SIEBEN
AKINK, MAGYRIA
Mattim hasste die Brücke. Seine Füße hassten sie.
Ein scharfer Blick seines Gegenübers machte ihm bewusst, dass er
schon wieder hin und her wippte; eine ärgerliche Angewohnheit,
gegen die er nichts tun konnte, weil er es gar nicht merkte.
Der Wald drüben lockte. Wind fuhr durch die Bäume.
Es war verboten, den Kopf zu wenden und den Wald zu betrachten,
genauso wie es verboten war, die Figuren auf den Brückenpfeilern zu
berühren oder zur Burg hochzuschauen oder sich an der Nase zu
kratzen. Es war keine Übung in Geduld. Es war Folter.
Unter ihm rauschte der Fluss. Im Dunkeln ging ein
kaum wahrnehmbares Leuchten davon aus, das Mattim nie zuvor bemerkt
hatte. Der Donua war getränkt von Licht, als hätte er alles
aufgesaugt, was aus der Stadt des Lichts auf ihn fiel. Er reichte
völlig aus, um die Schatten fernzuhalten. Sie konnten auch keine
Boote benutzen, damit wären sie dem Wasser zu nah gewesen, dem
alles verzehrenden Licht. Letztlich war es die Brücke, die Akink
gefährdete, und trotz der Argumente seiner Mutter hätte der junge
Prinz sie am liebsten niedergerissen. Irgendwie. Was nützten
Wachen, die beim Stehen fast einschliefen?
Ruckartig hob Mattim den Kopf, als ein einsamer
Reiter aus dem Wald herauspreschte. Sein graues Pferd war
schaumbedeckt. Als er näher herankam, sah man, dass der Ankömmling
eine Frau war, müde und zerzaust. Sie gehörte nicht zur Flusswache.
Eine Fremde.
»Halt!«, gebot der Wächter am Ende der Brücke.
Mattim stand nur wenige Posten entfernt und beobachtete gespannt
das Geschehen.
Die Frau parierte gehorsam ihr Pferd durch und saß
ab. Sie taumelte, nur mit Mühe richtete sie sich auf.
»Wölfe«, stammelte sie, »alles voller Wölfe! Sie
haben unser Dorf umzingelt. Wir brauchen Hilfe, wir …«
Der Posten rührte sich nicht von der Stelle. »Bevor
wir dich anhören können, müssen wir sicher sein, dass du kein
Schatten bist.«
»Ich bin kein Schatten«, beteuerte die Reiterin.
»Wir brauchen Soldaten, oder wir sind verloren. Der König muss uns
Soldaten schicken!«
»Erst überprüfen wir dich«, entgegnete der Posten
unerbittlich. »Beweise uns, dass dein Körper keine Bissspuren
aufweist.«
»Was soll ich denn tun? Mich hier vor allen
ausziehen?«
Mattim konnte nicht abschätzen, wie alt sie war,
aber ihre müde Stimme, aus der so viel Verzweiflung sprach, rührte
ihn. Er trat vor.
»Das muss nicht sein«, sagte er. »Wir sind hier am
Fluss. Tauch die Hand in den Fluss, dann sehen wir, ob du ein
Mensch oder ein Schatten bist.«
»Prinz Mattim!«, zischte der andere Wächter. »Das
kannst du nicht tun! Das übersteigt deine Kompetenz!«
»Es ist das beste Mittel, um die Wahrheit
herauszufinden«, sagte Mattim. »Oder etwa nicht? Wenn sie ein
Schatten ist, wird sie das Licht nicht ertragen können.« Er trat
noch einen Schritt näher. »Sie würde nicht einmal meine Nähe
ertragen können.«
»Wenn sie ein Schatten ist, stirbt sie sofort«, gab
der andere zu bedenken.
»Und?«, fragte Mattim leichthin. »Dann kann sie
wenigstens niemanden mehr beißen.«
»In dem Fall können wir sie aber auch nicht mehr
befragen.«
»Als ob wir aus einem Schatten jemals etwas
herausbekommen hätten.«
Die Fremde sah von einem zum anderen, danach nickte
sie und wankte das Ufer hinunter.
»Sie wird noch hineinfallen«, sagte jemand,
»sollten wir nicht …«, aber der Sprecher der Wächter gebot ihm zu
schweigen und winkte ein paar Laternenträger näher heran. Sie
beobachteten, wie die Frau sich durch Gras und Schilf kämpfte.
Schließlich fiel sie nach vorne, und es platschte laut. Mattim
achtete nicht auf das, was der Anführer sagte, sondern eilte ihr
hinterher und half ihr dabei, sich aufzurichten. Ihre Schuhe
steckten im schlammigen Wasser, ihr Kleid war völlig durchnässt.
Tränen liefen ihr über die Wangen.
»Es tut mir leid«, begann Mattim, während er ihr
wieder hoch zur Brücke half. »Aber es muss sein, verstehst du?
Komm. Du wirst die Soldaten für dein Dorf erhalten, das verspreche
ich dir.«
»Das war nicht korrekt«, knurrte der Brückenwächter
und betrachtete die tropfende Kleidung der Fremden voller Abscheu.
»Wir müssten eigentlich …«
»Sie ist kein Schatten«, sagte Mattim. »Beim Licht,
was habt ihr nur mit euren dämlichen Untersuchungen! Die Patrouille
wird auch nicht untersucht, wenn sie aus dem Wald
zurückkehrt.«
»Wenn der ganze Trupp zurückkommt, werden wohl auch
nicht alle Schatten sein«, bemerkte der Wächter würdevoll. »Aber
jeder, der sich von den anderen trennt, ist verdächtig. Wir sind
angehalten, alle Verdächtigen zu untersuchen.«
»Wenn ich der König der Schatten wäre, würde ich
dafür sorgen, dass sie alle gebissen wurden, und zwar der ganze
Trupp, ausnahmslos«, sagte Mattim wütend. »Denn dann
würdet ihr sie einfach so durchlassen. Es kommt darauf an, die
Schatten aus Akink herauszuhalten, kapierst du das nicht? Egal,
wie. Der Fluss beschützt uns, nicht irgendwelche Untersuchungen.
Und jetzt bringe ich diese Frau zu meinem Vater.«
»Du nicht«, sagte König Farank. »Das ist ein völlig
unnötiges Risiko. Du kannst nicht wirklich annehmen, dass ich dich
für diese Sache einteile, Mattim.«
Mattim starrte seinen Vater herausfordernd an. Er
war zu allem bereit, nur um dem lästigen Brückendienst zu entgehen.
Lieber kämpfte er gegen ein ganzes Rudel Wölfe.
»Der Prinz kann sich nicht in der Stadt verstecken,
während die anderen kämpfen«, sagte er. »Wer würde mich dann
überhaupt noch ernst nehmen?«
Farank schüttelte sorgenvoll den Kopf. Ihm war
anzumerken, wie schwer es ihm fiel, seinem Sohn zuzustimmen. »Es
geht um deine Sicherheit.«
»Nein«, widersprach Mattim. »Es geht um Magyria.
Sie vertrauen auf uns. Diese Frau ist eine ganze Nacht lang
geritten, um Hilfe zu holen. Wir haben keine Zeit für lange Reden,
wir müssen sofort los. Wahrscheinlich werden wir sowieso zu spät
kommen, das wissen wir alle! Das Licht ist da, um für die
Unschuldigen zu kämpfen, Vater. Wenn wir das nicht tun, was sind
wir dann noch?«
Farank zögerte nach wie vor.
»Ich weiß, dass sie mich dabeihaben wollen. Sie
brauchen mich. Ich bedauere, dass du nicht viel Auswahl hast, wen
du außer mir schicken könntest.«
Das war gemein, aber er konnte nicht anders. Der
Jäger ist unterwegs, hatte die Frau gesagt. Es heißt, er hat
die Jagd wieder eröffnet. Seine Meute verfolgt alles, was
menschlich ist. Sie haben unser Dorf von allen Seiten umkreist, und
wir hörten das Wolfsgeheul die ganze Nacht, unerträglich, bis wir
uns die Ohren zugehalten haben. Zu dritt sind wir losgeritten,
ich bin die Einzige, die durchgekommen ist. Ihr müsst uns helfen.
Meine Kinder sind im Dorf, meine Familie.
Der Jäger ist unterwegs. Mattim fühlte einen
Schauer seinen geschundenen Rücken hinunterlaufen. Er ist auf
der Jagd …
»Wir werden die Schatten ausrotten«, sagte
er.
»Schwerter können ihnen nichts anhaben. Willst du
sie etwa fesseln, herbringen und in den Fluss werfen?« Der König
verzog das Gesicht. »Gegen die Schatten kannst du nicht viel tun.
Ihr müsst sie verbrennen. Oder ihr schließt sie ein, damit sie
nicht in der Nacht zwischen den Bäumen verschwinden können und vom
Tageslicht überrascht werden.«
Mattim unterdrückte seinen Jubel darüber, dass sein
Vater mittlerweile so redete, als würde er tatsächlich dabei sein.
»Angeblich gibt es jetzt auch Schatten, die am helllichten Tag in
Erscheinung treten.«
»Das ist unmöglich. Die Schatten können nicht im
Licht leben. Es wäre ein Widerspruch in sich.« König Farank suchte
den Blick seines Sohnes und hielt ihn fest. »Mattim, versprich mir,
dass du vorsichtig sein wirst. Versprich mir, dass du
zurückkommst.«
Da war es wieder, das Band zwischen ihnen, wie ein
Lichtstrahl zwischen zwei Spiegeln. Ich bleibe hier bei dir, wollte
er sagen. Aber der Wald rief. Ihm blieb nur, zu nicken, zum
Zeichen, dass er verstanden hatte, wie viel es seinen Vater
kostete, ihn gehen zu lassen.
Sie hatten beide keine Wahl. Natürlich musste der
Lichtprinz bei einer solchen Mission dabei sein, er war der beste
Schutz für die Soldaten, die sich in den Wald wagten, vielleicht
sogar der einzige.
»Wir sind dann bald zurück«, sagte Mattim,
leichthin, als gäbe es keinen Grund, ein solches Versprechen zu
geben, und als gäbe es nichts, was ihn daran hindern könnte, es
einzulösen.
Sie hatten keine Wölfe gehört. Alles war so ruhig,
dass es kalt nach ihren Herzen griff, und mit einem bangen Gefühl
waren sie geritten, so schnell sie konnten. Der König hatte einen
Trupp zusammengestellt, der aus Mitgliedern von Tag- und
Nachtpatrouille bestand; Morrit führte sie an. Sie wollten gerade
los, als Mirita zu ihnen stieß, völlig außer Atem. Sie hatte es
nicht einmal geschafft, ihr Haar wie sonst in einem Zopf zu
bändigen, und die goldene Pracht lag auf ihrem Kopf wie ein
Schleier.
»Du bist dabei?«, fragte Mattim und konnte ein
Grinsen nicht unterdrücken. »Ich dachte, du bist immer noch krank?
Was macht dein Bein?«
»Ihr braucht die beste Bogenschützin von Akink bei
diesem Einsatz«, gab sie zurück und nickte Morrit zu. »Die Königin
teilt mich euch zu.«
Der Anführer lächelte säuerlich, aber er stellte
keine Fragen. Mirita lenkte ihr Pferd neben Goran, die andere
blonde Wächterin, und bemühte sich sichtlich, nicht allzu
triumphierend zu lächeln.
Anfangs hatte Mattim es genossen. Den Wald um sie
her, das glitzernde Licht zwischen den Zweigen, den süßen Geruch
seines Pferdes, das Hufgetrappel, das Knarren und Quietschen der
Ledersättel, das Klirren der Waffen.
Doch irgendwann begann die Stille zu schmerzen. Sie
warteten auf das Geheul der Wölfe, denn nach dem Bericht der Frau
hatten sie damit gerechnet, dass sämtliche Wölfe aus Magyria sich
um das Dorf versammelt hatten und in der Gegend herumschlichen.
Aber alles blieb unnatürlich ruhig. Unwillkürlich hatten sie die
Pferde angetrieben, ergriffen von schlimmsten Befürchtungen, und
als sie nun am frühen Abend ihr Ziel erreichten, waren sie auf das
Schlimmste gefasst.
Das Dorf lag da wie ausgestorben.
Die Straßen zwischen den kleinen Häusern waren
leer. Keine Hunde, keine Hühner, keine Kinder. Sie ritten hindurch
und sahen sich um. Haustüren und Fenster standen weit auf, keine
Menschenseele war mehr da.
»Wir sind zu spät gekommen«, murmelte Morrit
gepresst.
Mattim, der neben ihm ritt, nahm aus den
Augenwinkeln eine Bewegung wahr und riss sein Pferd herum.
Doch es waren nur drei, vier kleine Hunde, die auf
der Schwelle eines Hauses miteinander balgten.
»Wenn die Hunde noch da sind …«, wollte er sagen,
um irgendetwas Gutes zu finden, was Hoffnung in ihnen weckte.
Vielleicht, hatte er hinzufügen wollen, sind in diesen vielen
Häusern noch Menschen, die sich verstecken, die wir suchen
müssen.
Morrit unterbrach ihn. »Das sind keine Hunde,
sondern Wolfsjunge. Sie haben sogar die Kinder verwandelt. Töte
sie.«
»Ich?«, fragte Mattim erschrocken.
Morrit nickte ihm zu. »Wenn du je wieder zu mir in
die Nachtpatrouille willst, töte sie vor unser aller Augen. Ich
brauche etwas, was ich dem König über dich berichten kann.«
Die kleinen Wölfe jagten einander über den
Dorfplatz, selbstvergessen und gefangen in ihrem Spiel, ohne die
Reiter überhaupt zu beachten.
Mattim stieg vom Pferd. Er näherte sich den Welpen
vorsichtig. Drei sprangen davon, eins blieb liegen, auf dem Rücken,
und blickte ihn erwartungsvoll an.
»Fass sie bloß nicht an!«, schrie Morrit, als
Mattim die Hand ausstreckte, um das Tier zu kraulen. »Verdammt,
fass sie nicht an!«
Der Königssohn fuhr zurück. Der Welpe sprang auf
und tollte seinen Freunden oder Geschwistern hinterher.
»Töte sie endlich!«, rief der Anführer. »Nun mach
schon!«
Es waren Kinder. Nein, es waren Kinder gewesen. Von
Schatten gebissen, zu Wölfen gemacht. Konnte wiederum ein Biss
dieser so harmlos wirkenden Kreaturen ihn zum Schatten machen? Er
war sich nicht sicher, ob es nicht andere Wölfe sein mussten, groß
und klug wie die silbergraue Wölfin, auch wenn die anderen Wächter
davon ausgingen, dass die Tiere alle gleich gefährlich waren. Aber
in jenem Wolf, den er getötet hatte, hatte er etwas anderes
gespürt, eine ungeahnte Stärke, etwas Schattenhaftes. Diese Welpen
dagegen sprangen so lustig vor ihm her, dass er unmöglich glauben
konnte, sie wären eine Bedrohung. Doch er wusste genau, was Morrit
sagen würde: Der Kreislauf der Dunkelheit … du musst ihn beenden,
an dieser Stelle, mitleidslos. Kinder? Das sind keine Kinder. Das
sind Geschöpfe der Nacht.
Und dennoch, Mattim konnte es einfach nicht tun.
Seine Hand lag am Schwert, ohne es zu ziehen. Er ging ihnen nach,
während sie zwischen den Häusern tollten, und hörte nicht mehr, was
Morrit hinter ihm schrie.
Dort war schon der Wald. Die Welpen sprangen ins
Gebüsch. Nein, einer kam wieder zurück, mit diesen großen, runden
Augen, denen man nicht widerstehen konnte. Mattim bückte sich und
berührte das weiche Fell. Eine kleine rosa Zunge leckte ihm über
die Hand.
Wie schnell sich diese Kinder daran gewöhnt hatten,
was sie waren! Wie konnten sie nur wissen, wie man sich als Tier
benahm? Und wieso wussten sie nicht, dass sie ihn beißen mussten,
dass sie nun für die Seite der Finsternis arbeiteten? Ahnten sie
denn nicht, dass sie böse waren?
Mattim hob den Blick und sah zwischen den Bäumen
einen Mann stehen, groß und schlank und dunkel. Sein Gesicht konnte
Mattim nicht erkennen, aber er hörte die Stimme des Fremden klar
und deutlich, eine leise, verlockende Stimme.
»Komm her. Komm zu mir.«
Bewegungslos verharrte Mattim und merkte nicht
einmal, dass er immer noch den kleinen Wolf streichelte.
»Ich warte auf dich«, sagte der Schatten.
Der junge Prinz schrak zusammen, als er eine Hand
auf seiner Schulter spürte.
»Steh auf«, befahl Morrit. »Und komm zurück.«
Mattim gehorchte. Der Welpe sprang um seine Füße,
dann spitzte er auf einmal die Ohren und sauste ins Gebüsch.
»Es tut mir leid«, sagte der Königssohn. »Er hat
mich nicht gebissen, er war lieb, ich habe nicht einmal …«
»Still«, zischte Morrit. »Komm zurück, langsam.
Beim Licht, du weißt nicht, wie viele Wölfe da noch im Wald lauern.
Was würdest du tun, wenn sie auf einmal alle herausspringen? Jetzt
komm.«
Mattim fühlte sich beschämt, weil er ohne
nachzudenken den Welpen gefolgt war, ohne irgendeinen Gedanken an
die Gefahr zu verschwenden. Zum Glück sagten die anderen nichts. Er
bemerkte lediglich die Erleichterung in ihren Gesichtern.
»Zeig mir deinen Hals. Nur damit alles korrekt
ist.«
»Das wird langsam zur Gewohnheit, wie?«, fragte
Mattim, während er zuließ, dass Morrit ihm das Haar zur Seite
schob. »Außerdem hätten die Kleinen mich wohl eher in die Hand
gebissen, oder?« Er wedelte mit seinen unverletzten Händen vor
ihren Augen herum. »Vielleicht noch ins Bein. An den Hals wären sie
gar nicht gekommen. Davon abgesehen ist es noch hell. Ich hätte
mich schon in Luft aufgelöst, nicht?«
Morrit verzog das Gesicht. »Darüber macht man keine
Scherze.« Er wandte sich an die anderen. »Tun wir, wofür wir
hergekommen sind. Vergewissert euch, dass in den Häusern niemand
mehr ist. Vielleicht finden wir noch Überlebende. Ihr beide sorgt
für die Pferde. Da hinten ist der Brunnen. Ihr da sichert das Dorf
gegen den Wald ab. Ich will keinen einzigen Wolf hier
herumschleichen sehen.«
Die Soldaten schwärmten aus. Morrit hielt Mattim an
der Schulter fest. »Du bleibst bei mir, junger Mann.«
»Ich bin nicht zum Herumstehen hier«, protestierte
der Prinz. Er war noch nicht dazu gekommen, von dem Schatten zu
berichten, den er getroffen hatte, aber nun entschied er, dass es
wohl besser war, ihn gar nicht zu erwähnen. Wenn Morrit gewusst
hätte, dass die Schatten ihn riefen, den Thronfolger persönlich,
würde er ihn womöglich an Händen und Füßen gefesselt
wegsperren.
»Wir beide suchen uns ein Haus, in dem wir die
Nacht verbringen können. Zieh nicht so ein Gesicht. Das ist eine
wichtige Aufgabe. Auch wenn wir für die Leute hier nichts mehr tun
können, müssen wir dafür sorgen, dass wir vollzählig
zurückkehren.«
»Warum reiten wir nicht gleich zurück?«
Morrit schüttelte den Kopf. »Das willst du unseren
Pferden allen Ernstes zumuten?«
Er brauchte es nur zu sagen. Da war ein Schatten,
der mich rief … Mattim war sich sicher, dass Morrit in dem Fall
sofort alle Rücksichtnahme aufgegeben hätte und Hals über Kopf
zurück nach Hause geprescht wäre. So als könnte der Prinz, von
einem bösen Zauber gelockt, auf Nimmerwiedersehen im Wald
verschwinden. Dabei hatte die Stimme gar nichts Zauberhaftes an
sich gehabt. Sie war ihm sehr menschlich vorgekommen, eine
angenehme Männerstimme, die nicht mehr Macht über ihn hatte als
jeder andere seiner Vorgesetzten. Vielleicht, dachte Mattim mit
einem kleinen Lächeln, schäumte der Schatten gerade vor Wut, weil
er es nicht geschafft hatte, ihn zu sich zu befehlen.
»Du lächelst so«, stellte Morrit fest. »Das ist das
Richtige, wie? Sehe ich genauso.«
Sie standen vor einem Haus, etwas größer als die
anderen. Vielleicht hatte es dem Dorfvorsteher gehört; ein
schmuckes Gebäude aus hellen Ziegeln, die Fensterbänke mit Blumen
geschmückt.
»Für uns dreißig wird es da drin zu eng«, fand
Mattim, während sie die verlassene Stube inspizierten.
»Dabei ist das hier schon das größte Haus. Ich
verteile uns ungern auf mehrere Häuser. Dieses hat außerdem einen
großen Stall.« Morrit blickte noch einmal die Straße hinunter. »Es
war ein Fehler, überhaupt herzukommen.«
Mattim war anderer Meinung. »Wir sind verpflichtet
zu helfen, wenn uns jemand darum bittet«, sagte er. »Niemand konnte
wissen, dass es um das Dorf so schlimm steht.« Leiser fügte er
hinzu: »Das ist Magyria. Wir können es nicht aufgeben.«
Morrit schnaubte nur. Unruhig wartete er an der Tür
auf die anderen Wächter und atmete erst auf, als sie vollzählig
waren. »Irgendwelche Überlebenden? Nein? Nun, das wundert mich
nicht.« Er warf dem Prinzen einen wütenden Blick zu, als wäre
Mattim daran schuld, dass sie überhaupt hergekommen waren.
»Im Wald«, sagte Mirita leise. »Ich hatte das
Gefühl, sie sind noch da.«
»Die kleinen Wölfe?«
»Keine Ahnung. Irgendetwas hat uns
beobachtet.«
»Wir müssen damit rechnen, dass sie uns angreifen,
sobald es dunkel wird. Bringt die Pferde nach nebenan. Wir können
auf kein einziges verzichten.« Er musste es nicht aussprechen: Ohne
Pferde kommen wir hier nie wieder weg.
Wieder lag Mattim der Vorschlag auf der Zunge,
jetzt schon aufzubrechen, auch wenn das hieß, dass sie die Nacht im
finsteren Wald verbringen mussten. Aber Morrit hatte das Kommando,
und er wusste so gut wie der Prinz, dass in der Dunkelheit nicht
nur die Wölfe kommen würden.
Sie aßen an einem großen, schweren Holztisch, an
dem sie nicht alle sitzend Platz fanden, und doch war es ein Fest
der Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit. Einige schwiegen, ein
paar versuchten die düstere Stimmung
durch lockere Scherze aufzuheitern. Die meisten unterhielten sich
leise über belanglose Dinge, als wäre es selbstverständlich, dass
sie bald zurück in Akink sein würden, wo es wieder wichtig war, wer
zu wessen Hochzeit eingeladen war und wen welcher Händler übers Ohr
gehauen hatte.
»Still!«, befahl Morrit plötzlich.
Sie horchten. Nichts hatte sich verändert, trotzdem
hatte die Stille draußen auf einmal einen anderen Klang, und selbst
das Knarzen der geflochtenen Stühle drinnen schien anders als eben
noch.
»Stellt den Tisch vor die Fenster.« Morrit gab
seine Anweisungen mit ruhiger, gefasster Stimme, als wäre alles wie
immer. »Und schiebt den Schrank dort vor die Tür. Wir müssen
…«
Der Klang von Pferdehufen drang durch die Stille
wie Donner.
»Macht die Tür wieder auf!«, rief jemand. »Das
könnten Überlebende sein.«
»Niemand öffnet die Tür«, bellte Morrit, als eine
der Wächterinnen bereits die Hand an den Riegel legte. »Mattim, du
gehst ins Obergeschoss. Du und du, ihr begleitet ihn. Seht nach, ob
ihr durch die oberen Fenster etwas erkennen könnt.«
Sie stürmten die steile Stiege nach oben. Die
Fenster waren blind von Staub und Schmutz. Mattim riss so heftig am
Riegel, dass er abbrach, und durch das aufschwingende Fenster
starrte er hinaus auf die staubige Straße. Es war kein Pferd zu
sehen. »Hier ist nichts«, rief er.
»Ich habe etwas gesehen«, flüsterte Goran hinter
ihm. »Irgendetwas ist dort hinten verschwunden, zwischen den beiden
Häusern dort.«
»Ein Wolf? Ein Reiter?«, fragte der andere
Wächter.
»Wenn es ein Reiter ist, müssen wir ihm sagen, wer
wir sind«, fand Mattim. »Er ist verloren, alleine da
draußen.«
»Und wenn es ein Schatten ist?«
Die Sonne war gerade dabei unterzugehen und noch
glühten ihre Strahlen auf den Dächern. Fast hätte er eingewandt,
dass es aus diesem Grund kein Schatten sein konnte, aber da er sich
nicht mehr sicher war, ob die Schatten es nicht doch vermochten,
das Licht zu ertragen, hielt er es für besser, zu schweigen.
»Da! Ein Pferd!« Diesmal hatten sie gesehen, woher
es gekommen war - aus dem Stall, aus ihrem Stall! »Es ist eins von
unseren!« Sie riefen es nach unten: »Es sind unsere Pferde! Jemand
lässt sie heraus!«
Wieder galoppierte ein Pferd durchs Dorf. Mattim
verrenkte sich fast den Hals bei dem Versuch zu erkennen, ob ein
Wolf es jagte, konnte allerdings von hier nichts erkennen, da das
Dach des Stallgebäudes direkt unter ihnen die Sicht
versperrte.
»Du bleibst oben, Mattim!«, befahl Morrit, während
er und ein paar andere Soldaten ins Nebengebäude stürzten.
Dem Prinzen blieb nichts anderes übrig, als am
Fenster zu verharren und zu beobachten, wie noch zwei weitere
Pferde entkamen. Schließlich kehrte Morrit fluchend zurück. »Fünf.
Fünf weg! Welcher Idiot hat die Tür aufgelassen?«
Die Wächter sahen sich an.
»Ich hatte sie verriegelt«, sagte einer
schließlich.
»Sicher?«
»Ganz sicher.«
Morrit schüttelte den Kopf. »Dann müssen wir Wachen
abstellen. Das darf nicht noch einmal passieren.«
»Irgendetwas hat sie vermutlich erschreckt«, meinte
Mattim, während er nach unten kletterte. »Meinst du, es waren die
Wölfe? Ihr Geruch?«
»Wer hat dir erlaubt, herunterzukommen?«, fragte
Morrit böse. »Geh, bitte«, sagte er etwas leiser. »Wenn sie in den
Stall konnten, hätten sie nur durch die Verbindungstür gehen
müssen, um ins Haus zu gelangen.«
»Wölfe öffnen keine Türen«, gab Mattim zurück. »Und
wenn es Schatten waren, bin ich euer bester Schutz. Schick mich
nicht weg. Sie werden sich nicht in meine Nähe trauen.«
»Für Schatten ist es noch zu früh«, knurrte Morrit,
aber diesmal schickte er den Prinzen nicht fort.
»Wir müssen schlafen«, verkündete er. »Wir brauchen
unsere Kraft, wenn sie angreifen.« Er teilte die Wächter in zwei
Schichten ein. Diejenigen, die schlafen durften, richteten sich im
Obergeschoss ein Lager her, die anderen wachten an Fenstern und
Türen: fünf oben, fünf im Erdgeschoss, fünf im Stall.
Mattim gehörte zu jenen, die zuerst ruhen sollten.
Er rechnete nicht damit, dass er auch nur ein Auge zutun würde auf
dem harten Bretterboden, nur in eine Decke gehüllt, während an
jedem Fenster eine Wache stand.
»Du hast doch nichts dagegen?« Mirita schlüpfte in
die Lücke zwischen ihm und dem nächsten Wächter und wickelte sich
munter in ihre Decke.
»Ich dachte, du hast die erste Wache?«, flüsterte
er.
»Ich konnte Morrit überreden, mich für die nächste
Schicht einzuteilen. Ich bin einfach zu müde«, erklärte sie.
»Dann schlaf gut.«
»Ja. Du auch.«
Mirita schloss die Augen. Die kleine Lampe, die sie
an einen Balken gehängt hatten, warf einen gelblichen Schein auf
ihr Gesicht. Mattim versuchte die Augen offen zu halten, aber die
Müdigkeit überwältigte ihn wie ein übermächtiger Feind. Sie zog ihn
hinab in den Traum, in dem die Wölfe auf ihn warteten, in einen
Traum, in dem die Kratzer auf seinem Rücken aufbrannten, so heftig,
bis er sich umdrehte und lange Haare aus den Furchen wachsen sah.
Seine Hände, mit denen er die kleinen Wölfe gestreichelt hatte,
glühten heiß, als hätte er sie in Flammen getaucht, und
elfenbeinfarbene Krallen ragten aus seinen Fingern, aus seiner
Hand, die sich zur Pfote krümmte. In seinem Traum wehrte er sich
nicht gegen die Verwandlung, denn sie schien ihm richtig und
angemessen, die logische Folge dessen, was er je getan, gesagt und
geträumt hatte. Er warf sich nach vorne, in einen gewaltigen
Sprung, über die anderen Wölfe hinweg und erblickte über sich den
Mond.
Komm, Bruder.
Er schrak hoch, seine Hände strichen über den rauen
Holzfußboden, Splitter bohrten sich in seine Haut. Er hatte die
Stimme so deutlich gehört, als hätte jemand direkt in sein Ohr
gesprochen.
»Komm, Bruder.«
Er riss sich aus dem Traum und richtete sich auf.
Einen Moment brauchte er, um sich zu orientieren. Die Lampe kam
kaum gegen die Nacht hier oben an. Sie flackerte im Windzug. Die
Fenster waren offen, und es standen keine Wachen mehr davor. Es
schien Mattim, als ob sie jetzt weniger Schläfer waren als vorher,
und da, hinter dem Holzbalken, der das Dach hielt, bemerkte er eine
Gestalt, die sich über jemanden am Boden beugte. Er wollte
schreien, fühlte sich jedoch wie gelähmt und brachte nur ein
stimmloses Ächzen heraus.
Der Eindringling hob den Kopf, und in diesem Moment
sprang ein Wolf auf, just an der Stelle, an der eben noch ein
bärtiger Flusswächter von der Tagpatrouille gelegen hatte. Nach wie
vor konnte Mattim nicht schreien. Er wartete darauf, dass der Wolf
ihn angriff, dass das Grauen nun mit seiner ganzen Macht über ihn
kam, aber der neue Wolf stand nur da und wirkte ebenso verwirrt wie
er selbst. Dann war er mit einem Satz am Fenster, und elegant wie
die Tiere aus Mattims Traum hechtete er hindurch. Der junge Prinz
hörte ihn auf dem Stalldach landen. Jetzt endlich wich die bleierne
Lähmung von ihm. Er schoss hoch, um sich seinem Gegner zu stellen,
doch der Schatten war verschwunden.
»Morrit!« Seine Stimme klang wie der verzweifelte
Hilferuf eines Kindes, nicht wie der Weckruf eines Wächters.
Neben ihm wurde die Bogenschützin lebendig. »Was
ist passiert? Was? Mattim, was ist passiert?« Miritas verzweifelter
Antwortschrei weckte die anderen in wenigen Augenblicken. Wenig
später waren sie alle wieder in der Wohnstube versammelt und
lauschten dem Bericht des Prinzen.
»Wir haben hier unten nichts gehört«, rief Morrit.
»Alles schien ruhig.« Plötzlich rannte er los und riss die Tür zum
Stallgebäude auf. »Ist alles … Nein! Nein!«
Schreckensbleich wandte er sich zu ihnen um. »Sie
sind weg, alle fünf Hüter. Die Pferde sind noch da … glaube ich.
Bleibt hier. Alle. In einem Raum. Keiner schläft.«
Mit schweißnassen Händen umklammerte er sein
Schwert. »Kämpfen will ich«, murmelte er, »kämpfen gegen diese
Bestien … nicht warten, bis sie mich holen.« Er hob den Kopf und
blickte Mattim an. »Du bist unversehrt? Und die anderen? Wir haben
euch nicht untersucht!«
»Er ist ein Wolf geworden«, erklärte Mattim. »Kein
Schatten. Sie sind alle Wölfe geworden und durchs Fenster geflohen.
Lass gut sein, Morrit.«
Goran, die muntere, tapfere Wächterin aus der
Nachtpatrouille, wischte sich das Haar aus der Stirn.
»Was werden wir sein?«, fragte sie leise. »Wölfe?
Schatten? Weißt du es, Morrit? Als was werden wir enden?«
»Keiner hat mich gebissen«, sagte Mattim, »sie sind
auf und davon. Warum?« In seinem Traum war er selbst geflohen. Er
fühlte die Kraft und Leichtigkeit seiner Gelenke, seiner Muskeln,
die Kraft, vom Boden hochzuschnellen und dann in einen Lauf
überzugehen, hinter den anderen, schnell, schnell wie der Wind …
»Er hätte mich erwischen können«, flüsterte er. »Wenn er mir die
Zähne in den Hals geschlagen hätte …«
»Die Schatten trauen sich nicht heran an das
Licht«, sagte Mirita, als könnte das seine Frage beantworten.
»Er war mir so nah - nur ein paar Schritte durchs
Zimmer!«
»Das klingt ja fast, als würdest du es bedauern«,
sagte Morrit. »Und jetzt still. Horcht. Sie sind lautlos wie die
Schatten, die das Sonnenlicht wirft. Diesmal müssen wir gewappnet
sein.«
»Meinst du, sie kommen von oben?«, fragte einer,
fast wispernd, furchtsam. »Durch die oberen Fenster? Sollten wir
besser die Dachluke schließen?«
»Wir haben nichts, um sie zu verschließen. Richtet
eure Waffen auf die Stiege. Wir sind bereit, wenn sie
angreifen.«
Niemand sprach aus, was alle wussten: dass weder
Schwerter noch Pfeile einen Schatten aufhalten konnten.