VIERUNDDREISSIG
BUDAPEST, UNGARN
Hanna streckte die Beine aus, bis ihre Zehen die
Sofalehne berührten. Sie gähnte, aber nichts in der Welt hätte sie
dazu bringen können, jetzt einzuschlafen. Ein paar Mal hatte sie
vorsichtig die Tür geöffnet und in den Hof hinausgeblickt, über die
dunkelblauen Gitter hinweg in die unteren Stockwerke, auf die
vielen weißen Türen. Was auch immer die Schatten nachts in Budapest
trieben, es sich zu Hause vor dem Fernseher gemütlich zu machen,
gehörte offensichtlich nicht dazu. Die meisten waren, soweit sie es
einschätzen konnte, nicht im Haus. Niemandem war es aufgefallen,
dass Mattim nicht da war, und wenn er zurückkam, würde auch keiner
merken, dass er den Fahrstuhl benutzt hatte. Doch sie wartete
vergeblich auf das Klingeln ihres Handys. Ihr Freund ließ sich
Zeit. Wenn sie nur gewusst hätte, was er in Magyria tat, ob seine
Mutter ihm zuhörte oder ob sie ihn als einen gefährlichen Schatten
jagten!
Hanna rückte das Sofakissen unter ihrem Kopf
zurecht und schloss die Augen. Ihr ganzer Körper war vor Anspannung
verkrampft, und es bedurfte einer solchen Anstrengung, sich Mattim
nicht in den Händen Fackeln schwingender Soldaten vorzustellen,
dass sie zitterte. An Mónika durfte sie auch nicht denken.
»Wir sind wirklich enttäuscht von dir«, hatte ihre
Gastmutter gesagt. »Es wird das Beste sein, wenn du deine Sachen
packst und gehst. Morgen ist Rékas Geburtstag, da soll es keine
Abschiedstränen geben, aber danach will ich dich hier nicht mehr
sehen.«
Bevor Hanna hergekommen war, hatte sie eingekauft
und den Wintergarten mit Luftschlangen und Lampions geschmückt.
Während das Mädchen mit einem Dutzend Freundinnen feierte, würde
sie ihre Koffer packen. Sie wollte nicht daran denken, wie es sich
wohl anfühlte, sich von Attila und Réka zu verabschieden. Und
daran, was sie dann tun würde. Zurück nach Deutschland gehen? Oder
bei Mattim bleiben, hier, im Haus der Vampire? Der Prinz des Lichts
würde sicher, wenn die Schlacht geschlagen war, nach Akink
zurückgehen. Er hatte es zwar nie ausgesprochen, nicht einmal
angedeutet, aber was wollte er hier, wenn die anderen Schatten alle
fort waren, in einer fremden Welt, in der er nicht leben und nicht
sterben konnte?
Sie schrak hoch. Ein Geräusch. Einen Moment lang
saß sie aufrecht auf dem Sofa und versuchte, sich zu orientieren.
Anscheinend war sie doch eingenickt. Die Tür. Hatte jemand
geklopft? Mattim! Er war zurück, er hatte es einfach gewagt, mit
dem Fahrstuhl nach oben zu fahren, ohne sie anzurufen! Oder hatte
er es versucht, und sie hatte nichts gehört, weil sie geschlafen
hatte?
Schlaftrunken öffnete sie. Da erst fiel ihr ein,
dass die Tür gar nicht abgeschlossen werden konnte, dass Mattim gar
keinen Schlüssel besaß, den er hätte vergessen können. Dass in
einem Haus voller Schatten, die durch Wände gehen konnten,
Schlösser so sinnlos waren wie jeder andere Versuch, sich zu
verstecken.
Niemand konnte sich vor Kunun verbergen. Da stand
der Vampir, ohne zu lächeln, ohne zu grüßen. Beim Eintreten schob
er sie einfach zur Seite. Mit raschen Schritten ging er durch die
Zimmer, kehrte dann zu ihr zurück und baute sich vor ihr auf.
»Wo ist Mattim?«
»Ich - ich weiß es nicht«, stammelte sie. »Ich bin
eingeschlafen … Ich glaube, er wollte mir etwas zu essen holen.«
Sie versuchte zu lächeln, zaghaft, doch es geriet zu einer
kläglichen Grimasse. »Der Kühlschrank ist ja nicht gerade
voll.«
Kunun lächelte auch jetzt nicht. Er weiß es,
musste sie denken, er weiß es … Aber sie hatte keine Wahl
und musste weiterhin so tun, als wäre alles in Ordnung, denn
vielleicht war es nur die Angst, die ihr Kunun als allwissenden
Zauberer vor Augen malte. Der Schattenprinz, der sich für
unbesiegbar hielt und den sie und Mattim eines Besseren belehren
würden.
Er stand vor ihr, groß und unnahbar, streckte die
Hand aus, beinahe zärtlich, und strich ihr eine Haarsträhne aus dem
Gesicht. Die Geste erinnerte sie so sehr an Mattim, dass es kaum zu
ertragen war, als wären die beiden Brüder Zwillinge, ein heller und
ein dunkler, zwei Seiten ein und derselben Medaille.
»Es ist nicht klug von Mattim, dich allein zu
lassen.«
»Warum nicht?« Hanna zwang sich weiterzusprechen.
Ihre Beine hörten schon fast auf zu zittern, während sie in sich
nach der Kraft suchte, Kunun standzuhalten, was auch immer er
vorhatte. »Keiner der Schatten hier wird mir etwas antun.«
Mit den Händen berührte er immer noch ihr Haar,
griff nach der nächsten Strähne, legte ihr auch diese über die
Schulter. Gleich wird er mich beißen, dachte sie
verzweifelt. Nein, nein! Trotzdem wich sie auch jetzt nicht
vor ihm zurück.
»Blut, freiwillig geopfert«, sagte Kunun. »Du hast
gesehen, was es bewirken kann. Es gibt uns die Macht, dem Licht zu
widerstehen. Es gibt uns die Macht, nach Akink zurückzukehren. Was
würdest du tun, mein Kind, damit Mattim nach Hause gehen und
geheilt werden kann? Würdest du ihm dein Blut geben? Wie viel
würdest du bezahlen, für jede seiner Wunden?«
Hanna wusste im ersten Moment gar nicht, was sie
erwidern
sollte. Worauf wollte der Vampir hinaus? »Was?«, stammelte sie.
»Was soll ich bezahlen?«
»Ich dachte, ihr hättet darüber gesprochen«, sagte
Kunun. »Was Blut für einen Schatten bedeuten und welche Heilung das
Licht bringen kann, wenn man gegen seine tödlichen Auswirkungen
gewappnet ist. Mit deinem Blut wird Mattim zurück nach Akink gehen
und seine Verletzungen heilen lassen können. Ist es dir das wert?
Würdest du das tun, dich aufgeben - für ihn?«
Vielleicht war es die Müdigkeit, die ihr das Hirn
vernebelte, aber sie konnte nicht begreifen, wovon er sprach. Sie
gab Mattim doch schon ihr Blut. Das wusste Kunun. Was sollte sie
denn noch tun?
»Du weißt, dass ich ihn liebe«, sagte sie. »Was
willst du eigentlich von mir?«
»Was glaubst du, wie ich ein paar hundert Vampire
über den Fluss bringen werde? Sag es mir, mein Mädchen. Wie könnte
das gehen?«
»Blut«, flüsterte Hanna. »Freiwillig
geopfert.«
Ihr dunkles Haar glitt wie Seide durch seine
Finger.
»Wessen Blut könnte das sein?« Er flüsterte es so
nah an ihrem Ohr, dass seine Lippen ihre Wange streiften.
Mattim wartete, Bela immer noch an seiner Seite.
Der Wolf hatte den Kopf auf die Vorderläufe gelegt und starrte über
den Fluss hinüber nach Akink. Der Prinz saß neben ihm, die Hand in
dem dichten Pelz, und übte sich in der Tugend eines
Brückenwächters. Die Nacht verstrich, sanft und langsam wie ein
Blatt, das sich vom Zweig löst. Endlich hob der Wolf den Kopf, noch
bevor Mattim erkennen konnte, wer sich näherte. Mirita? Da, eine
dunkle Gestalt, die über das Eis lief. Daneben eine zweite,
größere, in ein hellgraues Gewand gehüllt, die Kapuze über dem
hüftlangen Haar.
Bela erhob sich und war sofort wieder ein Untier,
riesig
und drohend, und Mattim erinnerte sich mit Schaudern, wozu der
Wolf in der Lage war. Ein Schattenwolf. Wenn sie beide wirklich auf
Kununs Seite gestanden hätten, wäre es unendlich einfach gewesen,
noch mehr Dunkelheit auf Akink herabzuziehen, die Nacht zu
vertiefen, so dass sie nie endete. Eine Schattenfrau zu erschaffen,
wie es keine zweite gab. Wenn Bela sich dazu entschlossen hätte,
dann hätte es keinen Weg gegeben, ihn daran zu hindern. Doch der
Wolf rührte sich nicht. Er schaute nur auf die graue Gestalt, und
Mattim war es fast, als könnte er seine Gedanken mitdenken und
seine Gefühle mitfühlen. Es war so lange her, dass Bela der Sohn
dieser Frau gewesen war, einer der Prinzen des Lichts, und die
Patrouille durch den Wald geführt hatte …
»Bist du da?« Mirita rief leise durch die Nacht.
Sie kämpfte sich die Böschung hinauf, während die Königin auf dem
Eis stehen blieb, die Arme vor dem Leib verschränkt, als fröre sie.
»Mattim?«
Er trat zwischen den Bäumen hervor.
Die Bogenschützin stapfte durch den Schnee auf ihn
zu. »Ich hatte schon Angst …«
»Wovor?«, fragte er. »Dass ich gegangen sein
könnte? Oder dass ich meine Armee geholt habe?«
Er fand es unerwartet schwer, die wenigen Meter zum
Ufer zurückzulegen. Nicht auf sie zuzulaufen, die Arme
ausgebreitet, und zu rufen: Mutter, ich bin wieder da!
Die Königin kam keinen einzigen Schritt
näher.
»Nun?«, fragte sie mit bebender, brüchiger Stimme,
»was kann so wichtig sein?« Dann schlug sie die Kapuze zurück, und
obwohl es immer noch zu dunkel war, um ihr Gesicht klar zu
erkennen, rührte ihn diese Geste. Es war ein wenig, als hätte sie
die Hände nach ihm ausgestreckt.
»Es gibt eine Pforte in diesem Wald«, sagte er.
»Sie führt in eine andere Welt, aus der die Schatten sich ihre
Kraft holen. So können sie dem Tageslicht standhalten. Außerdem
hat Kunun einen Weg gefunden, um den Fluss zu überlisten. Er wird
mit seiner Armee über das Eis kommen.« Elira reagierte nicht auf
diese Schreckensnachricht. Sie hörte ihren Sohn an, den Kopf leicht
gesenkt. Wenn er es nur wirklich hätte wagen können, das Eis zu
betreten … »Wir müssen unbedingt die Pforte schließen«, sagte er.
»Nur dann ist es für Kunun unmöglich, wieder dorthin zurückzukehren
und sich Nachschub zu holen. Ich hatte es anders geplant. Anfangs
dachte ich, bei seinem nächsten Jagdausflug könnten wir die Pforte
hinter ihm einfach zumachen und ihn aussperren … Aber wenn der
Fluss bereits gefroren ist, glaube ich nicht, dass es noch viele
Jagdausflüge geben wird. Kunun wird mit seinen Schatten kommen,
gerüstet. Und dann …« Mattim hatte gesprochen, so schnell er nur
konnte, solange sie ihm bloß zuhörte. Vielleicht hatte Elira nicht
verstanden, worum es ging. Er öffnete den Mund, suchte nach Worten,
nach anderen Worten, neuen, besseren, aber die Königin hob die
Hand.
»Wie lässt sich diese Pforte schließen?«, fragte
sie.
»Das musst du tun«, sagte er. »Allein das Licht ist
dazu in der Lage. Ich glaube, wenn du auf die Schwelle trittst,
wird der Riss in der Wirklichkeit heilen, werden die Ränder des
Durchgangs miteinander verschmelzen und niemand wird je wieder
hindurchgehen können.«
Seine Mutter nickte. »Ja«, erwiderte sie. »Es passt
… Es würde vieles erklären. Bring mich zu dieser Pforte.«
»Mattim!«, rief Mirita. »Du hast mir nicht gesagt,
dass die Königin alleine in den Wald gehen muss. Das ist
ungeheuerlich. Das kannst du nicht im Ernst verlangen.«
»Sei still«, fuhr Elira sie an. »Wenn es getan
werden muss, dann werde ich es tun.« An Mattim gewandt sagte sie:
»Geh voraus.«
Sie hatte seinen Namen nicht ausgesprochen. Es
schmerzte ihn heftiger, als er gedacht hatte. Obwohl sie sogar zu
mehr bereit war, als er überhaupt erwartet hatte,
tat es weh, dass sie kein einziges Mal seinen Namen in den Mund
nahm.
»Noch nicht«, sagte er. »Kunun ist noch nicht
unterwegs. Wir müssen den richtigen Zeitpunkt abpassen.«
Zum ersten Mal sah die Königin ihren Sohn an. Ihre
Stimme hatte geklungen, als würde sie weinen, aber ihr Gesicht, von
der aufkommenden Morgendämmerung erhellt, war kühl und
entschlossen.
»Jetzt«, bestimmte sie. »Warum sollen wir warten,
bis der Jäger vor unseren Toren steht? Warum warten, bis er mit
seinen Schatten über den Fluss kommt? Wenn ich dich richtig
verstanden habe, ist er gerade dabei, sie auszurüsten. Drüben, wo
immer das ist. Wenn wir jetzt die Pforte schließen, wird er gar
nicht erst nach Magyria kommen. Nie mehr. Wenn wir sofort handeln,
wird ihm die Fähigkeit, über den Fluss zu gehen, nichts nützen. Wir
werden ein für alle Mal frei sein von der Bedrohung durch die
Schatten.«
»Wenn wir die Pforte jetzt schließen, sind die
Schatten für immer dort - in einer Welt, in die sie nicht gehören.
Mutter, dies ist unser Problem und unser Kampf. Das Licht muss ihn
ausfechten. Nicht die Menschen da drüben. Sondern wir.«
Die Königin kam ein paar Schritte näher, und jede
einzelne Bewegung verriet ihre Wut.
»Du willst die Schatten auf Akink hetzen,
ausgerüstet mit der Macht, über den Fluss zu gelangen? Du willst
zulassen, dass sie herkommen und alles zerstören, was du jemals
geliebt hast? Du nimmst in Kauf, dass Akink unterliegt und das
Licht ein für alle Mal ausgelöscht wird?«
Sie hatte Recht. Jetzt war der richtige Zeitpunkt.
Jetzt konnten sie alles beenden, die Schlacht gewinnen, ohne Blut
zu vergießen, jetzt!
»Nein. Wir können nicht …« Seine eigene Stimme
klang selbst in seinen Ohren kläglich und unsicher. Sie hat
Recht … Nein, das hatte sie nicht! »Es ist unser Kampf! Ich
habe nie auch nur daran gedacht, dass wir die Pforte schließen,
während die Schatten alle drüben in Budapest sind. Sie gehören zu
uns, nicht zu den Menschen. Es ist des Lichts nicht würdig, sie auf
Unschuldige zu hetzen und sich selbst in Sicherheit zu
bringen.«
»Jetzt!«, rief Mirita. »Wie können wir die beste
Gelegenheit verstreichen lassen, die wir jemals bekommen werden? Es
ist an der Zeit, Akink zu retten! Deine Stunde ist gekommen,
Mattim!«
Während Kunun nichts ahnte. Während er vielleicht
dabei war, die Schatten mit Blut zu versorgen, damit sie …
Als hätte jemand ein Kristallglas auf einem
Marmorboden zerschmettert, sprang Mattim ein Bild entgegen,
klirrend und schneidend. Ein Becher, gefüllt mit Blut.
Hannas Blut.
Blut, freiwillig geopfert … Hatte Atschorek nicht
genau das von ihm gefordert? Dass er seine Freundin opferte? Dass
er Kunun zum Sieg verhalf - so und nicht anders? Sie mussten alle
trinken. Jeder einzelne Vampir, freiwillig geopfertes Blut. Wie
viele Menschen gab es in Budapest, von denen sie das bekommen
konnten?
Er stolperte rückwärts vom Fluss fort. Und er hatte
sie allein gelassen. Idiot! Du verdammter Idiot!, schrie es
in ihm.
»Mattim!«, befahl die Königin. »Bleib hier!«
Sein Name erfüllte ihn nicht mit Freude. »Ich muss
zurück!«, rief er. »Ich muss sofort zurück!«
»Warte! Bring mich an die Pforte. Sofort!«
»Mattim«, rief nun auch Mirita. Sie schlang beide
Arme um ihn und versuchte ihn festzuhalten. »Mattim, bitte! Wir
sind am Ziel. Zeig uns den Übergang, bring uns hin, und wir werden
Akink retten. Das wolltest du doch immer. Dafür bist du ein
Schatten geworden. Mattim!«
Er riss ihre Hände von seiner Jacke und stieß sie
rücklings in den Schnee. »Versteht ihr denn nicht? Ich muss zurück!
Ich muss es verhindern. Ich muss …«
»Nur eines musst du tun.« Die Stimme der Königin,
klar und scharf. »Du wirst mich zur Pforte führen. Jetzt.«
»Nein! Es tut mir leid, ich kann nicht. Ich kann es
nicht!« In seinem Kopf drehte sich alles, die Angst, die in ihm
aufgeflammt war, setzte sein Herz in Brand.
»Ich hasse dich!«, schrie Mirita. »Schatten!
Schatten!«
»Wenn du jetzt gehst«, rief ihm Elira nach, »dann
sollst du für immer verdammt sein. Elender Schatten! Du bist hier,
um Akink zu retten! Bleib! Du bist hier, um das Licht …«
Ihre Stimme gellte ihm in den Ohren, während er
rannte. Zwischen den schwarzen Stämmen der Bäume hindurch, über den
Schnee, schnell. Er sprang über Dornen und Gestrüpp, strauchelte,
stolperte, fort war die Anmut des Wolfs, er, Mattim, getrieben von
einer Angst, die ihm im Nacken saß wie ein Blutsauger mit langen,
spitzen Krallen.