SIEBENUNDDREISSIG
BUDAPEST, UNGARN
»Nun«, sagte der junge Prinz, »bleibt mir nur
noch, eins zu tun. Ich werde nach Magyria gehen und mich ihnen
entgegenstellen.«
Hanna schüttelte den Kopf. »Nein, nein! Nein,
Mattim. Wir müssen Réka suchen. Wir müssen es verhindern. Wir rufen
die Polizei oder irgendjemanden, der uns helfen kann. Gib nicht
auf!«
»Wer sagt denn, dass ich aufgebe?« Ein bitteres
Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Sie werden über mich
hinwegtrampeln müssen, wenn sie zum Fluss marschieren. Solange ich
noch in der Lage bin, aufrecht zu stehen … Aber Kunun wird Réka
opfern. Die Schatten werden auf die andere Seite gehen und über den
Fluss. Akink wird fallen. Sie werden beide verloren sein, um die
wir gekämpft haben - Réka und Akink.«
Hanna schaute ihn an und sagte: »Mattim. Du musst
die Pforte schließen. Lass die Schatten nicht mit Rékas Blut in den
Adern über den Fluss gehen.«
»Die Königin wird nicht kommen«, sagte er. »Niemand
wird die Pforte schließen. Es gibt keinen Weg, um die Schatten
aufzuhalten. Nur den einen, nämlich Réka zu retten, bevor Kunun ihr
Blut hat.«
»Wenn wir es nicht schaffen, sie zu finden, musst
du es noch einmal versuchen. Du wirst deine Mutter dazu bringen,
und wenn nicht sie, dann deinen Vater. Wir müssen bloß schnell
sein, schneller als sie. Versprich mir, dass du es versuchen
wirst!«
Er nickte, langsam, mit einem Ernst, der ihr
verriet, wie wenig Hoffnung bestand und wie groß seine
Entschlossenheit war, es trotzdem zu tun. Bis zum Ende wollte er
kämpfen - aber dies durfte noch nicht das Ende sein! Noch
nicht!
»Wo wird dein Bruder sie hinbringen?«, fragte
Hanna. »Mattim, du musst doch irgendeine Ahnung haben! Wo? Wird er
sie in Magyria beißen und die Vampire dort ihr Blut trinken lassen?
Am Fluss? Oder hier? In seinem Haus am Baross tér? In einem anderen
Haus? Bei Atschorek? Irgendwo draußen? Dort, wo er dich ins Wasser
gestoßen hat, wo er ungestört ist?« Sie fasste ihn an den Schultern
und zwang ihn, seine Aufmerksamkeit ihr zuzuwenden. »Mattim,
wohin?«
Der Prinz erwiderte ihren Blick. Er sagte nicht,
dass es zwecklos war. Er sagte auch nicht: Es spielt keine Rolle,
ob wir ihn finden. Wenn wir ankommen, wird er längst mit ihr fertig
sein. Vielmehr dachte er nach.
»Nicht in Magyria«, sagte er schließlich. »Die
Gefahr ist zu groß, dass mein Bruder von den Flusshütern gestört
wird. Außerdem ist Réka vielleicht zu verwirrt, wenn sie in die
andere Welt gelangt, und könnte sich in ihrer Angst weigern, ihm
ihr Blut zu geben. Er wird mit ihr irgendwohin fahren, wo er völlig
ungestört ist. Zu einem Haus. Oder sie bleiben im Auto, an einem
Ort, wo es einsam ist.« Er drückte ihre Hände, fest. »Dann fahren
wir zu jeder dieser Stellen, wo sie sein könnten. Zu Atschoreks
Haus und zum Baross tér. Auf die Insel. Wir werden die beiden
finden, Hanna.« So schnell verwandelte Mattim sich von jemandem,
der am Boden zerstört war, in jemanden, der ihr Halt gab. »Hab
keine Angst, wir finden sie.«
»Wir müssen gleich zur richtigen Stelle fahren«,
sagte Hanna. »Oder wir kommen zu spät. Wir kommen ganz bestimmt zu
spät …«
Der Junge forschte in ihrem Gesicht, in ihren
Augen.
»Sag du es mir«, forderte er sie auf. »Wo ist
Kunun? Wenn irgendjemand es wissen kann, dann du. Er hat dich
gebissen …«
»Aber danach wieder sie! Immer wieder sie! Ich kann
ihn nicht finden!«
»Du musst«, sagte Mattim. »Mein Bruder hat sich
dein Leben einverleibt … irgendetwas davon muss noch da sein. Wie
konntest du ihn damals finden, als er dich in die Falle gelockt
hat? Nur weil Atschorek bei ihm war. Dass sie dich ein einziges Mal
gebissen hatte, reichte aus. Das wird es diesmal auch. Und wenn es
nur der tausendste Teil eines Tropfens ist … Konzentrier dich. Denk
an ihn. Wo würdest du ihn suchen? Wo zieht es dich hin?«
Nichts zog sie zu Kunun. Nur zu Mattim. Zu ihrem
Mattim, den sie verlieren würde. Er würde sich den Schatten in den
Weg stellen und sich opfern, für nichts, und sie würde ihn
verlieren. Heute.
»Wo ist er?«, fragte der Prinz und ließ ihre Hände
los.
Es konnte nicht funktionieren. Kunun hatte das Band
längst wieder durchtrennt. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie er
auf der großen Wiese auf der Òbuda-Insel parkte und sich an Réka
wandte. Ich hab dir etwas zum Geburtstag mitgebracht … Oder wie er
sie durch das Gittertor von Atschoreks Garten führte. Ich muss dir
etwas zeigen … Oder in sein Haus … Es gab so unendlich viele Orte,
an denen er sie hingebracht haben konnte, weitaus mehr als diese
drei. Wo zog es Hanna hin? Wo würde sie zuerst suchen?
Ihr Schädel fühlte sich an wie ein schwerer Stein,
dumpf vor Angst und Schmerz.
»Ich weiß nicht. Ich weiß es nicht …«
»Dann fahren wir zum Baross«, sagte Mattim.
»Komm.«
Nach ein paar Schritten krallte sie sich in seinen
Arm. »Nein! Nein, das ist die falsche Richtung!«
Ein schwerer Holztisch. Dort würden die Vampire
sitzen und aus blutgefüllten Bechern trinken …
»Zu Atschorek«, sagte sie. »Lass uns zu ihrem Haus
fahren.«
»Bist du sicher?« Mattim sah seine Freundin
an.
Sie wusste genau, was ihre Antwort für ihn
bedeutete. Wenn Réka nicht in Kununs Haus war, konnte er es
vielleicht doch noch schaffen, durch die Pforte nach Magyria zu
gelangen. Seine Mutter zu rufen. Den Durchgang zu schließen, bevor
die Schatten bereit waren, hindurchzugehen.
»Wir trennen uns«, sagte sie. »Du machst dich auf
den Weg nach Akink. Ich suche Réka.« Noch während sie das
vorschlug, fühlte sie, wie die Verzweiflung über ihr
zusammenschlug. Sie hatte keine Chance, das Mädchen zu befreien,
wenn Mattim nicht bei ihr war. Er wusste das. So wie er auch
wusste, was sie dachte. Er sah sie an, schüttelte den Kopf und
lachte leise und traurig.
»Réka oder Akink«, sagte er. »Wird das immer die
Wahl sein, vor der wir stehen? Ohne sie wird mein Bruder nicht über
den Fluss kommen. Hanna, glaubst du wirklich, ich gehe nach Magyria
und lasse euch im Stich? Glaubst du, es wäre ein Sieg für mich, die
Pforte schließen zu lassen, während die Schatten alle hier sind und
Réka stirbt? Ich habe nur den Hauch einer Chance, dass es mir
gelingt, noch einmal mit der Königin zu sprechen. Und wir haben nur
eine winzige Chance, Réka rechtzeitig zu finden. Weißt du denn
immer noch nicht, was mir am allerwichtigsten ist?«
»Das Licht«, flüsterte sie.
»Ja«, sagte Mattim. »Und das Licht ist dafür da,
für die Unschuldigen zu kämpfen. Wir fahren zu Atschoreks Haus.
Komm. Jede Sekunde, die wir hier vertrödeln, wird uns später
leidtun.«
Sie riefen ein Taxi. Während der Fahrt lehnte Hanna
die Stirn gegen die kühle Scheibe. Die Straßen zogen an ihr vorbei.
Eine Stadt wie aus einem Traum. Réka. Réka …
Sie stiegen ein bisschen früher aus. Hanna bezahlte
den Fahrer und fragte sich, ob man es ihr ansah. Ob ihr anzumerken
war, dass ihr Gesicht nur eine Maske war und dahinter nichts als
Angst …
Mattim führte sie rasch die Straße hinauf, an den
Nachbargrundstücken vorbei. Es war zu hell, um durch das Tor oder
die Hecke zu steigen, erbarmungslos machte das Tageslicht jede
Möglichkeit zunichte, heimlich einzudringen. Alles war still, das
Haus, der Garten, alles, was man von hier aus erkennen
konnte.
Der Prinz legte die Hand ans Tor. »Es ist nicht
abgeschlossen.«
»Ist das gut oder schlecht?«
Sie gingen den Gartenweg hoch zum Haus. Es war zu
still, fand Hanna. Viel zu still. Hätten nicht alle Schatten hier
versammelt sein müssen, wenn sie darauf warteten, dass sie das
geopferte Blut zu trinken bekamen? Es war das falsche Haus. Das
falsche …
»Lass uns umkehren«, sagte sie spontan. Sie sagte
es und ging trotzdem weiter, direkt auf das Haus zu, und zögerte
vor den Stufen hinauf zum Eingang. Vielleicht konnte man durch die
Fenster etwas sehen?
»Ungebetene Gäste sind stets die besten«, sagte
Atschorek. Sie stand an der Haustür und lächelte ihnen
entgegen.
Mattims Stimme klang kühl und unbeteiligt. »Ist
Kunun hier?«
»Unser Bruder ist auf einer Geburtstagsfeier«, gab
Atschorek zurück. Sie streckte die Hand aus und griff nach Hannas
Arm. Mit einer einzigen fließenden Bewegung zog sie Hanna zu sich
heran, trat ins Innere des Hauses und schloss die Tür hinter
sich.
»Lass mich los!«, fauchte das Mädchen, und im
selben Moment hörte sie draußen Mattim etwas rufen. Und Stimmen,
die ihm antworteten.
Die Vampirin hielt ihr mit ihrer kleinen, harten
Hand den Mund zu. »Du bist still«, sagte sie. »Mattim hat da
draußen jetzt genug zu tun. Du bist doch nur aus einem einzigen
Grund hier - wegen Réka. Willst du sie sehen? Sie ist hier. Ich
kann dir gerne zeigen, was geschieht. Allerdings kein Laut. Kein
einziger Laut. Klar?«
Hanna nickte. Sie hing in Atschoreks Umklammerung,
und ihr Herz klopfte heftig, doch sie versuchte nicht einmal, zu
schreien. Réka. Bring mich zu ihr, wollte Hanna sagen, aber sie
nickte nur. Daraufhin öffnete Atschorek leise, ganz leise, eine Tür
und führte sie eine Treppe hinauf, direkt vor ein Geländer aus
gedrechselten Holzstäben, durch die man in den dunkel vertäfelten
Raum hinabsehen konnte, auf die schwarzen Marmorfliesen und ein
flackerndes Kaminfeuer. Auf einen sorgsam abgedunkelten Raum, in
dem nicht der kleinste Sonnenstrahl ankam. Bevor Hanna rufen
konnte, war wieder Atschoreks Hand auf ihrem Mund.
Die Vampirin drückte sie hinunter und kauerte mit
ihr hinter dem Geländer. »Sieh genau hin«, wisperte sie Hanna ins
Ohr. »Das werde ich auch mit dir machen. Schau hin.«
Dort unten war Kunun. Mit Réka. Mit einer
wunderschönen Réka, unversehrt und lebendig. Zusammen saßen sie auf
dem flauschigen Teppich vor dem Kamin. Das Mädchen hatte
anscheinend gerade ein Geschenk ausgepackt, denn neben ihr auf den
dunklen Fliesen lagen bunte Seidenbänder und Papier. Sie hielt
etwas Glänzendes hoch, und Hanna erkannte, dass sie die schwarze
Bluse trug. Sie hatte dem Mädchen das Kleidungsstück am Abend in
Geschenkpapier eingewickelt vor die Zimmertür gelegt.
»Es ist so schön. So wunderschön.« In Rékas Stimme
lagen Jubel und Jauchzen und eine Freude, die bis zu Hanna
emporstieg. »Das ist so lieb von dir, Kunun. Ich kann es gar nicht
fassen.«
»Mein Herz«, sagte er und strich über ihr schwarzes
Haar. »Du bedeutest mir unendlich viel. Ich muss dir etwas sagen,
Réka. Etwas, das deine Gefühle für mich vielleicht für immer
verändern wird. Fast habe ich Angst davor, es auszusprechen, aber
es muss sein.«
Réka sah zu ihm auf, ihre Augen glänzten. »Hab
keine Angst. Ich habe auch keine.«
Kunun knöpfte sein Hemd auf. Das flackernde Feuer
warf seinen Schein auf seine muskulöse Brust. »Horch«, sagte er.
Dann hielt er Réka eng an sich, ihr Ohr über seinem Herzen. »Hörst
du etwas? Hörst du, wie mein Herz schlägt?«
»Da ist nichts«, flüsterte sie.
»Ich bin ein Vampir«, sagte Kunun.
»Ich weiß.« Réka verblieb in seiner Umarmung, ohne
sich zu rühren. »Hanna hat es mir gesagt. Aber es ist mir
egal.«
»Réka.« Kunun fuhr mit den Fingern über ihre Wange.
»Ich brauche dich. Wenn du wüsstest, wie sehr ich dich brauche …
bei mir. Ganz nah bei mir. Für immer.«
Seine Stimme war wie ein Zaubergesang. Die beiden
saßen vor dem Feuer, in einem Raum, aus dem sie die Welt
ausgeschlossen hatten. »Komm zu mir«, sagte er. »Für immer.«
»Ich soll eine Vampirin werden?«, fragte das
Mädchen und richtete sich auf. Sie musterte ihren Freund, mit ihrem
Kindergesicht, voller Vertrauen, voller Liebe. Hanna wollte an den
Stäben rütteln und rufen, sie auf sich aufmerksam machen,
irgendetwas tun, um den Zauber zu brechen, um Réka zu warnen, aber
unerbittlich drückte Atschorek sie auf den Boden, die Hand über
ihrem Mund. Hanna konnte sich nicht bewegen, wie gelähmt, wie in
einem Albtraum, musste sie mit ansehen, wie Kunun sich vorbeugte
und Réka sanft auf die Lippen küsste.
»Du musst sterben«, sagte er. »Dann bist du bei
mir. Für immer bei mir. Bist du dazu bereit?«
Nicht einmal ein Wimmern drang aus Hannas Kehle.
Schreien und heulen wollte sie, aber sie konnte nichts davon
tun.
»Ja«, antwortete Réka. »Ja, ich bin bereit.«
Kunun hielt sie im Arm und küsste sie, auf den
Mund, die Wangen, den Hals.
»Es wird ein bisschen wehtun«, sagte er.
»Ich habe keine Angst, wenn du nur bei mir bist«,
flüsterte Réka.
Jetzt biss er sie in den Hals. Hanna sah nur den
Schopf seiner schwarzen Haare, über Réka gebeugt, und dann, wie das
Mädchen in seinen Armen erschlaffte. Kunun öffnete ihre Bluse. Dann
hielt er auf einmal etwas in der Hand, was Hanna nicht richtig
erkennen konnte - etwas Dünnes, Glänzendes. Eine Nadel, ein
Röhrchen? Sie krümmte sich unter Atschoreks Gewicht zusammen, als
sie beobachtete, wie Kunun Réka die Nadel ins Herz stieß.
Sie wimmerte kurz, aber der Vampir küsste sie
wieder und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Schließlich hielt er einen
großen Krug unter den kleinen silbernen Stab, aus dem dunkel das
Blut rann.
»Es dauert nicht lange«, sagte Kunun. »Bald bist du
wie ich. Bald … Meine Liebe. Bald …«
»Ich liebe dich«, flüsterte sie. »Kunun.«
Es kam viel Blut. Und immer noch mehr. Es floss und
floss, immer weiter. Réka seufzte. Ihr Blut rann in den Krug,
unaufhörlich, ihr Herzblut …
Dann kam nichts mehr. Kunun legte sie auf den
Teppich vor das Feuer. Eine kleine Gestalt mit dunklem Haar, die
sich nicht mehr bewegte.