ZEHN
BUDAPEST, UNGARN
An diesem Abend war Attila nicht so müde, wie
Hanna gehofft hatte. Statt mit schweren Füßen ins Bett zu sinken,
drehte er noch einmal richtig auf, und bis er endlich schlief, war
es zehn.
Erschöpft ließ das Au-pair-Mädchen sich aufs Sofa
fallen. »Was für ein Tag.«
Réka machte es sich in dem großen Sessel bequem,
die Beine über der einen Lehne, Kopf und Arme über der anderen, und
lachte leise.
»Dass wir es bisher nicht geschafft haben, dich zu
vertreiben! Dabei geben wir uns doch solche Mühe.«
»Ich bin eben hartnäckig«, verkündete Hanna.
»Ich weiß.« Réka schloss die Augen. »Wie war das
mit deinem Maik? Wie hast du ihn kennengelernt?«
»Oh, das ist eine lange Geschichte.«
»Macht nichts. Erzähl.«
»So lang ist sie gar nicht«, gab Hanna zu. »Ich war
nur unheimlich lange in ihn verliebt. Als ich ihn das erste Mal an
unserer Schule gesehen habe, war ich dreizehn. Ich bin ihm im Flur
begegnet, vor den Kunsträumen. Das weiß ich noch wie heute. Es hat
mich getroffen wie ein Blitz.«
»Wow«, murmelte Réka.
»Na ja, leider nur mich. Er hat mich gar nicht
bemerkt. Wir waren über tausend Schüler am Gymnasium, ich bin ihm
gar nicht aufgefallen.«
»Aber irgendwann schon.«
»Ja, irgendwann schon. Bis dahin hatte ich jedoch
ungefähr
drei Jahre lang Liebeskummer. Ich habe sogar Gedichte geschrieben.
Und Tagebuch. Ich hatte ein sehr schönes Tagebuch mit einem
Schloss, kaum zu glauben, was ich da alles hineingeschrieben habe.
Meistens habe ich seinen Namen verschlüsselt, damit keiner wusste,
von wem ich da geschwärmt habe. Ich habe X heute in der Aula
getroffen und bin so dicht neben ihm vorbeigegangen, dass ich ihn
gestreift habe. Heute in der Pause habe ich Romeo gesehen, ungefähr
zwei Minuten lang. Ich hatte mindestens zwanzig verschiedene
Geheimnamen für ihn. Manchmal habe ich aus Versehen Maik
geschrieben und den Namen mit kleinen Aufklebern abgedeckt, damit
mir ja niemand auf die Schliche kommen kann.«
»Maik«, wiederholte Réka. »Es war doch ein Tagebuch
mit einem Schloss. Wozu der ganze Aufwand?«
»Falls ich sterbe. Dann hätten meine Eltern es
vielleicht geöffnet und ein Buch daraus gemacht. Wir haben damals
in der Schule Anne Frank gelesen, und aus ihrem Tagebuch wurde ja
im Nachhinein ein Buch. So was in der Art könnte passieren. Dachte
ich. Mir war damals nicht ganz klar, dass sich kein Mensch für das
Tagebuch irgendeiner Dreizehnjährigen interessieren würde. In dem
bloß Sätze drinstehen wie: Heute habe ich ihn zwei Minuten lang
gesehen.«
Réka kicherte. »Warum dachtest du, du würdest
sterben?«
»Ich hab damals halt viel an den Tod
gedacht.«
Das Mädchen schwieg eine Weile. »Und ich«, sagte
sie leise, »ich denke viel daran, wie es wohl ist, verrückt zu
sein. Wie es sich anfühlt. Ob man es merkt, wenn es so weit ist.
Ich schätze nicht, dass man es merkt, oder? Weil man dann ja alles
für normal hält, was man sich einbildet. Aber wenn man es merkt -
und weiß -, das ist schrecklich.«
»Du bist nicht verrückt«, sagte Hanna.
»Ach, nein? Und was war heute?« Sie atmete tief
durch. »Deine Geschichte. Was war dann? Wie hast du Maik auf
dich aufmerksam gemacht? Er hat nicht zufällig dein Tagebuch in
die Hände bekommen und sich gedacht: Hey, diese ganzen Xe und
Romeos, das bin ja wohl ich?«
Hanna lachte leise, obwohl ihr irgendwie gar nicht
nach Lachen zumute war. »Hin und wieder hatte er eine Freundin. Zum
Glück nie sehr lange. Trotzdem, was meinst du, was ich da gelitten
habe. Ich dachte, die Welt geht unter. Ich hab kaum noch gegessen.
Dafür waren meine Gedichte sehr schön. Ja, selbst heute noch, wenn
ich sie mal lese, finde ich sie ganz gut. Tja, ich wäre gern so
schön gewesen wie meine Gedichte, aber ich war’s nicht. Und dann,
bei irgendeiner Abschlussfeier in der Schule, hat eine Freundin
mich vor ihn hingeschubst und gesagt: So, nun tanzt mal.«
»Sie wusste es? Ich dachte, du hast ein solches
Geheimnis darum gemacht.«
»Dachte ich auch. Jedenfalls hat Maik dann
tatsächlich mit mir getanzt. Obwohl ich mich vor Schreck kaum
rühren konnte, fand er’s wohl ganz gut, denn danach hat er den
ganzen Abend nur noch mit mir getanzt. Auf einmal waren wir ein
Paar.«
»Schön«, sagte Réka mit trauriger Stimme.
»Was ist mit dir?«, fragte Hanna vorsichtig. »Und
Kunun?«
»Kunun.« Das Mädchen flüsterte den Namen vor sich
hin. »Er ist überall, wo ich hingehe. Wenn du ihn nicht auch
gesehen hättest, an der Brücke, würde ich fast fürchten, dass ich
ihn mir bloß einbilde.«
»Er ist überall, wo du hingehst? Er verfolgt
dich?«
»Nein. Er verfolgt mich nicht. Ich gehe irgendwo
hin, und er ist schon da. Wir verabreden uns nie. Ich habe nicht
mal seine Nummer. Seit März sind wir zusammen, und ich kann ihn
nicht anrufen! Wenn ich ihn treffen möchte, muss ich nur irgendwo
hingehen, worauf ich Lust habe, und meistens ist er genau dort.«
Sie wandte Hanna das Gesicht
zu, um den ungläubigen Ausdruck in deren Miene nicht zu verpassen.
»Ich hab dir doch gesagt, es ist verrückt.«
»Und heute? War er auch da? Im Zoo? Hast du dich
mit ihm getroffen, als wir dich gesucht haben?«
Réka ließ sich wieder lange Zeit mit der Antwort.
Schließlich sagte sie: »Ja, ich glaube.«
»Was soll das heißen, du glaubst es? War er da oder
nicht? - Ach. Du kannst dich nicht erinnern.«
»Nein.«
»Die anderen Male wusstest du doch wenigstens, ob
du ihn gesehen hast. Sonst könntest du nicht behaupten, dass er
überall auftaucht. Und diesmal? Nichts? Was ist denn das Letzte,
woran du dich erinnerst?«
»Die Fische. Diese komischen Fische, die im Sand
steckten.«
»Du machst mir Angst«, flüsterte Hanna. »Kannst du
dir nicht etwas anderes einfallen lassen, um mich zu ärgern?«
»Erzähl mir von Maik«, sagte Réka. »Erzähl mir
mehr. Du musst wahnsinnig glücklich gewesen sein, als dein Traum in
Erfüllung gegangen ist.«
»Merkwürdig, aber daran kann ich mich kaum
erinnern. Ich weiß genau, wie es war, als ich so unglücklich war.
Wie ich auf meinem Bett gelegen und in mein Tagebuch gekritzelt
habe. Die Zeit mit dem echten Maik dagegen - im Nachhinein kommt es
mir vor, als wäre ich gar nicht richtig dabei gewesen. Es war, als
wäre da ein fremdes Mädchen, das plötzlich mit diesem Jungen
zusammen war. Der Junge war irgendwie auch ein Fremder. Nicht der
Traum, den ich so gut kannte. Sondern ein Mensch, über den ich
nichts wusste. Es war sehr seltsam. Ich bin mit zu seinen
Sportveranstaltungen gefahren und hab mich eigentlich nur die ganze
Zeit gewundert. Es kam mir vor, als würde ich eine Rolle spielen,
auf die ich mich ganz lange vorbereitet hatte. Aber nun, da ich an
der Reihe war, hatte ich den Text vergessen.«
»Vielleicht bist du ja auch ein bisschen verrückt?«
Réka klang wieder etwas munterer.
»Es war, als würde ich für eine Weile in einer
anderen Welt leben. In seiner Welt. Tja, und für ihn gibt es auch
nur genau das. Seine Welt. Maik wollte nicht, dass ich für dieses
Jahr herkomme«, sagte Hanna. »Kein Mensch geht nach Ungarn, wenn er
Au-pair in den USA oder Australien machen könnte. Er wollte
eigentlich überhaupt nicht, dass ich weggehe. Er wollte, dass wir
zusammen mit dem Studium anfangen. Er hat zwischendurch Zivildienst
gemacht, während ich das letzte Jahr an der Schule war. Er hatte
alles genau geplant.«
»Warum bist du denn ausgerechnet nach Ungarn
gekommen?«
»Vielleicht, weil ich nicht tun wollte, was alle
tun. Ich bin halt wirklich ein bisschen verrückt.«
»Aber du bist es auf eine lustige Art«, sagte Réka.
Sie musste nicht aussprechen, dass sie ihren Fall für etwas völlig
anderes hielt, das ganz und gar nicht lustig war.
»Vielleicht wäre es besser, wenn du dich nicht mehr
mit Kunun triffst. Nein, Réka, hör mir erst einmal zu!« Das Mädchen
hatte sich aufrecht hingesetzt und schien gleich aufspringen zu
wollen. Schnell redete Hanna weiter. »Ich sag ja nicht, dass er
Schuld hat. Ich sage auch nicht, dass mit dir etwas nicht stimmt.
Ich meine nur, es hat ja offensichtlich etwas mit ihm zu tun.
Deswegen denke ich, es ist für dich die einzige Möglichkeit,
herauszubekommen, was los ist. Wenn es dir dann besser geht …
Wenigstens für eine Weile. Auch wenn es dir schwerfällt.
Bitte!«
Réka schüttelte heftig den Kopf. »Das geht
nicht.«
»Ach, komm, nur für eine Weile. Bloß damit du
herausfinden kannst, ob du auch in anderen Situationen
Gedächtnislücken hast. Wie willst du sonst rauskriegen, was hier
vor sich geht? Höchstens - ich weiß nicht, vielleicht zwei Wochen?
Er wird das verstehen. Wenn er dich wirklich liebt,
muss er das verstehen. Himmel, er ist erwachsen! Wenn er dafür
kein Verständnis hat, dann ist er es nicht wert, und das weißt du
auch.«
»Es geht nicht«, wiederholte Réka. »Hast du mir
nicht zugehört? Ich verabrede mich nicht mit ihm. Er ist einfach
da.«
Hanna zögerte. »Was, wenn wir zum Arzt gehen? Ich
könnte dich begleiten. Er kann dein Blut untersuchen.«
»Und mein Hirn, meinst du wohl.« Réka verzog wütend
das Gesicht. »Wir machen etwas ganz anderes. Du kommst mit.«
»Ich? Wohin?«
»Wenn ich ausgehe. Du kommst mit und bleibst in der
Nähe. Dann wirst du ja sehen, ob er mir irgendwas gibt. Vielmehr
wirst du dann sehen, dass er mir eben nichts gibt, dass er damit
überhaupt nichts zu tun hat. Und vielleicht …« Réka zögerte,
verlegen, ihre Hände verirrten sich in ihr glattes, dunkles Haar.
»Vielleicht kannst du ja ein Foto von uns beiden machen? Das würde
mir echt viel bedeuten, nachdem Attila das alte zerrissen
hat.«
»Ich soll euch beschatten? Das geht nicht. Kunun
kennt mich, er hat uns doch schon zusammen gesehen.«
»Dann verkleiden wir dich halt.«
»Ich weiß nicht.« Hanna musste sich mit der Idee
erst anfreunden. »Ich finde das ziemlich riskant. Was, wenn ihr
irgendwo hingeht, wo ich nicht mitkommen kann? Zu ihm nach Hause
oder sonst wohin?«
»Dann kannst du mir wenigstens sagen, wo er wohnt.«
Die Qual in Rékas Gesicht war so groß, dass sie wesentlich älter
wirkte. Eine Erwachsene, die schon viel erlebt hatte und die
befürchtete, dass niemand ihr glaubte. »Ich weiß nichts«, sagte
sie. »Rein gar nichts. Außer, dass ich ihn liebe. In meinem Herzen
spüre ich, dass wir zusammengehören. Er ist mein Freund, er ist
alles für mich. Und ich für ihn. Aber ich weiß nichts von dem, was
er mir über sich erzählt
hat. Ich habe keine Ahnung, was ich ihm von mir gesagt habe. Ich
denke den ganzen Tag an ihn, aber ich habe nur dieses Bild. Keine
einzige Erinnerung. Nur das Bild. Alles andere ist weg. Hilfst du
mir, Hanna?«
Sie glaubte, dass es gute Erinnerungen waren, auf
die sie verzichten musste. Hanna, die den bösen Verdacht hatte,
dass genau das Gegenteil der Fall war, konnte bloß nicken.
»Na gut. Versuchen wir das. Doch wenn es nicht
klappt, dann möchte ich, dass wir zum Arzt gehen.«
»Ist das deine Bedingung?«
»Ja. Denn das muss aufhören, so oder so. Irgendwie
muss es aufhören.«
Einen Moment hatte sie die Befürchtung, dass sie zu
weit gegangen war. Dass Réka lieber auf das Foto von sich und ihrem
Liebsten verzichtete, als in Erwägung zu ziehen, sich untersuchen
zu lassen. Aber sie stimmte tatsächlich zu.
»Na gut.« Wie schwer ihr diese Worte fielen, war
ihr nicht anzuhören, aber sie sah auf einmal erschöpft und traurig
aus.
»Du musst ins Bett«, sagte sie. »Lass uns schlafen
gehen.«