ZWEIUNDZWANZIG
BUDAPEST, UNGARN
»Komm, die Treppe hoch.« Sie huschten die Stufen
hinauf, kichernd und auf leisen Sohlen. Mattim hatte Hanna
angerufen, sobald Kunun aus dem Haus war - einer der anderen
Vampire, die hier schon länger lebten, hatte ihm erklärt, wie man
ein Handy benutzte -, und nun war sie hier, und ihr Herz schrie vor
Glück, als er ihr die Tür unter den Löwen öffnete und sie ihm nach
oben in seine Wohnung folgte.
»Werden sie dich nicht verraten?«, fragte sie, als
er die Wohnungstür hinter ihnen zudrückte. Mattims Lächeln
erinnerte sie unglaublich an Attila, wenn er etwas Verbotenes tat.
»Die anderen, die hier wohnen?«
Hanna hatte keine Vampire gesehen, aber dieses Haus
war von ihrer Gegenwart durchdrungen. Sie wusste nicht, ob sie sich
das einbildete oder wirklich fühlte. Ein Kribbeln, das ihr über den
Rücken lief und sie dazu brachte, sich ständig umzusehen.
Gefahr! Gefahr!
Mattim lachte nur. »Wir sollten uns nicht hier
treffen«, stimmte er ihr zu, ohne dass die Freude aus seinem Blick
wich. Es war, als hätte jemand einen Dimmer betätigt und den Glanz
seiner Augen verstärkt. Sobald er Hanna betrachtete, war es, als
würde etwas in ihm aufleuchten, etwas, das unter einem dichten
Überzug verborgen war, unter einer Schicht aus Dunkelheit und
Verzweiflung, und dennoch bereit dazu, aus allen Poren zu
strahlen.
Sie merkte, dass sie ihn anstarrte, und drehte sich
hastig um. Als sie ihre Jacke auszog, legte er ihr etwas Weiches um
die Schultern.
»Was ist das? Ein - Schal?«
»Ich habe dir einen neuen gekauft«, verkündete er.
»Damit ich deinen behalten kann. Was ist, gefällt er dir?« Seine
Augen leuchteten erwartungsvoll.
»Er ist wunderschön.« Sie schmiegte die Wange an
den weichen Stoff. Dabei fiel ihr Blick auf seine Schulbücher.
»Sind das wirklich deine? Ich habe mich schon gewundert.«
»Ich dachte, wir könnten zusammen lernen.« Dass er
dieses Grinsen nicht aus dem Gesicht bekam! »Schließlich musst du
noch an deiner Grammatik feilen.«
»Ach, muss ich das?«
Hannas gespielten Ärger konnte er nicht
widerstehen.
Bei diesem Kuss, so sanft und süß, verspürte er
nicht das geringste Verlangen, sie zu beißen. Er war so gesättigt
von seinem Glück, dass es sich fast wie eigenes Leben anfühlte. Ja,
es genügte, Hanna im Arm zu halten und zu hören, wie sie
atmete.
»Wenn ich gewusst hätte, dass es dich gibt in
dieser Welt, ich wäre schon früher gekommen«, flüsterte er in ihr
Haar.
»Wie war es?«, fragte sie. »Das erste Mal
herzukommen?«
»Atschorek hat mich hergebracht«, sagte er. »Sie
nahm die Fackeln von den Wänden, öffnete Wilders Käfig und ließ ihn
zurück in den Wald … Wilder ist unser Bruder … Sie fragte mich, ob
ich gemerkt hätte, dass ich aus dem Käfig gestiegen war, ohne ihn
zu öffnen, einfach durch den Schatten hindurch. Das hatte ich
nicht, deshalb erschrak ich, und es fühlte sich an, als würde mein
Herz stehen bleiben. Ich spürte die Leere in meiner Brust sehr
deutlich. So leer und leicht war ich, dass ich mit ihr durch den
Schatten gehen konnte, mitten durch den Fels … in den Keller eines
Hauses in einer Stadt, die von steinernen Löwen bewacht wird. In
dem einen Augenblick stand ich in einer Höhle,
die nach Blut roch und nach Angst und Wolf, im nächsten war ich
hier und fing an zu glauben, dass ich wirklich tot bin. Du weißt
überhaupt nicht, wovon ich rede, nicht wahr?«
Hanna wollte nichts sagen, sondern nur zuhören,
seiner Stimme, die klang, als würde sie ein Lied aus einer anderen
Welt singen, ein uraltes Lied, das man nicht verstehen musste, um
seine Schönheit zu begreifen. Er erzählte von Akink und dem Kampf
gegen die Schatten, als hätte er sein ganzes Leben lang nichts
anderes getan, als bei ihr zu sein und über die Dinge zu reden, die
geschahen und geschehen waren und die noch geschehen würden,
vielleicht oder vielleicht auch nicht. Nichts, gar nichts wollte
sie erwidern, nur lauschen, wie er sprach. Wenn Kununs Stimme schön
und dunkel wie die Nacht war, eine Stimme wie schwarze Seide,
verführerisch und fesselnd, so war Mattims Stimme wie ein Lied im
Frühling, wie ein Morgen, der anbrach und mit seiner Kraft die
Dunkelheit vertrieb.
Der junge Prinz lachte. »Was ist? Wenn du mich so
ansiehst, werde ich ganz verlegen.«
Hanna schirmte die Augen mit einer Hand ab und
lugte durch die Finger. Und bemerkte seinen Blick, der auf ihr
ruhte, als wäre auch in ihr all das, was sie in ihm sah. Ein
Frühling, von dem man sich wünschte, er möge nie enden. Niemals
hatte Maik sie so angeschaut, so, als würde er sterben müssen, wenn
er sich von ihr abwandte.
»Du bist der Prinz des Lichts«, flüsterte sie. »Ich
glaube, ich verstehe allmählich, was das heißt.«
»Ich habe es verloren«, sagte er leise, und sie
schauderte, als sie den Schmerz in seiner Stimme hörte. Konnte es
sein, dass er zu irgendeiner Zeit mehr geleuchtet hatte als jetzt,
dass er mehr gewesen war als das, was sie vor sich hatte?
»Du hast es nicht verloren. Es ist da, in
dir.«
Ihre Blicke versanken ineinander. Das Gefühl war so
intensiv, dass es kaum zu ertragen war, bis Hanna schließlich
leise lachte, den Kopf schüttelte und in die Wirklichkeit
zurückkehrte.
»Eins verstehe ich beim besten Willen nicht«, sagte
sie. »Du sagst, du bist in Kununs Keller gelandet? Dabei hat dieses
Haus doch gar keinen Keller. Die Treppe endet im Erdgeschoss,
darunter ist nichts. Und im Fahrstuhl gibt es auch keinen Knopf für
ein Kellergeschoss.«
»Das Haus hat sehr wohl einen Keller«, entgegnete
Mattim, und sofort verdüsterte sich seine Miene. Es war, als würde
die Sonne untergehen. »Aber niemand gelangt ohne Kununs Erlaubnis
hinunter und geht durch die Pforte nach Magyria. Man muss die
Knöpfe in einer bestimmten Reihenfolge drücken, damit der Fahrstuhl
ganz nach unten fährt. Ich glaube nicht, dass er mir jemals so weit
vertrauen wird, dass er mich einweiht.«
Der Zauber war zerstört. Hanna erblickte in ihm
nichts als einen Jungen, dessen Traurigkeit schwer auf seinen
Schultern lastete. Sein blondes Haar fiel ihm über die Augen. Wieso
hatte sie jemals geglaubt, er könnte es mit Kunun aufnehmen?
Hanna fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Ihr
war, als hätte Kunun dieses Haus und jeden einzelnen Raum mit
seiner Gegenwart getränkt und vergiftet, mit seiner Dunkelheit,
sodass man selbst dann, wenn er gar nicht da war, gegen ihn kämpfen
musste.
»Wir werden diesen geheimen Keller finden«,
versprach sie. Sie ergriff Mattims Hände und hielt ihn fest, es
war, als müsste sie einen Ertrinkenden retten. »Wenn dir so viel
daran liegt …« Mit der Hoffnung und dem Mut beschlich sie von
irgendwoher eine neue Angst. Was ist, wenn er geht? Wenn wir die
Pforte finden und er verschwindet einfach, in seine eigene Welt,
und dann wird es sein, als wäre er nichts als ein Traum gewesen
…
»Warum ist es so wichtig?«, fragte sie bang.
»Weil du nach Hause willst?«
»Ich kann nicht mehr zurück«, sagte Mattim. Seine
Augen erinnerten sie an die Löwen, die immer vor der Tür stehen
mussten, still und steinern. »Ich wollte das Geheimnis der Vampire
lüften, und genau das habe ich getan. Von den Menschen beziehen sie
ihre widernatürliche Kraft. Doch was nützt dieses Wissen, wenn ich
nicht auch herausfinde, wie man die Pforte zwischen den Welten
schließen kann? Ich muss Kunun und die anderen Schatten irgendwie
von der Quelle ihrer Macht abschneiden. Ich habe noch lange nicht
getan, was ich tun muss, und dabei weiß ich noch nicht einmal, ob
es mir überhaupt gelingen wird, alleine hindurchzugehen. Bisher war
immer jemand dabei. Beim ersten Mal Atschorek, beim letzten Mal
Kunun und seine Jagdgesellschaft.« Er stieß ein kleines, bitteres
Lachen aus. »Irgendwie muss ich diese Pforte schließen, und wenn es
das Letzte ist, was ich tue.«
»Das wirst du.« Als hätte sie es in der Hand,
ausgerechnet sie! »Wir werden einen Weg in diesen Keller finden.«
Ihre Zuversicht übertrug sich auf Mattim.
»Ja«, sagte er leise. »Ich schaffe es. Meine Eltern
und meine Freunde in Akink sollen erfahren, dass ich kein Ungeheuer
geworden bin. Dass ich immer noch für Akink kämpfe. Dass Kunun mich
nicht besiegen wird, auch wenn er die anderen alle auf seine Seite
zieht.«
»Du bist kein Ungeheuer!« Sie legte die Hand auf
seine Schulter, tröstend, aber es war ein Fehler, ihn zu berühren,
jetzt, da sie gemeinsam nach einem Weg in den Keller suchen
wollten. Ihre Hand auf seiner Schulter. Ihr warmer Atem an seiner
Wange. Er schnappte nach Luft, als die Sehnsucht wie eine Woge über
ihm zusammenschlug. Nach einem Kuss. Nach ihr. Nach viel mehr. Nach
ihrem Leben. Ihrem Blut. Nach allem, was sie war.
Aufstöhnend wandte er sich von ihr ab und schlug
die Hände vors Gesicht. »Geh«, sagte er heiser. »Geh
einfach.«
»Mattim …«
»Geh, Hanna, bitte.«
Sie konnte sich unmöglich einfach so fortschicken
lassen. Zusehen, wie er sich quälte, wie er litt, als müsste er
unerträgliche Schmerzen erdulden.
»Mattim.«
Der Prinz machte eine heftige Bewegung, als wollte
er die Hand abschütteln, die sie ihm wieder auf die Schulter gelegt
hatte. Dann hielt er still, als wüsste er, dass er, wenn er sich
umdrehte, sich auf sie stürzen und seine Zähne in ihren Hals
schlagen würde. Er hielt so still, dass sie, als sie ihn umfasste,
spüren konnte, dass er tatsächlich nicht atmete. Dass seine Brust
sich nicht bewegte und sein Herz nicht schlug. Aus seinem Inneren
kam ein Laut, der sie bis ins Mark traf, ein Hilfeschrei, den er
nicht unterdrücken konnte.
Hanna lehnte die Wange an seinen Rücken und hielt
ihn fest. Und wartete. Wartete, bis er wieder atmete, so als hätte
sie es tatsächlich fertiggebracht, ihn aus dem Meer von Dunkelheit
wieder an die Oberfläche zu ziehen.
Dann berührte sie mit den Fingerspitzen sein
Gesicht, zart wie warmer Regen. Sie zog seine Hände fort, hinter
denen er sich versteckte, und berührte seinen Mund.
»Trink«, sagte sie.
»Du darfst dich nicht für mich opfern. Das kann ich
nicht zulassen. Du …«
Sacht legte sie die Finger an seine Lippen, um ihn
zum Schweigen zu bringen. »Es ist Vormittag«, sagte sie. »Draußen
scheint die Sonne. Wenn der Schutz nachlässt, musst du ihn
erneuern. Trink, Mattim. Danach suchen wir die verdammte Pforte in
diesem verdammten Keller.«
Er strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn, so
behutsam, als würde er einen Schmetterling von einer Blüte heben.
»Du fluchst erbärmlich«, meinte er. »Du fluchst wie eine
Ausländerin.«
Sie hielt ihm ihren Arm hin.
»Du bist verrückt«, flüsterte er. »Es gibt keinen
Grund, das zu tun.«
Sie sagte nichts. Nur ihr Herz schlug, schlug
heftig, als er ihr mit den Fingern über den Unterarm fuhr, über die
blauen Fäden ihrer Adern. Ihr Herz schlug, schlug wie eine Welle
über ihnen beiden zusammen.
»Du kannst dich nicht erinnern«, sagte
Mattim.
Hanna stand vor ihm und zog ihren Arm zurück, den
sie ausgestreckt hatte, als wollte sie ihn zum Tanz auffordern. Sie
blinzelte, und das Blut rauschte in ihren Ohren. Es fühlte sich
nicht an, als müsste sie gleich in Ohnmacht fallen, daher erwiderte
sie seinen besorgten Blick mit einem aufmunternden Lächeln.
»Der Keller. Ich weiß genau, was wir vorhaben.« Sie
unterdrückte den Impuls, die kleine Wunde zu untersuchen. »Komm.
Ich habe nicht mehr viel Zeit, ich muss bald Attila abholen.«
Er sagte nichts. Er musterte sie nur, und sie
wünschte sich mehr als alles andere, sie könnte ihm die
Gewissensbisse nehmen und ihn von dem Schmerz befreien, dass er ihr
wehgetan hatte.
Leise zog der Prinz die Tür auf, und Hanna spähte
an ihm vorbei in den Flur. Der Innenhof lag ruhig unter ihnen, auf
keinem der umliegenden Flure regte sich etwas.
»Wo sind sie eigentlich alle hin? Beute machen?
Sich neue Opfer suchen?«
Mattim gab so etwas wie ein Knurren von sich, und
sie verwünschte sich, ihn daran erinnert zu haben, dass seine Beute
freiwillig zu ihm kam.
»Du bist keine Beute«, flüsterte er, »und kein
Opfer. Du bist mein Herz.«
»Wenn man im Hof steht«, sagte sie laut, um seinen
Blicken und seinen Worten zu entgehen, »und der Fahrstuhl
ist oben, dann müsste man doch durch die Glasscheibe in den Keller
sehen können?«
»Ja, aber die vordere Tür lässt sich nicht öffnen,
wenn der Aufzug nicht im Erdgeschoss ist.«
»Kann man sie aufbrechen?« Sie musterte die
Metalltür im oberen Stockwerk. »Die unterste meine ich natürlich.
Und dann mit einer Leiter nach unten klettern?«
»Die Tür aufbrechen? Ich wüsste nicht wie. Kunun
darf nicht das Geringste ahnen, verstehst du? Ich weiß nicht, wie
lange ich brauche, um herauszufinden, wie man die Pforte nach
Magyria öffnet und schließt. Bestimmt werde ich öfter hinuntergehen
müssen.«
»Wenn dein Bruder nichts merken soll … Er hat doch
sicher einen Schlüssel? Um die Metalltür zu öffnen, wenn
irgendetwas nicht stimmt?«
»Du schlägst vor, dass wir Kununs Sachen
durchsuchen?«, fragte Mattim und klang ehrlich erstaunt.
»Es muss doch eine Möglichkeit geben, an den
Fahrstuhl heranzukommen, wenn er kaputt oder stecken geblieben ist!
Irgendwie müssten wir diese untere Fahrstuhltür öffnen und mit
einer Leiter in den Keller steigen können!«
Die Idee gefiel ihr, Mattim dagegen schüttelte den
Kopf. »Was, wenn jemand die Leiter sieht? Wir sind nicht allein in
diesem Haus. Es geht nicht, wir müssen …«
»… ihn dazu bringen, uns den Code zu
verraten!«
Hanna fühlte, wie die Begeisterung sie in Schüben
durchströmte. »Irgendwie müssen wir ihn hereinlegen!«
»Das ist kein Spiel«, sagte Mattim leise. »Kunun
ist gefährlich. Glaubst du, er lässt sich einfach so
hereinlegen?«
»Er muss doch irgendeine Schwachstelle
haben!«
»Kunun hat keine Schwachstelle«, widersprach
Mattim, als wäre der bloße Gedanke daran Blasphemie. »Sobald er
merkt, worauf wir aus sind, ist er noch zu ganz anderen Dingen
fähig. Wenn er wüsste, dass ich hinter dieser Pforte her bin … wenn
er so etwas auch nur ahnte …«
»Er hat keine Lieblingszahl, die er als Code
gebrauchen könnte, oder? Ein spezielles Datum oder was weiß ich?
Lass uns seinen Geburtstag ausprobieren oder … Okay, vergiss es.
Dann fällt mir noch ein, wir könnten vielleicht eine Kamera im
Aufzug installieren. Wie wäre das?« Die Ideen sprudelten nur so aus
ihr heraus. »Genau, eine Kamera, die ihn dabei aufnimmt, wie er den
Code eingibt!«
Sie merkte, dass Mattim nicht ganz verstand, was
sie meinte, und versuchte es ihm zu erklären. »Sie müsste natürlich
so klein sein, dass er sie nicht bemerkt. Und dann …«
»Er wird es merken«, sagte Mattim leise. »Wenn wir
ihm wenigstens einen Schlüssel stehlen könnten! Aber er wird uns
nicht in seinen Kopf hineinsehen lassen. Wenn er dieses Ding
bemerkt, dann ist es aus.«
Ihre Gedanken arbeiteten fieberhaft. »Oder …
Mattim, ich hab’s! Das ist immerhin ein gläserner Fahrstuhl, warum
sollten wir das nicht ausnutzen? Schließlich wohnst du hier. Du
könntest dich da hinten am Geländer herumtreiben, so oft, dass es
für alle hier normal ist. Nimm dir ein Buch und setz dich draußen
hin oder mach dort deine Aufgaben oder was auch immer. Du brauchst
eine Stelle, von der aus du optimal in den Fahrstuhl hineinsehen
kannst, von wo du den besten Blick auf die Knöpfe hast. Irgendwann
wird Kunun den Fahrstuhl betreten und den Code eingeben, und
…«
»Ich soll das von da hinten erkennen?«, fragte
Mattim zweifelnd. »Ich habe durch die Verwandlung keine Adleraugen
bekommen! Außerdem stand ich schon einmal mit meinem Bruder im
Fahrstuhl, und er hat mir einfach den Blick verstellt.«
Hanna überlegte. »Das wird er nicht tun, wenn er
nicht weiß, dass er beobachtet wird. Ein Fernglas, ein
Teleskop-Fernrohr … Oder eine kleine Kamera, mit der du die Szene
aufzeichnen kannst, damit wir sie uns mehrere Male anschauen
könnten, bis wir alles haben. Du könntest die Fahrstuhlwand
näher heranzoomen. Das müsste eigentlich klappen. Warte, wir
machen es so: Du gehst nach draußen und suchst den besten Platz, wo
man es gut sieht. Ich fahre mit dem Fahrstuhl hoch und runter, und
du probierst aus, in welchem Stockwerk der Winkel am besten passt.
Oder wo wird Kunun sein, wenn er den Code eingibt? Im
Erdgeschoss?«
»Wahrscheinlich«, gab Mattim zögernd zu.
»Dann müsstest du deinen Beobachtungsplatz im Hof
einnehmen. Das wäre vielleicht sogar noch besser! Wenn du dir dort
einen gemütlichen Platz einrichtest und den anderen sagst, du
lernst gerne an der frischen Luft. Wollen wir?«
Mattim wirkte nicht ganz überzeugt, aber er nickte.
»Fahr los«, sagte er, »ich nehme die Treppe.«
Ihr Körper wollte sich weigern, in diesen Fahrstuhl
zu steigen. Sie ließ sich nichts anmerken und winkte Mattim zu,
während sie mit einem flauen Gefühl im Magen ins Erdgeschoss fuhr.
Es war, als wäre sie darauf geprägt, dass in diesem Fahrstuhl immer
etwas Bedrohliches passierte. Ein Schauer lief ihr den Rücken
hinunter, während der Lift nach unten schwebte.
»Es ist alles gut«, murmelte sie, »alles gut. Er
wird nicht stecken bleiben, warum sollte er …«
Ohne zu stocken glitt der Fahrstuhl hinunter. Sie
sah die dunkelblauen Gitter an sich vorüberziehen, sah den Hof mit
dem Brunnenbecken und den steinernen Löwen. Mattim war noch nicht
da. Bestimmt hatte er ihr zeigen wollen, dass er schneller war als
der Lift! Als die Tür im Erdgeschoss aufglitt, stand sie Kunun
gegenüber. Kunun, den sie nun zum zweiten Mal nach der Begegnung
auf dem Schulhof überrascht erlebte. Dann lächelte er, zog leicht
die Brauen hoch und trat in die Kabine. Seine Hand ging zu den
Tasten, doch anstatt einen Knopf zu drücken, berührte er nur die
Stopp-Taste. Sie fuhren nicht an. Die Tür schloss sich.
Durch die Glaswand konnte sie Mattim erkennen, der im Hof stand
und fassungslos zu ihnen herüberstarrte. Hanna schluckte. Sie
brauchte ihre ganze Kraft, um nicht vor Kunun zurückzuweichen, um
sich nicht bis in die hinterste Ecke zu retten und dort heulend auf
den Boden zu rutschen. In diesem winzigen Raum gab es keine
Fluchtmöglichkeit. Nur sie und Kunun. Seine Gegenwart füllte alles
aus. Er musste nur dastehen, vor ihr, und schon wurde sie klein.
Klein und hilflos. Seine dunkle Schönheit bewirkte, dass sie sich
armselig und hässlich fühlte.
»Hanna«, sagte er schließlich. »Hatte ich dir nicht
gesagt, du solltest dich von diesem Haus fernhalten? Ich dachte,
ich hätte es deutlich genug gemacht.«
Sie öffnete den Mund und brachte keinen Ton
heraus.
»Sollte Mattim dich nicht beißen?«, fragte er
weiter. »Er war doch nicht etwa ungehorsam?«
Seine Frage nach Mattim brachte Hanna wieder
einigermaßen zur Besinnung. »Und ob«, sagte sie. »Das hat er -
glaube ich.«
»Tatsächlich?« Kunun trat einen Schritt auf sie zu,
sodass er nun direkt vor ihr stand. Er streckte die Hand aus und
zog langsam, geradezu zärtlich, an ihrem neuen Schal. Er ließ ihn
zu Boden fallen und schob mit beiden Händen ihr Haar zurück, damit
ihr Hals frei war. Seine Bewegungen, so sanft und behutsam wie die
eines aufmerksamen Liebhabers, ließen ihre Beine zittern. Kühl und
glatt, als trüge er Seidenhandschuhe, tastete er mit den Fingern
über ihren Hals.
»Diese Wunden sind nicht neu«, sagte Kunun leise,
so nah an ihrem Ohr, dass sie fühlen konnte, er atmete nicht. »Was
habt ihr getan, meine Liebe, in meinem Haus?«
Im Hof war Mattim wild am Gestikulieren.
»Ich habe ihn gesucht«, flüsterte sie, »ich kann
ihn immer finden. Ich habe keine Ahnung, was wir getan haben. Erst
war ich bei ihm, und auf einmal war ich hier im Fahrstuhl.
Gerade wollte ich nach Hause fahren. Ich muss mich beeilen, sonst
machen meine Gasteltern sich Sorgen und suchen nach mir.« Sie schob
ihren Ärmel herunter. »Ist das eine neue Wunde? Was bedeutet
es?«
Mit festem Griff packte Kunun ihr Handgelenk und
betrachtete die Stelle, an der Mattim sie gebissen hatte. Als er
ihren Arm an seine Lippen hob, zuckte sie instinktiv zurück, aber
er hauchte nur einen Kuss auf ihre weiße Haut.
»Du frierst«, stellte er fest.
»Kunun!« Sie hörten Mattims Schreie von draußen.
»Lass sie gehen! Kunun! Hanna! Hanna!«
»Ja«, sagte sie, »ja, bitte, ich muss jetzt nach
Hause, ich werde auch nicht wiederkommen, sondern …«
»Hast du Angst vor mir?«, fragte der Vampir. Er
ignorierte Mattims Wüten. Wieder war sein Gesicht so nah vor ihr,
und sie blickte ihm direkt in die schwarzen Augen.
»Nein«, flüsterte sie. Ihr Körper sagte etwas
anderes. Er zitterte und bebte und wollte entkommen, wollte sich
herumwerfen und losrennen, nur rennen, so schnell, als gelte es das
Leben. Doch sie war mehr als dieses Zittern und Beben, und sie trat
nicht einmal den halben Schritt zurück, der sie noch von der
Glaswand trennte. Sie tat ihm nicht den Gefallen, auch nur einen
Zentimeter zurückzuweichen.
»Das ist gut«, sagte Kunun. »Denn ich werde dich
jetzt beißen. Ich werde dich vergessen lassen, dass du heute in
diesem Haus warst. Ich werde dich vergessen lassen, dass du mich
hier gesehen hast, und alles, was Mattim dir gesagt hat.«
Hanna blickte ihm in die Augen, die wie die
spiegelnden Scheiben eines dunklen Hauses waren. Ich werde nicht
betteln, dachte sie. Ganz bestimmt nicht. Ich bin keine
Beute und auch kein Opfer. Mattim hatte es gesagt, und in jenem
Augenblick hatte sie nicht wirklich begriffen, was es bedeutete.
Jetzt erst verstand sie es. Ich bin kein Opfer.
»Beiß mich ruhig«, sagte sie. »Seit du es
damals an der
Schule fast getan hättest, warte ich darauf, dass du es endlich
tust. Nicht Mattim. Du. Und dann werde ich dich finden, wenn ich
durch Budapest streife. Nicht Mattim, sondern dich.«
Der Vampir versuchte, in ihren Augen die Lüge zu
entdecken. Aber Hanna wandte den Blick nicht ab. Es fiel ihr nicht
einmal schwer. Nun, da sie die Furcht abgestreift hatte, schien
alles möglich. Sie dachte nicht mehr an Mattim, der verzweifelt auf
der anderen Seite der Glaswand schrie. Kunun beugte sich zu ihr,
und in diesem Moment waren sie einander ebenbürtig. Sie war nicht
mehr klein und unscheinbar und hilflos, sondern schön und stolz und
aufrecht. Vielleicht gehörte auch das zu Kununs Zauber. Einem
Mädchen das Gefühl zu geben, eine Frau zu sein, unwiderstehlich und
königlich, doch falls das so war, dann war er selbst schuld.
»Zeig mir Magyria«, flüsterte sie. »Zeig mir das
Land, dessen König du bist.«
»Mattim hat dir gesagt, ich sei der König von
Magyria?«
Kunun hatte eine Schwachstelle! Sie hatte es
gewusst, seit sie ihn an jenem Tag am Ufer der Donau gesehen hatte,
einen hübschen Kerl mit machohaftem Getue. Er war nicht anders als
jeder andere dieser schönen jungen Männer, die sich allzu viel auf
ihre wundersame Anziehungskraft einbildeten. Wahrscheinlich merkte
er es nicht einmal, wenn sie so übertrieb, dass man, wenn sie
Pinocchio gewesen wäre, ihre Nase zum Stabhochsprung hätte benutzen
können.
»Zeig mir dein Reich«, hauchte sie.
Er schaute sie an mit einem Blick, der dunkle Fäden
um ihre Seele spann. Forschend. Auf eine Weise interessiert, die
ihr fast die Beine wegriss, sodass sie sich unwillkürlich an seinem
Mantel festhalten wollte. Sie wagte es nicht. Es war, als würde die
geringste Bewegung sie in die Arme eines Mannes treiben, den sie
verabscheute und fürchtete. Nie, niemals könnte sie Kunun
begehrenswert finden, niemals
würde sie verstehen, was Réka an ihm fand, niemals würde sie auch
nur auf die Idee kommen, seinetwegen den blonden Jungen zu
vergessen, der irgendwo da draußen jammerte …
Kunun drehte sich um und drückte die Tasten. Sie
beobachtete ihn dabei, und ihr Herz, das fast stehengeblieben wäre,
als er so dicht vor ihr stand, schlug wieder schneller. Jetzt! Wenn
es ihr gelang, jetzt zu entkommen! Doch sie hatte das hier
angefangen, nun musste sie es auch bis zum Ende durchziehen.
Der Fahrstuhl ruckte kurz und glitt dann hinunter
in die Dunkelheit. Hinter der Scheibe erkannte man die graue Wand,
von Kabeln durchzogen. Kunun öffnete die Tür und führte sie in
einen Kellerraum mit niedriger Decke. Falls sie hier etwas
Besonderes erwartet hatte, wurde sie enttäuscht. Wie jeder
gewöhnliche Keller war auch dieser kühl und ungemütlich, wozu das
trübe Deckenlicht zusätzlich beitrug. Hohe, mit unzähligen Flaschen
bestückte Weinregale bedeckten die Wände.
»Du trinkst Wein?«, fragte sie.
»Meine Fähigkeit zu schmecken, ist ausgeprägter,
als du dir vorstellen kannst«, erklärte Kunun. »Und jetzt nimm
meine Hand.«
Sie tat es. Diesmal erlaubte sie sich nicht, Angst
zu haben, als er ihre Finger mit festem Griff umschloss. Wie ein
Vater, der sein Kind führt, dachte sie, wollte sie denken, nur
fühlte es sich ganz und gar nicht so an. Es war eine Geste der
Vertrautheit, wie zwischen Liebenden, als sie Hand in Hand durch
den Mauerdurchbruch schritten, in den nächsten Raum, in dem sie
niemals ankamen. Stattdessen war das Licht plötzlich verschwunden.
Die beiden standen im Dunkeln, in einer Finsternis, in die sie
hineinfielen wie in ein Loch, wie ins Nichts. Hanna schrie kurz
auf. Der Griff um ihre Hand wurde stärker.
»Ich bin da«, hörte sie Kununs Stimme.
»Wo sind wir?« Sie standen nicht mehr im Keller.
Die Luft roch anders, nicht mehr feucht und abgestanden. Von
irgendwoher kam ein Luftzug. Irgendwo dort begann das Dunkel sich
ganz wenig in Grau zu verwandeln, während ihre Augen sich an die
Lichtlosigkeit gewöhnten. Sie mussten in der Höhle sein, von der
Mattim gesprochen hatte, aber es fiel ihr in diesem Moment schwer,
an eine Höhle zu glauben oder an Magyria oder an irgendetwas. Hanna
fühlte sich, als wäre sie mit Kunun in die Dunkelheit gesprungen,
in eine sternlose Nacht, in der alles andere aufgehört hatte zu
existieren.
»Das ist Magyria«, sagte seine Stimme, eine Stimme,
weich und samtiger als die übrige Finsternis, als wäre sie dort, wo
er stand, noch dichter und voller als überall sonst. »Mein
Magyria.«
Sein Atem war nicht zu spüren. Nur seine Lippen,
die über ihren Hals glitten.
»Meine liebe Hanna. Glaubst du, ich wüsste nicht,
warum du all das tust? Glaubst du wirklich, du könntest Macht über
mich ausüben?«
Er wusste es. Wie dumm war sie gewesen, zu glauben,
sie könnte ihn täuschen?
»Dachtest du wirklich, ich würde auf deine
lächerlichen Versuche hereinfallen, mich zu bezirzen? Du hättest es
besser wissen sollen. Was denkst du, wird der König der Schatten
tun, wenn man versucht ihn hereinzulegen?«
Sie wollte ihre Hand wegziehen, aber Kunun hielt
sie unerbittlich fest. »Oh, Hanna, das hättest du nicht tun sollen.
Und es nützt dir gar nichts, meine Liebe. Du kannst das Band
zwischen mir und Réka nicht durchtrennen, indem du dich
dazwischendrängst. Sie gehört mir, und heute Nachmittag werde ich
zu ihr gehen und ihre Fähigkeit erneuern, mich zu finden. Was
willst du ihr erzählen? Nichts wird sie dazu bringen, dir zu
glauben.«
Mit einem Ruck riss er Hanna an sich. Sie wollte
lachen,
über ihn, über sich, ein verzweifeltes Lachen voller Hohn, doch
wieder spürte sie seine Lippen an ihrem Hals und die Andeutung von
etwas Spitzem, das ihr die Haut ritzte.
»Du wirst es vergessen«, sagte Kunun. »Alles. Auch
unser kleines Gespräch hier. Aber tief in deinem Inneren wirst du
vielleicht eine Ahnung davon behalten, was es bedeutet, mich
herauszufordern.«
Es tat weh, trotzdem schrie sie nicht, und sie
weinte auch nicht. Sie hing in seinem festen Griff, ohne sich zu
wehren, nichts als Nacht und Finsternis um sich.