DREI
AKINK, MAGYRIA
Wie zwei ungezogene Schulkinder standen sie vor dem
König. Farank musterte sie ernst, und Mirita duckte sich
unwillkürlich. Ihr Bein war bereits verbunden, und man hatte ihr
einen Gehstock mit einem schönen silbernen Knauf gegeben. Sie
stützte sich schwer darauf.
»Es tut mir leid, Majestät.«
»Das ist alles? Es tut dir leid?«
»Vater, sie kann nun wirklich nichts dafür.« Auch
Mattim fühlte sich unbehaglich unter dem strengen Blick.
»Niemand darf sich von der Truppe entfernen. Ihr
beide wisst das. Zu zweit seid ihr ein gefundenes Fressen für die
Wölfe!« Der Ärger trieb ihn vom Thron; er stand auf und begann
umherzuwandern. »Fast«, sagte er. »Ich kann es einfach nicht
glauben. Fast hätten sie dich erwischt! Die Hüter sagten, sie
hätten schon die Zähne an deinem Hals gesehen. Bei allem, was
leuchtet! Wie kannst du alles riskieren, wofür wir hier kämpfen?
Wie kannst du mit deinem bodenlosen Leichtsinn unseren Feinden in
die Hände spielen?«
»Es ist ja nichts passiert«, verteidigte Mattim
sich trotzig.
»Bist du so dumm, oder tust du nur so? Was bist du,
ein kleiner Junge, der jedem noch so idiotischen Einfall sofort
folgt? In deinem Alter war ich schon Anführer der Stadtwache. Was
rede ich, damals hatte ich schon zwei Jahre Erfahrung als jemand,
der Verantwortung trägt. Wann bist du endlich so weit? Ich frage
mich fast, auf welcher Seite du eigentlich
stehst. Gehörst du schon zu ihnen? Spielst du nur noch mit uns?
Zeig her.«
Mit raschen Schritten war Farank bei seinem Sohn
und zog den Kragen des dunkelgrünen Umhangs zur Seite. Die helle
Haut des Prinzen wies keine Verletzung auf.
»Wenn ich ein Schatten wäre, könnte ich wohl kaum
hier bei Tageslicht vor dir stehen, oder? Und deine Nähe aushalten
könnte ich erst recht nicht.«
»Es heißt, es dauert eine Zeit lang, bis der Biss
wirkt.«
»Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass ich ein
Schatten bin?«
Der König seufzte, zauste seinem Sohn das goldene
Haar und kehrte zum Thron zurück.
Fassungslos starrte Mattim ihn an. »Ich stehe nicht
auf der dunklen Seite«, sagte er. »Ich kämpfe für dich. Für Akink.
Ich bin auch nicht leichtsinnig. Es kann diesen Krieg entscheiden,
wenn ich endlich herausbekomme, woher die Schatten ihre Kraft
nehmen.«
»Woher wohl?«, gab Farank zurück. »Sie haben
bereits hunderte kleiner Dörfer überrannt. Eingenommen.
Ausgeplündert.« Er zögerte, bevor er es aussprach. »Ausgesaugt und
in Wölfe verwandelt.«
»Trotzdem«, beharrte Mattim. »Da muss noch mehr
sein. Manchmal tauchen sie auf, obwohl wir das Gelände bereits
abgesichert haben. Wir schlagen sie in die Flucht - und sie sind
wie vom Erdboden verschluckt. Immer in der Nähe der Höhlen. Sie
haben ein Geheimnis, von dem wir nichts wissen. Vater, ich muss
herausfinden, weshalb sie zu all dem fähig sind.«
Der König verlor für einen Moment sein gestrenges
Herrschergesicht und betrachtete seinen Sohn liebevoll. »Mattim,
sie können all das, weil sie Schatten sind. Weil sie auf der
dunklen Seite leben. Und um ein Haar würdest du nun zu ihnen
gehören.«
Unwillig schüttelte der junge Prinz den Kopf.
»Warum
sollte ich zu einem Feind werden, nur weil ein Wolf mich gebissen
hat?«
»Jeder, den ein Wolf beißt, wird zum Schatten. Das
weißt du.« Auf einmal lächelte der König. »Du hast deinen ersten
Wolf getötet. Ich bin stolz auf dich.«
»Dieser Wolf wusste, wer ich bin.« Mattim suchte im
Gesicht seines Vaters nach einer Erklärung. »Er hat mich angesehen
und es gewusst. An Mirita hatte er kein Interesse, er wollte nur
mich. Wie kann das sein?«
»Instinkt?«
»Das war mehr.« Mattim schüttelte den Kopf. »Das
war nicht einfach nur ein Tier. Wie konnte der Wolf wissen, dass
ich es bin?«
»Das Licht. Sie reagieren extrem aggressiv auf
Licht.«
»Es war noch dunkel. Hell genug, um sich in die
Augen zu blicken, aber mein Tag hatte noch nicht begonnen. Ich
weiß, dass die Schatten unsere Gegenwart nicht aushalten, doch die
Wölfe haben noch nie einen Unterschied gemacht. Hast du das nicht
immer gesagt?«
»Tiere können erstaunliche Dinge«, sagte Farank
leise. »Genau deswegen sind sie so gefährlich. - Und jetzt geh.«
Der König hatte offensichtlich keine Kraft mehr, sich mit seinem
ungehorsamen Sohn auseinanderzusetzen.
Mattim runzelte unzufrieden die Stirn, während er
und Mirita aus der Halle gingen.
»Er will nicht darüber reden. Er versteht es
einfach nicht. Für ihn ist alles so einfach. Er sieht nur den
Kampf, den er seit wer weiß wie langer Zeit kämpft. Aber es ist nun
mal nicht alles so geblieben wie noch vor ein paar Jahrzehnten! Der
Gegner hat sich verändert, und wir müssen wissen, warum.«
»Was erwartest du denn?«, fragte Mirita, die an
seiner Seite humpelte. »Dass er über Dinge im Bilde ist, die er gar
nicht wissen kann? Ich habe die Schatten gesehen.«
»Was?« Mattim blieb stehen. »Wann?«
»Heute. Als die Wölfe angriffen.«
»Aber es war schon Morgen!« Er stöhnte. »Warum hast
du es ihm nicht gesagt?«
Mirita stützte sich schwer auf ihren Stock, um das
Bein zu entlasten. »Ich habe es den anderen Hütern gesagt, als sie
uns gerettet haben. Sie meinen allerdings, ich hätte mich geirrt.
Es hat bereits gedämmert, also kann es nicht sein.«
»Das hättest du dem König sagen müssen!«
»Wenn schon Morrit es mir nicht geglaubt
hat?«
»Die Schatten haben noch viel mehr Geheimnisse, von
denen wir nichts ahnen«, meinte Mattim nachdenklich. »Wir müssen
viel mehr über sie erfahren. Das ist doch wohl wichtiger als alles
andere!«
»Vielleicht stellt König Farank einige Wachen dafür
ab, nach den Höhlen zu sehen. Für dich ist es jedoch einfach zu
gefährlich.«
»Nicht du auch noch.« In Mattims flussfarbenen
Augen blitzte es wütend auf. »Glaubst du ebenfalls, ich gehöre zum
Feind, nur weil ich versuche, diesen Krieg zu gewinnen? Vielen
Dank!«
Selbst wenn Mirita nicht verletzt gewesen wäre,
hätte sie zulassen müssen, dass er davonstürmte. Verloren stand sie
in der großen Halle und humpelte mühsam zum Fenster, um sich dort
auszuruhen, bevor sie ihre ganze Kraft zusammennahm, um das Schloss
zu verlassen.
»Du bist Mirita?« Die Königin persönlich setzte
sich neben sie auf die breite Fensterbank. Die junge Bogenschützin
wurde glühend rot, als sie erkannte, welchen Pfeil die Lichtkönigin
mitgebracht hatte. »Gehört er dir?«
Leugnen war zwecklos. Sie nahm den Pfeil entgegen
und legte ihn neben sich, als wäre er nicht besonders wichtig.
Natürlich war sie froh, ihn wiederzuhaben, aber es hätte nicht
unbedingt auf diese Weise geschehen müssen.
Die Königin blieb neben ihr sitzen. »Mirita und
Mattim«, sagte sie leise. »Er hat uns nie etwas erzählt.«
»Es gibt nichts, was er Euch hätte erzählen
können«, versicherte Mirita schnell. Sie hielt den Kopf gesenkt und
bemerkte daher Eliras Lächeln nicht.
»Immerhin hast du ihm heute das Leben
gerettet.«
»Es war eher anders herum. Er hat mir das Leben
gerettet. Zweimal sogar.«
»Das war er dir schuldig, nachdem er dich in Gefahr
gebracht hatte.«
Mirita hob den Blick. »So war es ganz und gar
nicht«, beteuerte sie. »Ich bin wie Prinz Mattim der Meinung, dass
es ein paar Dinge gibt, die wir unbedingt herausfinden müssen, wenn
wir verhindern wollen, dass die Schatten eines Tages hier in Akink
einfallen.«
Die Königin seufzte. »Mein liebes Kind - du
gestattest, dass ich dich so nenne? -, über solche Entscheidungen
hat nicht Mattim zu befinden. Auch wenn er der Prinz ist. Du bist
Flusshüterin und weißt, dass du Morrit zu gehorchen hast. Er ist
euer Anführer. König Farank hat ihn dazu bestimmt, und das mit
gutem Grund. Mattim ist viel zu jung. Wenn er uns durch sein
unreifes Verhalten nicht ständig zeigen würde, dass er diesen
Posten nicht verdient, hätte er ihn längst inne.«
»Vielleicht muss man manchmal Dinge tun, die man
nicht darf, aus dem einfachen Grund, weil sie kein anderer tun will
oder kann«, gab Mirita zurück.
Elira bedachte sie mit einem aufmerksamen Blick.
»Du hältst zu ihm, was ich auch vorbringe, wie? Ganz wie es eine
richtige Seelengefährtin tun würde.«
Wieder wurde die Bogenschützin rot. »Das bin ich
nicht«, wisperte sie.
»Mag sein, noch nicht.« Die Königin blickte aus dem
Fenster auf den breiten, blauen Fluss.
»Ein Strom aus Licht«, sagte sie leise. »Den die
Schatten nie überschreiten werden. Mirita!«
»Ja, Majestät?«
»Du musst Mattim dazu bringen, damit aufzuhören.
Versuch es, bitte! Auf uns hört er nicht, auf mich am wenigsten. Er
darf sich nicht in Gefahr bringen. Natürlich, er ist jung und
tatendurstig, und er glaubt, er könnte ganz Magyria retten, weil
ihm nichts misslingen kann. Aber dem ist nicht so. Glaub mir, Kind,
es kann misslingen.«
Mirita dachte an die früheren Lichtprinzen, die zu
den Schatten gegangen waren, und erkannte die Angst in den Augen
der Königin. »Er ist der Letzte. Verstehst du, was das heißt? Wenn
wir ihn verlieren, wird es dunkel über Akink.«
»Aber wenn das, was wir herausfinden, den Krieg
endgültig entscheiden würde?«
»Und wenn nicht?«, fragte Elira zurück. »Habt ihr
euch auch darüber Gedanken gemacht? Was, wenn nicht? Was, wenn
dieser Wolf Mattim gebissen hätte? Es fehlte so wenig, und er wäre
ein blutsaugender Schatten geworden - oder gar ein Wolf.« Sie legte
eine Hand auf Miritas Arm. »Wenn dir Mattim etwas bedeutet … wenn
dir mein Sohn wirklich etwas bedeutet …«
»Alles«, flüsterte Mirita. Sie konnte nicht anders.
»Dann rette ihm das Leben. Rette Akink. Rette das Licht. Er muss
gehorchen, ganz gleich, ob er es einsieht oder nicht. Er muss. Rede
mit ihm. Halte ihn fest. Bring ihn zur Vernunft. Er hat dem großen
Wolf den Rücken zugedreht, um dich zu beschützen. Du bist
wahrscheinlich die Einzige überhaupt, auf die er hört.«
»Dafür wird er mich hassen«, murmelte sie.
»Mein Licht verblasst allmählich«, fuhr die Königin
fort. »Ich werde nie wieder einem Kind das Leben schenken. Meine
Zeit ist um. Und wir brauchen dringend Lichtkinder. Vielleicht
werden irgendwann deine Söhne und Töchter den hellen Tag nach Akink
zurückbringen.«
»Was?«
»Ich meine es ernst.« Elira nickte dem Mädchen
gütig
zu. »Wenn es dir gelingt, Mattim zur Vernunft zu bringen … Wie alt
bist du?«
»Sechzehn.«
»Ein Jahr jünger als er. Das ist gar nicht mal so
verkehrt. Jedenfalls alt genug.«
Mirita konnte immer noch nicht glauben, was die
Königin ihr da versprochen hatte.
»Ihr meint …?«
»Rette ihn«, wiederholte Elira. »Erweise dich als
seine Seelengefährtin. Werde seine Lichtprinzessin.« Sie lächelte
über den staunenden, ungläubigen Ausdruck in den Augen der jungen
Bogenschützin. »Ihr beide könntet diese Stadt wieder mit Licht und
Leben füllen. Zuerst musst du ihn jedoch retten. Vor sich
selbst.«
Mattim lag in seinem Bett und drückte das Gesicht
ins seidene Kissen, bis er keine Luft mehr bekam und sich auf den
Rücken warf. Das war ein Fehler; die Kratzer, die der Wolf ihm
zugefügt hatte, schmerzten so stark, dass er sich lieber auf die
Seite drehte.
Es hatte wehgetan, sich auszuziehen. Die Kleidung
klebte an seinem Rücken fest, und als er sie ungeduldig
herunterriss, schnappte er vor Schmerz nach Luft. Blutspuren an
seinem Hemd verrieten ihm, dass der Wolf ihn schlimmer erwischt
hatte, als er angenommen hatte. Er verrenkte den Kopf, um die
Striemen zu betrachten, und stellte sich schließlich nackt vor den
großen Ankleidespiegel, der an der Wand lehnte.
Die Spuren der Krallen waren deutlich zu erkennen,
vier rote Streifen unter dem rechten Schulterblatt, vier auf dem
linken. Er erschrak, als er die Verletzungen auf seiner hellen Haut
sah. Nie war ihm so deutlich gewesen wie in diesem Augenblick, wie
viel Glück er gehabt hatte. Der Wolf hatte ihn zu Boden gerissen,
er hatte die Zähne schon an seinem Hals … und hatte gezögert, lange
genug. Zu lange
für eine wilde Bestie, die ihn zerreißen wollte. So vorsichtig wie
nur möglich streifte er sich das Nachtgewand über.
»Mattim?«
Die Königin kam herein und setzte sich auf die
Bettkante. Schon sehr lange hatte sie das nicht mehr getan. Er
spürte ihre Hand an seiner Schulter. Sanft streichelte sie seinen
Rücken über dem dünnen Stoff. Mattim biss die Zähne zusammen, um
nicht aufzuschreien. Tränen traten ihm in die Augen, während er
sich darum bemühte, sich den Schmerz nicht anmerken zu
lassen.
»Vor langer Zeit«, sagte Elira, und es klang wie
der Beginn einer der Geschichten, die er früher so geliebt hatte,
»als Magyria noch voller Zauber war, das Land der Magie … pflegten
die Menschen hin und wieder die Grenzen von Traum und Wirklichkeit
zu überschreiten. Sie setzten den Fuß in jenes andere Land, das nur
einen Lidschlag von unserem entfernt ist, und besuchten dort die
Schläfer. Sie kamen zu ihnen als Wölfe, schlichen sich in ihre
Träume und sangen sie in den Schlaf …«
»Als Wölfe?«
Wenn jemand das Wort aussprach oder wenn er selbst
es sagte, wenn er es nur dachte, durchfuhr es ihn wie ein kalter
Schauer. Trotzdem konnte er nicht anders, als es zu denken und zu
sagen. »Wölfe?« Sein Rücken fühlte sich an, als hinge dort immer
noch ein Wolf. Er musste nur die Augen öffnen und den Kopf drehen,
und dort würde das Tier sein und ihn anblicken mit runden
Augen.
Aber neben ihm saß nur seine Mutter und nickte ihm
liebevoll zu.
»Sie kamen zu ihnen als graue Schatten und …«
»Kein Wort mehr.«
Der König selbst stand an der Tür. Sein Gesicht war
grau und müde, doch in seinen Augen lag ein unerbittlicher Glanz.
»Kein Wort mehr davon.«
»Es ist nur eine Geschichte«, erwiderte Elira
beschwichtigend.
Farank trat zu ihnen und sah auf Mattim herab.
»Kein Wort mehr«, entschied er, »nie. Nichts über Wölfe. Verstehst
du mich, Elira?«
»Ja«, sagte die Königin und senkte den Kopf.
Der König fasste sie am Arm und führte sie
hinaus.
»Es ist bloß eine Geschichte«, verteidigte sie
sich, als Farank sorgfältig die Tür hinter ihnen schloss. »Ich
dachte nur … So wie früher. Bloß eine Geschichte zum
Einschlafen.«
»Nicht diese«, sagte er. »Ich wusste gar nicht,
dass du sie kennst. Nicht diese. Versprich mir das.«
Ihr ruhiger, klarer und zugleich herausfordernder
Blick ließ ihn aufseufzen. »Bitte«, forderte er. »Merkst du denn
nicht, dass Mattim das Unheil geradezu anzuziehen scheint? Er wird
zu ihnen gehen.«
»Mattim? Nie im Leben!«, protestierte sie. »Unser
Sohn ist treu. Er beklagt sich nie über den Dienst bei den
Flusshütern. Mattim würde alles tun, um die Stadt zu
schützen.«
»Ich will nicht, dass er uns hört. Komm.« Der König
führte seine Gemahlin weiter, weg von Mattims Tür, die Treppe
hinunter und in den Galeriesaal. Ein einziges Bild hing dort an der
Wand, ein Porträt - Mattim, die Arme vor der Brust verschränkt, ein
trotziges Lächeln auf den Lippen, mit dem er den Betrachter
herauszufordern schien. Der junge Prinz hatte es gehasst, gemalt zu
werden.
»Elira«, sagte der König sehr ernst, »gebe das
Licht, dass niemals der Tag kommt, an dem wir dieses Bild von der
Wand nehmen müssen. Aber damit es nicht passiert, müssen wir sehr
vorsichtig sein. Es steht auf Messers Schneide. Eine falsche
Bewegung und er ist verloren. Und mit ihm ganz Akink.«
»Du tust ihm Unrecht, wirklich.« Die Königin
weigerte
sich, es zu glauben. »Unser Sohn liebt uns. Er liebt diese Stadt.
Mattim ist ein guter Junge. Von allen unseren Kindern ist er
vielleicht sogar derjenige, der mir am meisten Freude macht. Er
gehört dem Licht. Eines Tages werden seine Kinder das Licht in
dieser Stadt verstärken, und eine neue Zeit wird anbrechen. In mir
ist so viel Hoffnung, Farank. Warum siehst du nur so schwarz? Weil
Mattim der Letzte ist? Ich kann verstehen, dass du Angst hast
…«
»Sie ziehen ihn zu sich«, unterbrach Farank. »Und
wenn wir nicht gut auf ihn aufpassen, wird er zu den Schatten
gehen. Ich sehe es in seinen Augen, ich sehe es, wenn wir über den
Wald sprechen und über die Wölfe.«
»Das glaube ich nicht. Mattim liebt Akink genauso
wie wir.«
»Deshalb wird er sich einreden, dass er es für
Akink tut. Er wird sich den Schatten ergeben und dabei auch noch
glauben, dass er es mit ihnen aufnehmen kann.« Der König verzog das
Gesicht. »Unser Sohn muss lernen, sie zu fürchten und zu hassen,
oder er ist verloren und wir mit ihm.«
»Aber … er hat heute einen Wolf getötet. Was
verlangst du denn noch?«
»Dass er es tun kann, ohne es zu bedauern.« Farank
strich ihr abwesend eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wenn er das
nicht kann, Elira …«
»Mattim hat ein mitleidiges Herz. Ist das so
schlimm? Wäre es dir lieber, wenn er kalt und herzlos wäre?«
»Mit diesem Feind darf man sich kein Mitleid
erlauben. Ja, es ist schlimm, wenn es einen dazu verleitet, zu
zögern und alle in Gefahr zu bringen. Es ist schlimm, wenn unser
Sohn es nicht fertigbringt, zu gehorchen. Beim Licht, er muss
endlich lernen, zu tun, was man ihm sagt. Wenn er immer eigene Wege
geht, wohin wird das führen? Es werden irgendwann nicht mehr unsere
Wege sein.« Farank seufzte leise. »Elira, ich weiß, dass Mattim ein
großes Herz hat. Da ist etwas in ihm, das die anderen nicht hatten.
Ich
bin mir nicht sicher, ob es eine Stärke oder eine Schwäche ist.
Der Junge kämpft nicht gerne. Er würde nie freiwillig auf die Jagd
gehen, so wie … wie der andere. Er liebt nicht nur Akink, sondern
auch den Wald und sogar die Wölfe. Mattim liebt Wesen, die seine
Liebe nicht verdient haben, die jeder andere fürchtet.«
»Ist das denn schlimm?«, fragte Elira zum zweiten
Mal.
»Schlimm?« Farank lachte. »Meine Liebe, das ist das
Licht! Es ist so stark in ihm, manchmal fürchte ich sogar, dass es
ihn verbrennen wird. Du musst mir nicht sagen, dass er stark oder
etwas Besonderes ist. Das weiß ich doch. Ich sehe ihn an und weiß
es, und in solchen Momenten möchte ich ihn festhalten und nicht
mehr loslassen, damit er die dunklen Wege nicht entdeckt, die vor
ihm liegen. Wenn er die Wölfe liebt, wie soll er da ihrem Ruf
widerstehen? Elira, wenn jemand wie Mattim zu den Schatten geht,
wird eine Dunkelheit über uns kommen, die schlimmer ist als alles.
Jemand wie er, der so hell strahlt, wird finsterer werden als jeder
andere unserer Feinde. Er wird furchtbarer werden als alle vor ihm,
gefährlicher als die Wölfe und gnadenloser als der Jäger.«
Die Königin wischte sich über die Augen. »Du machst
mir Angst.«
Der König des Lichts schloss die Arme um seine
Gemahlin. Sie legte ihre Wange an seine Brust.
»Ich kann das nicht ertragen«, flüsterte sie. »Ihn
auch noch zu verlieren … Ich will nie, nie wieder ein Bild von der
Wand nehmen und einen Namen vergessen müssen. Jedes Mal ist ein
Teil von mir gestorben … Er wird kämpfen, Farank. Ich glaube fest
daran. Mattim wird sich nicht ergeben. Er wird die Schatten
bekämpfen. Unser Sohn wird stark genug sein.«
Der König hielt Elira noch immer fest, den Blick
auf das Bild gerichtet, das letzte Porträt an der Wand.
»Das muss er«, sagte er nur.
Die Flusshüter marschierten in einer langen Reihe, immer zwei
nebeneinander, über die Brücke und dann am Ufer entlang. Man konnte
sie vom Fenster aus sehen, obwohl ihre grünen Gewänder mit der
Umgebung nahezu verschmolzen. Erst als sie abdrehten und in den
Wald traten, verlor man sie ganz aus dem Blick.
Mirita seufzte.
»Bitte verzeih.« Mattim wies auf ihr Bein. »Du bist
jetzt wohl eine Weile außer Gefecht gesetzt, wie?«
»Es wird schnell heilen. Es tut ja nicht einmal
weh«, log sie. »Und du, wie kommst du klar?«
Sie hatte nicht erwartet, dass er sie in ihrem
kleinen Zimmer besuchen würde. Von ihrem Elternhaus aus hatte man
einen Blick auf den Fluss, der dem von der Burg aus in wenig
nachstand. Wenn das Wasser nach heftigen Regenfällen stieg, reichte
es fast bis an die Hausmauer. Als ihre Mutter den Prinzen
hereingeführt hatte und dabei verwundert die Brauen hochzog, fühlte
sie, wie ihr Herz wild schlug. »Steht es so schlecht, dass du die
einzige Flusshüterin besuchen musst, die noch in der Stadt
ist?«
»Ich halte es keinen Tag ohne dich aus.« Er lachte.
»Nein, Scherz beiseite. Mein Vater lässt mich nicht über die
Brücke. Ich habe keine Ahnung, wie lange er das durchziehen will.
Aber ich lasse mich nicht in meiner eigenen Stadt zum Gefangenen
machen. Kannst du nicht …?«
»Ich?«, fragte Mirita. Es schmerzte immer noch ein
bisschen, dass er über die Vorstellung gelacht hatte, sich nach ihr
zu sehnen. »Was soll ich denn tun?«
»Du könntest mit meinen Eltern reden und ihnen
versichern, dass du mich jetzt für vernünftig genug hältst und man
mich wieder hinauslassen kann.«
»Du meinst, auf meine Meinung würde irgendjemand
etwas geben? Abgesehen davon, du bist doch gar nicht vernünftig
geworden. Jedenfalls nicht vernünftiger als gestern.«
»Bitte, Mirita, du bist meine einzige Hoffnung«,
schmeichelte Mattim. »Ich halte es nicht aus, hier eingesperrt zu
sein. Ich habe die ganze Nacht nachgedacht, über die Schatten, die
du gesehen hast. Wenn sie sich so nah an Akink heranwagen können,
ohne zu vergehen, steckt mit Sicherheit mehr dahinter. Es
widerspricht einfach allem, was ich bisher dachte. Oder dem, was
man uns immer gesagt hat.«
»Du lässt nicht locker, wie?« Mirita fand seine
Überlegungen alles andere als unvernünftig. Sie waren hier etwas
auf der Spur, etwas Wichtigem. Das Jagdfieber packte auch sie.
»Meinst du, es hat etwas mit den Höhlen zu tun? Sie sind doch
leer?«
»Das behaupten alle. Überprüft haben wir es noch
nicht.«
»Oh, nein.« Das Mädchen schüttelte heftig den Kopf.
»Oh, nein, nein, nein.« Schuldbewusst erinnerte sie sich an die
Unterredung mit der Königin. »Du darfst die Stadt nicht verlassen.
Falls doch, darfst du dich nicht von den Flusshütern entfernen. Und
vor allem darfst du nie, nie allein durch den Wald.«
»Jetzt hörst du dich schon an wie meine Mutter.«
Ärgerlich verzog Mattim das Gesicht.
Mirita streckte die Hand nach ihm aus und ließ sie
wieder sinken.
»Könnte es nicht sein, dass sie Recht hat? Dein
Leben ist zu wertvoll, um es für eine fixe Idee zu
riskieren.«
»Hör auf, so zu reden!« Er wandte sich schon zur
Tür, aber dann besann er sich und setzte sich ihr gegenüber aufs
Bett. »Lass das. Es geht nicht um mich. Es geht um Magyria. Wenn
wir eine Möglichkeit finden würden, die Schatten zu vertreiben,
würden wir nicht nur Akink retten, sondern das ganze Königreich. Es
wäre ein für alle Mal vorbei.«
»Und wie«, begann sie, »sollen die Höhlen …« Das
Licht spielte in seinem Haar. Der Fluss warf den glitzernden Schein
durchs Fenster, und über Mattims Gesicht schienen
Wellen funkelnden Lichts zu gleiten. Sie schloss kurz die Augen,
um sich zu konzentrieren. »Mattim, selbst wenn die Schatten die
Höhlen für was auch immer benutzen - wie könnte das
kriegsentscheidend sein?«
»Die Schatten können durch diese Höhlen auftauchen
und verschwinden, richtig?«
»Das ist nichts als ein Verdacht.«
»Angenommen, er bestätigt sich. Die Schatten
fliehen also durch irgendeinen Geheimgang oder was es auch ist.
Vielleicht«, er zögerte, »liegt dort sogar der Zugang zu ihrem
Schattenreich. Ihr Eingang nach Magyria.«
»Aber die Schatten kommen nicht aus einem eigenen
Schattenreich«, widersprach Mirita. »Sie stammen von hier. Sie sind
Magyrianer, die von den Wölfen gebissen wurden. Sie sind
Untote!«
Mattim strich sich mit den Fingern übers Kinn, eine
Geste, die er unbewusst von seinem Vater übernommen hatte.
»Die Toten haben ihre eigenen Geheimnisse«, sagte
er. »Vielleicht verstecken sie sich in den Höhlen vor dem Licht?
Dann kriegen wir sie. Wenn sie durch diese Höhlen verschwinden,
müssen wir sie nur verschließen, damit sie nicht zurückkehren
können. Dann sind wir frei von ihnen.«
»Bleiben noch die Wölfe.« »Ja, die Wölfe. Wenn
keine Schatten in den Wäldern lauern, können wir ganz anders gegen
die Wölfe vorgehen. Wir werden sie ein für alle Mal von hier
vertreiben.«
»Ach, Mattim. Die Wölfe werden einfach neue Leute
beißen und sich ihre Schatten selber machen. Wir müssen kämpfen,
weil wir nicht aufgeben können, doch einen endgültigen Sieg wird es
nicht geben. Nur eine endgültige Niederlage. Und da willst du
herkommen und die Welt retten? Warum du? Weil du ein Lichtprinz
bist? Sei mir bitte nicht böse, aber deinen Geschwistern hat das
auch nicht viel genützt.«
»Sie haben genauso gekämpft wie ich«, entgegnete
er.
»Wenn ich mich verkrieche, damit mir ja nichts passiert, wer wäre
ich dann? Ein Feigling und Drückeberger. Könnte ich dann noch von
mir behaupten, auf der Seite des Guten zu stehen?«
Er hatte Recht. Allem, was er sagte, musste sie aus
ganzem Herzen zustimmen. Trotzdem zwang sie sich zu sagen: »Mattim,
wenn wir dich verlieren, was würde es uns nützen, die Schatten los
zu sein?«
Seine Felsaugen musterten sie verächtlich. »Ich
dachte, wir wären Freunde. Haben meine Eltern dich so lange
bearbeitet, bis du umgeschwenkt bist, oder bist du mir böse, wegen
deines Beins?«
»Nein, Mattim, ich …«
»Dann also meine Eltern. Ich dachte es mir schon
fast. Was haben sie dir versprochen?« Er ließ den Blick durch ihre
kleine Kammer schweifen. »Geld? Eine Beförderung bei den
Flusswächtern? Was?«
Dich. Deine Mutter hat mir dich versprochen. Wie
hätte sie ihm das sagen können? So, wie er sie ansah, würde es
sowieso nichts mit ihnen beiden werden. Der Schmerz schnürte ihr
die Kehle zu.
Mattim stand auf. »Verräterin.« Er hatte die Hand
schon am Türriegel, als sie eine Entscheidung traf.
»Warte! Mattim, bitte warte! Na gut. Ich rede mit
ihnen. Ich tu, was ich kann, damit sie dich wieder
rauslassen.«
Er stand im Schatten, und immer noch tanzte der
Glanz der Wellen auf seinem Haar und über sein Gesicht. Doch das
war nichts gegen sein Lächeln.
»Ich wusste es. Auf dich kann man sich verlassen.«
Er schenkte ihr dieses Lächeln wie ein geheimnisvolles Päckchen zum
Geburtstag, die Hoffnung darauf, dass sich darin weitaus mehr
befand. Sie sah noch, wie er sich an ihrer verdutzten Mutter in
ihrer schmalen Stube vorbeidrängte; ein Luftzug verriet, dass er
den Weg nach draußen selbst gefunden hatte.
»Mirita?« Ihre Mutter stand im Türrahmen; ihr
Gesicht sprach Bände. »Das war Mattim.«
»Ich weiß.«
»Der Prinz.«
»Mutter, ich weiß!«
»Was wollte er bloß hier? Warum kommt er
her?«
»Ich bin in der Flusswache.« Mirita bemühte sich,
geduldig zu bleiben. Sie verstand sich eigentlich ganz gut mit
ihrer Mutter, aber es wäre ihr im Traum nicht eingefallen, zu Hause
davon zu erzählen, was sie für Mattim empfand. Aus diesem Grund
hatte sie nicht einmal erwähnt, dass sie seit einiger Zeit in
derselben Schicht Dienst hatten. Sie fürchtete, sich zu verraten,
wenn sie seinen Namen auch nur aussprach.
»Ging es um dein Bein? Erhältst du eine
Entschädigung?«
Mirita seufzte. »Ich weiß nicht, wie viel ich
bekomme«, antwortete sie leise.