tisch zu erwischen und schließlich unter seinem Bett hervorzulocken. Der Junge lachte sich halbtot.
»Hanna ist verliebt!«, sang er. »Hanna ist verlie-hiebt!«
Sie fand es nur mäßig beeindruckend, dass er sich für den Versuch, sie zu ärgern, sogar dazu herabließ, Deutsch zu sprechen. Das hatte er bis jetzt in ihrer Gegenwart vermieden, obwohl auch er eine zweisprachige Schule besuchte.
»Was ist denn hier los?« Seufzend stellte Réka ihre Schultasche ab, als würde sie sich von einem unglaublichen Gewicht befreien. Sie war so blass, dass Hanna unwillkürlich die Arme ausstreckte, um sie aufzufangen, falls sie stürzen sollte. Réka quittierte diese Geste mit einem verständnislosen Stirnrunzeln. »Was hat er jetzt wieder angestellt?«
»Schau mal.« Attila öffnete seine Zimmertür, er wollte es sich nicht entgehen lassen, seine Schwester an dem Spaß teilhaben zu lassen. »Hanna ist verliebt.«
»Wo hast du das her!«, kreischte Réka auf. Sie schoss auf ihren Bruder los und riss ihm das Blatt aus der Hand, bevor er reagieren konnte. Wütend schubste sie ihn von sich, sodass er hart auf den Rücken fiel. Attila war zu erschrocken, um zu weinen. Seinem Gesicht sah man an, dass er nicht begriff, warum Réka sich so für Hanna einsetzte. »Das ist meins!«, schrie sie. »Untersteh dich, in meinen Sachen zu wühlen!« Sie glättete das Bild vorsichtig, Tränen kullerten ihr aus den Augen. »Du hast es zerknickt! Und die Ecke ist abgerissen! Ich hasse dich!«
Laut aufschluchzend verzog sie sich, und ihre Tür knallte ins Schloss, dass der Boden bebte.
Attila wechselte einen verdutzten Blick mit Hanna und presste ein paar Tränen heraus. »Mein Rücken!«
Hanna half ihm auf, und einen Moment lang kuschelte er sich an sie. Sie strich ihm übers Haar. »Ach, Attila.«
 
Réka würdigte ihren Bruder keines Blickes. Während sie gemeinsam aßen, grummelte sie vor sich hin, doch schließlich stieß sie hervor: »Dass du an meine Sachen gehst, das verzeih ich dir nie, niemals!«
»Ich hab gar nichts gemacht. Sie war’s.« Attila, nicht gewillt, die ganze Schuld auf sich zu nehmen, zeigte mit ausgestrecktem Arm auf Hanna.
»Hör auf!« Réka brüllte so unvermutet los, dass der Kleine fast vom Stuhl fiel, auf dem er sowieso immer nur halb saß. »Gib es wenigstens zu!«
Hanna empfand die moralische Verpflichtung, Attila in Schutz zu nehmen und ihr eigenes Vergehen zu gestehen. Aber sie brachte es nicht über sich. Wenn sie das tat, hatte sie endgültig bei Réka verspielt, das war klar, und das durfte nicht geschehen. Nicht, wenn sie die nächsten Monate hierbleiben und mit dieser Familie und diesen Kindern leben wollte. Deshalb sagte sie nur: »Er ist noch ein Kind, Réka. Ich hätte besser aufpassen sollen, dass er nicht in dein Zimmer geht. Tut mir leid.«
Seit wann konnte sie so gut lügen? In der Tat, sie konnte es nicht. Hanna fühlte, wie eine verräterische Röte ihr Gesicht überzog und bis unter ihre Haarwurzeln kroch. Réka merkte es nicht. Unter dem Tisch trat sie so lange nach Attila, der eifrig zurücktrat, bis Hanna einschreiten musste.
»Geh in dein Zimmer, Attila, bitte.«
»Mach ich nicht!«, schrie er.
»Dann geh ich eben. Das ist ja nicht zum Aushalten.« Réka nahm ihren Teller und das Saftglas und verzog sich.
Das triumphierende Lächeln auf Attilas Gesicht sprach Bände. Hanna seufzte, doch sie konnte ihm nicht wirklich böse sein, schließlich war sie ihm etwas schuldig.
»Gehen wir morgen in den Zoo?«
Der Versuch war so offensichtlich, dennoch nickte der Junge begeistert. »Au ja. Ohne Réka.«
Zum Glück fragte er sie nicht, warum sie ihn so schmählich verraten hatte.
 
Später klopfte Hanna an Rékas Zimmertür. Sie wusste noch nicht so recht, was sie sagen wollte. Die Sache war nicht so gelaufen, wie sie gehofft hatte, und ihre Schuldgefühle trieben sie dazu, doch zuzugeben, was sie getan hatte. Sie wusste nur noch nicht, ob sie es über sich bringen würde.
Réka saß auf ihrem Bett, an die Wand gelehnt. Das Foto lag neben ihr auf dem Kissen. Sie hatte geweint, ihr Gesicht wirkte rot und geschwollen.
Hanna wäre am liebsten rückwärts hinausmarschiert, aber sie nahm sich zusammen. Mónika hätte hier sein müssen, stattdessen saß sie im Wohnzimmer am Klavier. Die perlenden Klänge irgendeines klassischen Stücks drangen wie sanfter Regen durch die dünnen Zimmerwände.
Aufseufzend lehnte Réka den Kopf gegen die dezent geblümte Tapete.
»Er ist dein Freund, nicht wahr?« Hanna hatte sich auf den Schreibtischstuhl gesetzt und schaute von dort auf das Bild. Zerknickt und angerissen war es, und dennoch schien der junge Mann dadurch nur noch schöner zu werden. Sein Gesicht machte aus dem billigen Zettel fast ein Stück Kunst.
»Ja. Du hast ihn gesehen, als wir an der Donau waren.«
Hanna zögerte, bevor sie ihre Frage stellte. »Muss das ein Geheimnis bleiben? Ist es wegen deiner Eltern?«
Als sie selbst vierzehn gewesen waren, hatten einige in ihrer Klasse schon einen Freund gehabt. Sie hatten es nicht geheim gehalten, sondern im Gegenteil dafür gesorgt, dass alle und jeder davon erfuhren; es wäre ihnen unerträglich gewesen, darauf zu verzichten, mit ihren Eroberungen anzugeben. Gerade wenn es ältere Jungen gewesen waren, waren sie nicht müde geworden, von ihnen zu schwärmen. Für Hanna, die zu dem Zeitpunkt immer nur unglücklich verliebt gewesen war, war das eine Quelle fortwährender Qual gewesen. Ob dieselben Mädchen zu Hause wie ein Grab geschwiegen hatten, wusste sie natürlich nicht.
Réka schluckte. »Nein, sie … Er meint, es wäre besser so.«
»Aha.« Hannas Meinung über diesen Kerl wurde dadurch nicht besser. Was hatte ein Mann wie er mit einem kleinen Mädchen wie Réka zu tun? Sie war viel zu jung für ihn. Dass ihre Eltern nichts davon wissen sollten, machte ihn erst recht äußerst verdächtig. In Gedanken fluchte Hanna über diesen Mann, doch sie hütete sich, etwas Schlechtes über ihn zu sagen. Das kleine, zarte Pflänzchen Vertrauen, das jetzt und hier zu keimen begann, konnte allzu schnell wieder eingehen.
»Ich weiß, wie das klingt«, fügte Réka schnell hinzu. »Aber es ist wirklich besser. Ich meine, wozu sollten wir sie unnötig aufregen? Wenn wir merken, dass da mehr ist, werde ich es ihnen schon sagen. Er wird selbst herkommen und sich vorstellen.«
Die Sätze klangen wie auswendig gelernt, und Hanna fragte sich, wie oft Réka sie innerlich wiederholt hatte, bis sie selbst daran glauben konnte.
Das Klavierspiel, das ihr Gespräch die ganze Zeit untermalt hatte, brach ab.
»Ich muss deiner Mutter beim Abendbrot helfen.« Hanna wäre am liebsten sitzen geblieben. Sie war sich sicher, dass Réka noch sehr viel mehr zu erzählen hatte. Aber nachdem die Filmmusik verklungen war, schien die Stille doppelt so schwer auf ihnen zu lasten.
»Du wirst es ihr doch nicht sagen?«, flehte das Mädchen, als Hanna schon an der Tür war.
»Nein«, erwiderte sie, obwohl sie das Gefühl hatte, dass sie genau das tun musste. Darauf bereiteten sie einen nicht vor, wenn man ins Ausland gehen wollte. Auf die Frage, wie man mit solchen Problemen umzugehen hatte.
»Und wenn Attila von dem Bild erzählt? Kannst du dann vielleicht behaupten, es wäre ein Foto von deinem Freund gewesen?«
Hanna schnappte nach Luft. Jetzt sollte sie auch noch lügen? »Von dem Freund, den ich nicht habe? Ich weiß nicht, ob ich das kann.« Man merkte ihr sowieso immer an, wenn sie log. Abgesehen davon war es eine Sache, Réka und Attila gegenüber nicht ganz ehrlich zu sein, und eine andere, ihre Gasteltern zu belügen.
»Oh, bitte, bitte!«
»Mal sehen, was passiert.« Mehr konnte sie nicht versprechen.
Magyria 01 - Das Herz des Schattens
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