EINUNDDREISSIG
BUDAPEST, UNGARN
Als sie mit Mattim durch die Hecke schlüpfte und
auf der Straße anlangte, sah Hanna Réka vor dem Tor stehen. Das
Mädchen machte keinerlei Anstalten zu klingeln oder aufzuschließen.
Sie stand nur da, wie eine Fremde, die sich fragte, ob es hinter
den erleuchteten Fenstern des Hauses vielleicht Liebe und Wärme
gab.
»Réka?«
Wie viel hatte Kunun ihr genommen? Blass wie ein
Gespenst sah sie aus, und doch lag ein Lächeln auf ihrem Gesicht,
als hätte sie einen wunderschönen Traum gehabt.
»Du hast die Tüte vergessen«, bemerkte Hanna, um
irgendetwas zu sagen, etwas Alltägliches, um nicht laut zu
schreien. »Ich habe sie mitgenommen, nur damit du es weißt.«
»Was für eine Tüte?«
Réka wusste nicht mehr, dass sie einkaufen gewesen
waren. Nicht einmal das. Sie wirkte auch nicht, als wüsste sie, wie
sie hierhergekommen war.
»Wir müssen los«, sagte Mattim leise.
Hanna drückte für Réka auf die Klingel. »Geh nach
Hause«, sagte sie nur. »Deine Mutter ist schon da. Ich bleibe nicht
lange weg, sie soll sich keine Sorgen machen.«
»Ja«, sagte Réka.
Mattim zog Hanna weiter. Die beiden sprachen nicht
darüber, dass es wehtat. Auch nicht darüber, dass sie nicht mehr
wussten, wie Kunun aufgehalten werden konnte. Die gesamte Fahrt
über sagte keiner von ihnen ein Wort. In der
Metró lehnte Hanna den Kopf an seine Schulter. Am Baross tér
küsste er sie auf der Treppe nach oben. Er blieb einfach stehen,
mitten im Gedränge der nach oben strebenden Menschen, und hielt sie
noch einmal fest. Dann standen sie vor dem grauen Haus, über dessen
Eingang der Löwe wachte.
Mattim klopfte.
Goran öffnete ihnen. Sie warf Hanna einen
interessierten Blick zu und nickte. »Du hast dein Mädchen
mitgebracht.«
»Kunun wollte es so«, erklärte Mattim.
»Dann kommt.« Die junge Schattenfrau hielt die Tür
auf, und sie konnten durch den Flur hindurch in den erleuchteten
Hof blicken. »Dort entlang, Prinz Mattim.«
Im Hof warfen die Lampen von allen Seiten ihr Licht
auf den steinernen Brunnen und die sitzenden Löwen. Über ihnen, an
den umlaufenden Balkongittern, standen die Vampire, abwartend
darübergebeugt. Hanna hätte nie gedacht, dass es so viele waren.
Auf allen Stockwerken standen sie, ohne eine einzige Lücke frei zu
lassen. Stumm blickten sie in den Hof hinunter. In der ersten
Etage, direkt vor ihm, hatte Kunun Platz genommen, wie ein König in
einer Loge. Mattim blieb stehen und sah zu ihm hoch. Er hielt
Hannas Hand so fest, dass es wehtat, blieb äußerlich jedoch ganz
ruhig.
»Ich bin gekommen«, sagte er. »Wie es aussieht, bin
ich nicht der Einzige, den du heute eingeladen hast.«
Hanna hatte nichts gehört. Als Mattim plötzlich zur
Seite sprang und sie mitriss, war sie so überrascht, dass sie kurz
aufschrie, dann erst erblickte auch sie die rothaarige Gestalt vor
sich. Atschorek, ein langes Schwert in der Hand, ihr Gesicht schön
und hell wie aus Stein gemeißelt, die Augen funkelnd, unsterblich
schöne Todesbringerin.
»Lauf!«, schrie Mattim und versetzte seiner
Freundin einen Stoß, zum Brunnen hin. Schnell brachte Hanna das
große Becken zwischen sich und die Angreiferin, doch dann
sah sie, dass Mattim einfach stehen geblieben war, direkt vor
Atschorek. Er bot ihr die Stirn.
»Mattim!«, rief Hanna. »Mattim!«
Der Prinz rührte sich nicht von der Stelle. »Wo ist
meine Waffe, Kunun?«, fragte er, ohne den Blick nach oben zum
Balkon zu wenden.
Sie hörten das leise Lachen des Vampirs.
Atschorek machte einen Schritt auf Mattim zu. Er
ließ sich ohne zu zögern nach hinten fallen, rollte zur Seite und
sprang einige Meter weiter wieder auf neben einem der steinernen
Löwen. Hanna beobachtete, wie er mit beiden Händen das
mähnenumwallte Haupt der Steinfigur packte, aber der Löwe war zu
schwer, um ihn hochzuheben.
Ohne ein Wort kam Atschorek wieder auf ihn
zu.
Hannas Hände krallten sich in den Marmorrand des
Beckens. Sie blickte sich nach einer Waffe um, nach irgendetwas,
womit sie Mattim helfen konnte. Wie sollte er mit bloßen Händen
gegen Atschoreks Schwert bestehen? Doch der Hof enthielt nichts,
was man zweckentfremden konnte. Keine Spaten oder … Da hinten an
der Wand, nahe dem Eingang, lehnte ein Besen. Hatte Kunun den Platz
vorher etwa noch ausfegen lassen, um seinen Schatten ein würdiges
Schauspiel zu liefern? Um an den Besen zu kommen, musste sie ihre
Deckung aufgeben. Atschorek versuchte ihren Bruder in eine Ecke zu
drängen und schien nicht auf Hanna zu achten. Sie sah schnell zu
den Zuschauern hoch, die immer noch stumm dem ungleichen Kampf
beiwohnten. Wahrscheinlich würden sie Atschorek warnen, aber wenn
sie schnell genug war … Hanna lief los. Die wenigen Meter bis zum
breiten Flur kamen ihr vor wie ein Gewaltmarsch. Kein Vampir wachte
in der Eingangshalle. Sie konnte aus dem Haus laufen, und niemand
würde sie aufhalten. Sofern die Tür draußen nicht abgeschlossen war
… Der Gedanke an Flucht streifte sie nur kurz, dann umklammerte sie
mit einer Hand schon den Besenstiel. Damit stürmte Hanna
auf Atschorek los, ohne darüber nachzudenken, wie wenig sie mit
dieser lächerlichen Waffe ausrichten konnte. Als sie ausholte,
drehte die Vampirin sich um und fing den Hieb mit dem Schwert
auf.
Der Besen zersplitterte und wurde ihr aus der Hand
geschlagen, und im selben Moment sprang Mattim Atschorek in den
Rücken und verhinderte den zweiten Schlag. Die beiden Geschwister
taumelten zur Seite.
»Lauf, Hanna!«
Dort lockte der Ausgang, unbewacht … Hanna hastete
wieder zurück, hinter den Brunnen. Und da, im Eis, das jemand in
viele kleine Stücke gebrochen hatte, sah sie etwas Dunkles liegen …
ein Schwert. Ein zweites Schwert! Sie tauchte die Hand durch die
scharfkantigen Eisbrocken und holte es heraus. Es war schwerer als
erwartet. Merkwürdigerweise konnte sie sich nicht freuen. Hier lag
es. Die Schatten warteten nur darauf, dass sie es fanden, dass
Mattim es benutzte. Sie wollten einen Kampf sehen, ein Duell … Ihr
Mut sank.
Sie wollen seinen Tod. Sie werden ihn nicht
gehen lassen. Atschorek wird ihn töten. Jetzt. Vor meinen Augen.
Ich bin hier, um es mit anzusehen.
Hanna konnte nichts empfinden, nicht einmal Angst.
Das Einzige, was sie fühlte, war das Schweigen der Schatten über
ihnen, ein Schweigen voll gespannter Erwartung. Eine Dunkelheit,
die von allen Seiten auf sie zukroch, und so wenig, wie jemand die
Nacht aufhalten konnte, vermochte sie diese Dunkelheit zu
stoppen.
Kunun hatte Mattims Tod beschlossen.
Oder etwa nicht? Konnte ein Schatten überhaupt mit
einem Schwert getötet werden?
»Mattim, hier! Für dich!«
Atschorek, immer noch ohne Worte und ohne Lachen -
nicht einmal Hohn hatte sie für ihn übrig -, versuchte ihren Bruder
daran zu hindern, zum Brunnen und damit zu
seiner eigenen Waffe zu gelangen. Sie trieb ihn zur Mauer, wo
drohend ihr übergroßer Schatten auf ihn fiel - und auf einmal war
Mattim verschwunden. Ein leises Raunen ging durch die Reihen der
Vampire.
Wieder lachte Kunun leise.
»Gib her.« Mattim tauchte aus der Mauer hinter
Hanna auf, und sie reichte ihm mit zitternden Händen das
Schwert.
Die beiden hatten keine Zeit für einen
Abschiedskuss, für ein paar Worte zur Ermutigung. Sobald Mattim das
Schwert in den Händen hielt, griff Atschorek richtig an. Jetzt erst
merkte man, dass sie bislang nur mit ihm gespielt hatte. Mit einer
erschreckenden Schnelligkeit ging sie auf ihren Bruder los, der
kaum dazu kam, die heftigen Hiebe zu parieren. Schlag für Schlag
trieb sie ihn vor sich her, um den Brunnen herum und durch den Hof.
Hanna schrie auf, als Atschorek Mattim am Oberarm traf. Er wankte,
und ein paar Vampire flüsterten, als ginge der Wind durch die
dürren Blätter eines Herbstwaldes, durch die Wipfel hoch über
ihnen. Mattim biss sich auf die Lippen, ließ das Schwert jedoch
nicht fallen. Ein grimmiges Lächeln erschien auf Atschoreks
Gesicht.
Mattim kämpfte weiter. Er krallte die Hände um das
Schwert, auf dem das Licht der Lampen zu flackern schien, und
setzte sich weiterhin zur Wehr. Seine Bewegungen wurden schneller,
forscher; Hanna atmete auf, als sie sah, dass er noch lange nicht
aufgegeben hatte. Diesmal musste die Vampirin zurückweichen.
Mattims Schwert tanzte in seiner Hand, auf und ab wie in einer
sorgfältig einstudierten Choreographie. Man konnte vergessen, wie
ernst die Lage war, dass dies kein Spiel war. Ebenso wie die
Tatsache, dass jede Wunde in seiner Haut, in seinem Fleisch bleiben
würde, für immer … Seltsam, dass dies derselbe Mattim war, der mit
ihr Attilas Kindergeburtstag gefeiert und Luftballons aufgeblasen
hatte. Ein Krieger mit dem Schwert …
Das Tuscheln der Vampire über Hanna wurde lauter.
Sie flüsterten Mattims Namen, ein Raunen, ein Rauschen über ihnen.
»Mattim. Mattim …«
Atschorek duckte sich unter dem Schwert des
Angreifers hindurch und traf ihn am anderen Arm. Auch dieser Ärmel
färbte sich rasch dunkel von seinem Blut.
Mattim lachte auf. »Wie lange soll das noch so
gehen?«, fragte er. »Glaubst du, du könntest mich in Stücke
hacken?«
Er tauchte unter ihrem Angriff hindurch und fiel
durch seinen eigenen Schatten in die Wand hinein. Atschorek drehte
sich langsam um sich selbst, das Schwert vor sich, Wachsamkeit in
ihrem reglosen Gesicht.
Ihr Bruder blieb verschwunden. Die Vampire wurden
allmählich unruhig, lehnten sich über das Balkongeländer und
spähten in den Hof. Hanna fühlte ihr Herz heftig schlagen, als
Atschorek in ihrer Drehung innehielt und sie anschaute. Ihre Blicke
trafen sich.
Ich sehe dich.
Das schienen Atschoreks dunkle Augen zu sagen.
Ich sehe dich. Ich habe dich gefunden. Da bist du.
Als wüsste sie nicht, dass ich hier stehe. Als
hätte sie mich vergessen, solange sie sich auf Mattim
konzentrierte. Nun wird sie kommen … Und ich bin sterblich. Und ich
bin sterblich …
Es war zu unglaublich, um sich davor zu fürchten,
vor dem Tod, der in dieser Gestalt auf einen zukam. Niemals hatte
Hanna sich den Tod so vorgestellt, mit dem Gesicht einer
wunderhübschen Frau. Als eine Prinzessin, ein Schwert in der Hand,
als wäre es eine Verlängerung ihres Arms. Wie in einem Streiflicht
erinnerte sie sich an das, was Mattim ihr einmal erzählt hatte.
Atschoreks Kutsche wurde auf der Brücke angehalten, und sie
kämpfte sich den Weg frei auf die andere Seite. Hanna konnte es
vor sich sehen. Dieselbe Atschorek, dieses Gesicht, das sich
seitdem nicht verändert hatte. Eine Tochter, die heimkehrte, eine
Braut,
eine Prinzessin … und schlug sich den Weg frei, als wäre sie
selbst eine tödliche Stahlspitze, die sich durch atmendes Fleisch
grub.
Hannas Herz schlug wie wild, dennoch blieb sie
stehen. Ihre Beine ließen sich nicht bewegen, mutig sah es aus, und
dabei war sie nur wie gelähmt, eingefroren in ihrem Entsetzen.
Nein, das ist nicht Angst. Es ist gar nichts. Mattim. Wie
ein Zauberspruch, die einzige Waffe, die ihr zur Verfügung stand.
Mattim …
Sie sah die Bewegung aus ihren Augenwinkeln. Er
sprang von oben über das Balkongeländer, direkt auf seine
Schwester, und begrub sie bei ihrem gemeinsamen Sturz unter sich.
Atschorek knurrte wie eine Wölfin, als die beiden über das Pflaster
rollten, und über ihnen frohlockte laut die Stimme der blonden
Frau, die sie hereingelassen hatte: »Mattim, ja! Ja!«
Atschoreks Schwert schepperte über den Boden.
Mattim saß über ihr, Atschoreks Hände legten sich über seine, die
das Schwert hielten. Sie rangen um die verbliebene Waffe, die
Rothaarige ließ nicht los, schließlich warf sie ihren Gegner mit
einem heftigen Stoß von sich herunter und griff nach ihrem eigenen
Schwert, bevor Mattim sich erneut auf sie stürzen konnte. Die
Klingen prallten aufeinander, der Schlag klang lauter als alle
vorherigen. Und wieder tanzten sie umeinander her. Und wieder traf
sie ihn, ohne dass er sich dafür revanchierte.
Atemlos schaute Hanna zu; sie verwünschte sich,
dass sie nicht schnell genug gewesen war, um Atschoreks Schwert an
sich zu reißen. Mattim, voll und ganz auf seine Gegnerin
konzentriert, schien alles um sich herum vergessen zu haben. Er
hörte nicht das Gemurmel der Schatten, seine Bewegungen wurden
nicht langsamer … Wie lange würden die beiden wohl noch kämpfen?
Die ganze Nacht und noch einen Tag und wieder eine Nacht? Was für
ein Ende würde es geben, wenn keiner von ihnen je müde wurde?
Mitten
in einer Parade, einer kunstvollen Figur, spürte sie Mattims Blick
auf sich. Sie erschrak, denn darin lag keine Hoffnung. Er wusste,
dass es ein Ende geben würde und wie es aussah … Ein Blick zum
Abschied. Ein kleiner Moment der Unaufmerksamkeit. Diesmal traf
Atschorek ihn in der Seite.
Hanna wischte sich übers Gesicht. Sie hatte nicht
gemerkt, dass sie weinte. Nein, ihr Freund würde nicht sterben, er
konnte es gar nicht. Nicht so. Warum taten sie das, Kunun und
Atschorek? Warum quälten sie ihren Bruder so und gaben ihm ein
Schwert, um sich zu wehren, wenn sein Tod ohnehin beschlossene
Sache war?
Er glaubt daran, dass er sterben wird,
dachte Hanna und versuchte, selbst daran zu glauben, es zu
begreifen, doch es ging nicht. Er kämpft wie ein Held aus einem
uralten Königreich und glaubt an seinen Tod … Nein, sie
verstand es nicht. Aber außer ihr schienen es alle zu verstehen.
Die anderen Schatten waren wieder leise geworden. Sie beobachteten
den Kampf mit Sorge, so schien es ihr. Und Kunun? Sie wandte sich
um und sah ihn an. Der Vampir lächelte nicht mehr. Er schüttelte
den Kopf, und sie verstand wenigstens das eine: dass es nicht so
lief, wie er gehofft hatte.
Die Geschwister kämpften immer noch, und durch die
Nacht, die sich über den Hof senkte, schnitt das Krachen der
Schwerter wie ein Donnerschlag und noch einer … es hörte nicht auf.
Wurde nicht weniger und nicht leiser. Als würden sie immer dort
kämpfen, Mattim und Atschorek, von jetzt an bis ans Ende der
Zeit.
Schließlich stand Kunun auf und trat an das
Gitter.
»Hör auf, Mattim«, sagte er. »Wen willst du damit
beeindrucken? Der Morgen wird dein Feind sein. Begreif es doch
endlich. Du kannst sie nicht schützen. Gib auf und überlass es mir
und meiner Entscheidung.«
»Nein!« Mattim wandte den Blick nicht von seiner
Schwester, sah nicht nach oben zu Kunun. »Nein.« Seine Stimme war
von wilder Entschlossenheit erfüllt, ein Gegensatz
zu dem Blick, mit dem er Hanna mitgeteilt hatte, dass er gleich
sterben würde.
»Das Licht«, sagte Kunun leise - und doch war er
mühelos zu verstehen -, »ist ein zweischneidiges Schwert. Es
vertreibt die Schatten, es löst sie auf, es verbrennt die
Dunkelheit zu Asche. Die Nacht ist der heilsame Mantel, der uns
schützt und uns in sich birgt. Und doch, das ist nicht alles.
Dunkelheit zerreißt, Licht schließt die Wunden. Allein das Licht
kann die Verletzungen heilen, welche die Finsternis geschlagen
hat.« Seine Stimme klang sanft und ohne Hall durch den Hof, wie ein
goldener Vogel, der seine Schwingen ausbreitete und von Geländer zu
Geländer schwebte. »Dort in Akink wartet es auf uns. Die Rettung,
die wir uns erobern müssen, denn sie wird niemals freiwillig zu uns
kommen. Ich biete es dir immer noch an. Zieh an meiner Seite gegen
Akink. Im Licht, wenn Tag und Nacht sich vereinen, wird alles
heilen.«
Mattim öffnete den Mund.
Nie, würde er sagen, das wusste Hanna. Niemals
ziehe ich mit dir gegen meine Stadt, lieber sterbe ich!
Aber Mattim starrte auf Kunun. Sein Arm sank herab.
Über ihm hing, bereit, Atschoreks Schwert.
»Dort wird es heilen?«, fragte er. »In Akink?
Alles?«
»Allein aus diesem Grund führe ich die Schatten
gegen die Stadt des Lichts«, sagte der Vampir. »Ich bin nicht so
böse, wie du vielleicht denkst. Jede deiner Wunden wird heilen, im
Licht. Du gehörst an meine Seite, Mattim.«
Atschoreks Schwert senkte sich über ihn.
Da beugte er den Kopf. Und er beugte die
Knie.
»Das wusste ich nicht«, sagte Mattim leise. »Ich
glaubte
… Dann bin ich an deiner Seite, Bruder.« Er hob den
Blick und sah Kunun an, mit einem Gesicht, in dem etwas Neues
glänzte, eine Freude, über die Hanna erschrak. Da schien etwas von
innen zu erstrahlen, als würde das Licht gleich aus ihm
herauskommen und alle Schatten hinwegfegen. Ein
Lächeln glitt über die Züge des Prinzen, in dem Triumph
aufleuchtete, und ein fast schon wölfisches Zähnefletschen, als
wollte er zugleich angreifen und sich beugen.
In seinem Blick lag nichts mehr von dem
geschlagenen Helden, der bereit war zu sterben. Keine Verzweiflung
mehr. Nur dieses wilde Lächeln, vor dem sie sich auf einmal
fürchtete.
»Nach Akink?«, fragte Atschorek misstrauisch.
Mattim erwiderte ihren Blick.
»Nach Akink«, bestätigte er. Und legte das Schwert
auf den Boden.
»Dann stört dich wohl auch das nicht«, sagte sie,
ergriff seine Hand und schnitt mit der rasiermesserscharfen Klinge
hinein.
Hanna schluchzte auf. »Mattim!« Sie wollte zu ihm
eilen und ihn umarmen, froh sein, dass er lebte, aber all das
konnte sie nicht tun. Wie hatte er sein Schwert vor Kunun
niederlegen können, der dort oben stand, triumphierend wie ein
siegreicher Gott? Mattim, mit diesem merkwürdig glücklichen
Lächeln, plötzlich ein Fremder …
»Auch das«, meinte Atschorek und hob das Schwert
gegen das Gesicht ihres Bruders, »wird dich nicht kümmern, wenn wir
doch bald in Akink einziehen.«
»Genug«, befahl Kunun mit scharfer Stimme, bevor
die Klinge Mattims Haut ritzte.
Atschorek ließ sofort das Schwert sinken. Aber im
nächsten Augenblick erhob sie es wieder, trat auf Hanna zu und
legte ihr die schwere Klinge auf die Schulter, als wolle sie das
Mädchen zum Ritter schlagen. So dicht an ihrem Hals lag die
Schneide, nur einen Hauch von ihrer Haut entfernt, Hanna spürte das
kalte Metall, als würde es dort atmen. Ein Schreckenslaut entfuhr
ihr, ein Wimmern, doch Mattim, nur wenige Schritte von ihr
entfernt, stand reglos da und machte keinerlei Anstalten, sein
Schwert aufzuheben und zu kämpfen.
Er sah sie nur stumm an. Die Lichter malten ihm ein
Muster aus Schatten auf die Wangen. Irgendwo über ihnen begann ein
neuer Morgen, fahl und fremd, nur der Hauch eines Beginns. Mattims
Blick, von einer Tiefe erfüllt, die Hanna nicht erahnt hatte. Er
bewegte nicht die Lippen, um ihr eine Botschaft zuzuflüstern. Es
war nur da, in seinen Augen, ein Versprechen.
Ich liebe dich. Vertrau mir.
Dann, als hätte es diese kurze Zwiesprache nie
gegeben, wandte er sich an Kunun. »Was immer du beschließt«, sagte
er, »mein Bruder und mein König.«
Der Schattenprinz lächelte. »Du wirst uns den Sieg
bringen, kleiner Bruder. Das weiß ich. Das habe ich immer
gewusst.«
»Und?«, fragte Atschorek.
Hanna wagte nicht, sich zu rühren. Eingefroren,
statuenstill verharrte sie, doch dann begann ein Zittern in ihren
Beinen und breitete sich von dort aus, kaum zu bändigen. Trotz
allem blickte sie nicht zu Kunun hin, um ihn das Urteil verkündigen
zu hören. Auch nicht zu Atschorek, die so dicht vor ihr stand, als
wollte sie mit ihr tanzen. Mattim wirkte so fremd, so unheimlich
fremd …
Vertrau mir.
»Sie gehört dir, Bruder«, sagte Kunun. »So
wie Magyria und Akink dir gehören.«
Atschorek trat zur Seite. Mattim nahm Hannas Hand
und führte seine Freundin durch den Hof zum Eingangsgewölbe. Noch
bevor die beiden es erreicht hatten, brandete hinter ihnen
ungewohnter Lärm auf. Hanna brauchte einen Moment, um zu begreifen,
dass die Schatten klatschten und stampften, und jemand begann zu
rufen: »Mattim, Mattim!«
Es war der Name, der ihre Welt bedeutete, es war
der Name, in dessen Rhythmus ihr Herz schlug.
Vertrau mir …
Im Gewölbe schwankte er, wie eine Marionette, deren
Fäden jemand durchgeschnitten hatte. Er fiel schwer gegen sie, und
sie fing ihn auf, so gut sie konnte. Beide stützten sich an der
Wand ab. Hanna schlang die Arme um ihn und hielt ihn fest.
Als das Licht des neuen Tages in den Hof fiel, als
es ihn berührte mit einem Hauch von Frühling, trank er an ihrem
Hals, von ihrem Blut, als wäre sie der Drache, dessen Blut allein
vor der Vernichtung schützen konnte.
Ein Morgen, frostig und doch schon durchdrungen
von neuen Ahnungen. Februar. Er strich ihr übers Haar, wartete auf
das Erkennen in ihren Augen, die ihm heller vorkamen als sonst,
nicht braun, sondern fast golden. Zart und zerbrechlich wirkte
Hanna, als sie über den Platz, über die gegenüberliegenden
Häuserfronten blickte. Eine Weile starrte sie auf die Uhrzeit, die
in grellroten Ziffern über das Werbeband eilte, und ein Beben
durchlief sie, das auf ihn übergriff.
»Verzeih mir«, flüsterte er in ihr Haar. Er hätte
sie verlieren können. Ja, fast hätte er sie auch verloren. Es war
unverzeihlich. Wenn sie es erfuhr, würde sie gehen. Er konnte es
ihr nicht verübeln.
»Was? Was soll ich dir verzeihen?«, fragte Hanna.
Sie räusperte sich, als müsste sie sich erst an ihre Stimme
gewöhnen, als wäre auch die neu an diesem Tag. So, als wären sie
beide neugeboren in dieser Nacht. »Dass du gesagt hast, du stündest
auf Kununs Seite? Dass du dein Schwert vor ihm niedergelegt hast?«
Sie drehte den Kopf und schaute ihn an. Ihre Augen wie Gold, wie
Bronze und Honig. Und waren doch gerötet, als hätte das Mädchen die
ganze Nacht geweint.
»Du erinnerst dich schnell«, sagte er leise. Er zog
sie weiter, fort von Kununs Haus.
»Ja«, flüsterte sie. »Warum sollte ich dir
verzeihen, dass
du dein Leben gerettet hast? Nur, um deinen Stolz zu wahren,
hättest du sterben sollen? Um deinen Stolz zu wahren, hättest du
mir das Herz brechen sollen? Nein, Mattim. Es gibt nichts, was ich
dir verzeihen müsste.«
Er führte sie an den Schaufenstern vorbei. Hier
hatten sie gestanden, vor jenem Geschäft, dort hatten sie sich
geküsst … Lange schien das her zu sein, sehr lange.
»Ich war die ganze Zeit auf dem Sprung«, sagte der
Prinz. »Wenn Atschorek auch nur eine Bewegung gemacht hätte, wäre
ich bei dir gewesen. Aber vielleicht hätte ich es nicht geschafft,
dich zu retten. Ich habe auf Risiko gesetzt, und du warst mein
Einsatz. Wenn ich nur daran denke, was ich da gewagt habe, wird mir
ganz schlecht. Die Klinge an deinem Hals … Es tut mir so leid,
Hanna.«
Sie blieb stehen und sah ihn an. Ihr dunkles Haar
fiel wie ein Schleier über ihre Wangen. Wie müde musste sie
sein!
»Ich wusste, mir wird nichts geschehen«, sagte sie.
»Ich habe es in deinen Augen gelesen. Und du hattest Recht.«
»Aber ich konnte es nicht wirklich wissen. Ich
musste das Spiel mitspielen, und ich musste besser sein als Kunun.
Ich musste ihm alles geben, was er wollte, und meine eigenen Karten
vor ihm verbergen … und meinen Schatz sicher nach Hause bringen.«
Er schaute sie an und spürte, wie ihn zugleich Schmerz und Freude
überwältigten. Er konnte nicht vergessen, wie bleich sie gewirkt
hatte im gelben Licht der Lampen im Hof, und Atschoreks
mordbereites Schwert … und doch loderte die Freude in ihm auf,
heller und heißer und strahlender als alles.
»Erklärst du es mir?«, fragte Hanna.
Mattim wollte nicht vom Tod sprechen. Nicht davon,
wie nah sie beide ihm gewesen waren. Zuerst er und danach sie, dass
er beinahe sein Sterben gegen ihres eingetauscht hätte, sie blind
im Vertrauen auf ihn, er wie im Rausch, in seinem wilden Triumph
…
Als sie in den Hof gekommen waren, als er Kunun
dort
gesehen hatte, königlich unter der Schar seiner Schatten, da hatte
er gewusst, dass es alles galt. Sein Bruder verlangte eine
Entscheidung von ihm. Kniefall oder trotzige Auflehnung. Leben oder
Tod. Da er nun mal nicht aufgeben wollte, nicht aufgeben konnte,
kämpfte er gegen Atschorek im vollen Bewusstsein, dass er sterben
würde. Nicht in dieser Nacht. Diese eine Nacht war ihm noch
geschenkt. Eine Nacht, in der er den ihnen zusehenden Vampiren
zeigen konnte, wer er war, Sohn seines Vaters, bis zum Schluss
Krieger des Lichts. Er hatte schon zwei Tage kein Blut getrunken.
Wie hatten seine Geschwister das wissen können? Dass er, sobald die
Sonne aufging, zu Staub zerfallen würde vor Kununs Füßen? So hätte
sein Bruder ihn letztendlich doch dazu zwingen können, in die Knie
zu gehen. Hier, vor aller Augen, besiegt vom Licht, dem er diente.
Welch bittere Ironie.
Mattim hatte es wie immer so lange wie möglich
hinausgeschoben, Hanna zu beißen. Er war stolz gewesen auf seine
Widerstandskraft, auf seinen Verzicht, war für eine kleine Weile
wieder der gewesen, der er sein wollte, der Kämpfer für das Licht …
Alles, was du sein willst, heiße es willkommen, damit es dich
vernichtet! Das Schlimmste an der Sache war, dass Hanna anwesend
war. Sie war da, und ihr Blut hätte ihn retten können, aber um zu
trinken, hätte er das Schwert zur Seite legen müssen und hätte
damit Atschorek ein Ziel geboten. Sich - aber seine Unversehrtheit
war ihm egal - und Hanna, die er in diesem Moment der
Verwundbarkeit nicht hätte schützen können. Kurz hatte er erwogen,
sie in den Schatten zu ziehen, durch die Mauer, doch wenn er das
getan hätte, wäre seine Schwester ihnen gefolgt. Sie hätte ihm nie
genug Zeit lassen, um seine Freundin zu beißen, sofort wäre sie da
gewesen. Kunun hätte niemals zugelassen, dass er den Kampf auf
diese Weise gewann. Der Schattenprinz wollte ihn gebeugt sehen -
oder tot.
Es gab nichts, was Mattim noch für Akink tun
konnte. Ungebeugt zu sterben war das Einzige, was ihm übrig blieb.
Bis zum Schluss er selbst zu sein, im Herzen immer noch der Prinz
des Lichts. Der zu stolz gewesen war, um zuzugeben, dass er ein
Schatten war, dass er regelmäßig Blut brauchte. Der gebeten werden
wollte! Für rechtschaffen und edel hatte er sich gehalten und sich
doch nur selbst eine Falle gestellt. Hanna hatte dagestanden, ihrem
Kampf zugesehen und nichts davon gewusst. So aufgeregt hatte sie
ihm zugesehen, als wäre es tatsächlich möglich, dass er siegte,
dass er, indem er Atschorek traf und verletzte, mit dem Leben
davonkam! Es war nahezu unmöglich, einer solchen Gegnerin
standzuhalten. Über sich hörte er das Gemurmel der Schatten. Ihr
Beifall erfüllte ihn mit bitterem Stolz. An Atschoreks
jahrzehntelange Erfahrung kam er nicht heran, aber er leistete ihr
mehr Widerstand, als sie wohl erwartet hatten. Ihre Bewegungen,
ihre Streiche, fließend und anmutig und doch von mitleidsloser
Präzision, trieben ihn durch den Hof. Er musste nur darauf achten,
dass sie Hanna nicht zu nahe kam. Mehr musste er gar nicht tun. Was
scherte ihn eine Wunde am Arm? Der Schmerz verging rasch. Was
kümmerten ihn unauslöschliche Narben, wenn er am Morgen sterben
würde, einem zweiten, umfassenden Tod erliegen würde?
Leichte Unsicherheit zuckte über Atschoreks
Gesicht. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er ihre Aufforderung
zum Tanz annahm. Sie hatte ganz sicher auch nicht damit gerechnet,
dass er jede Möglichkeit ausschlug, sie zu treffen. Fast bot sie es
ihm sogar an. Hier, ich vernachlässige die Deckung, komm, komm
schon! Mattim ließ sich nicht provozieren. Was immer seine
Schwester tat, wenn sie sich nicht gar zu dumm anstellte, würde er
sie nicht verwunden. Er lächelte grimmig, als er den Zorn in ihren
Augen sah. Sie wusste genau, warum er sie verschonte, jetzt, obwohl
er die Oberhand gewann, sie zurückdrängte, obwohl er zu seiner
alten Form zurückfand, vereint mit der Unermüdlichkeit des
Schattens, obwohl er jede Erinnerung an Schmerz und Erschöpfung aus
seinem Körper ausschloss. Er wusste, wie eitel sie war. Für jeden
Schmiss, jede Schramme würde sie Hanna bezahlen lassen. Für jeden
kleinen Sieg würde sie sich an seiner Liebsten rächen, sobald er
fort war, für immer. Kunun würde das Mädchen sicher gehen lassen.
Aber Atschorek … Nein, Schwesterherz, richte deine Wut ruhig auf
mich. Lass Hanna aus dem Spiel.
Ihre Blicke trafen sich. Oh, sie wusste genau, was
er dachte. Das war das Letzte, was sie wollte, von ihm verschont zu
werden! Die Schatten bemerkten es, jeder, der in der Wache gewesen
war, würde es wissen, dass er sie verschont hatte, seine finstere
Schwester. Ha!
Es bereitete ihm eine wilde Genugtuung, dass sein
Tod sie ärgern würde. Und dass seine Gnade ihn als einen von der
anderen Seite auswies. Bis zum Schluss, bis zum bitteren Ende
…
Kunun bot ihm einen Platz an seiner Seite an. Als
hätte Mattim nicht gewusst, worauf das hier hinauslaufen sollte.
Aber es gab keine Entscheidung zu treffen. Er war aufgebrochen zu
den Schatten, um Akink zu retten. Er hatte versagt. Doch wenn er
starb, dann aufrecht, immer noch er selbst. Tut mir leid, Hanna.
Ich wollte dir nie Schmerzen bereiten. Trotzdem kann ich nicht
bereuen, dass ich dir begegnet bin. Ich habe Akink dem Feind in die
Hände gespielt, der Fluss wird zufrieren, und der Kampf wird
verloren sein … und ich vermag nichts mehr daran zu ändern.
Glaubte Kunun wirklich, er könnte ihn in Versuchung führen? Ihn mit
dem Versprechen auf Heilung verlocken? Schon einmal hatte der
Schattenprinz behauptet, dass in Akink die unheilbaren Wunden der
Schatten heilten. Um die paar Schrammen an seinen Armen zu tilgen,
sollte er die Stadt des Lichts fallen sehen?
»Dunkelheit zerreißt, Licht schließt die Wunden.
Allein
das Licht kann die Verletzungen heilen, welche die Finsternis
geschlagen hat.«
Er wollte Kunun seine Verachtung
entgegenschleudern, seinen unbeugsamen Willen … und in diesem
Moment begriff er. In diesem Augenblick, der alles verwandelte,
hielt er den Schlüssel in der Hand. Er hätte lachen mögen. Kunun
servierte ihm die Lösung des Rätsels auf einem silbernen
Tablett.
Dunkelheit zerreißt, Licht schließt die
Wunden.
Er, Mattim, konnte Akink retten. Immer noch. Was
zählte es, wenn er dabei seinen Stolz opferte? Wenn er seine Ehre
hingab auf dem Schlachtfeld der Nacht?
Die Knie zu beugen. Die Geste fiel ihm nicht so
schwer wie gedacht. Zu groß war die Freude, um irgendetwas anderes
zu fühlen. Das Schwert von sich zu werfen.
Er will dein König sein, dabei ist er dein
Bruder. Sieh ihn an, furchtlos. Verbirg nichts. Zeig ihm deine
Freude. Soll er sie ruhig bemerken, soll er glauben, er hätte dich
gewonnen. Sollen sie dich alle für einen Verräter halten. Egal. Es
gibt nichts in dir, was wichtiger ist als Akink.
Trotzdem war es schwer. Trotzdem brauchte es einen
Akt fast übermenschlicher Anstrengung, nicht zu Hanna zu laufen,
sie an sich zu reißen und aus dem Gefahrenbereich zu ziehen. Ihr
Schicksal in Kununs Hände zu legen. Das war es, was der
Schattenprinz von ihm verlangte: Vertrau mir. Als deinem König, als
deinem Bruder.
Er musste an seinen Bruder glauben. Nicht an den
Feind. Du musst an ihn glauben, als würdest du auf seiner Seite
stehen. Als gehörtet ihr von nun an zusammen. Verbündete. Brüder.
Er wird Hanna nichts tun. Du musst nur daran glauben.
Vertrauen. Vertrauen in Kunun?
Es war schwer. So unglaublich schwer, dass seine
Hand zu seinem Schwert zucken wollte, dass alle seine Muskeln sich
spannten, bereit zum Sprung. Bereit, Atschorek anzufallen
und zu zerreißen. Sobald er nur ein einziges Tröpfchen Blut an
Hannas Hals sehen würde, musste er losspringen. Wenn sie sich bloß
nicht bewegte. Wenn sie nur nicht schrie oder in Ohnmacht fiel
…
In diesem Moment hasste er sich selbst. Und er war
nahe daran, seinen Hass hinauszuschreien. Bist du wahnsinnig,
Kunun? Du Ungeheuer, Atschorek, Ausgeburt der Finsternis!
Aber er hielt stand. Noch einen Augenblick länger -
vielleicht hätte er es nicht geschafft. Seine Schwester dürstete
nach Blut. Es zu vergießen, nicht, es zu trinken. Wenn sie es
gewagt hätte, Kunun zu trotzen? Wie lange er wartete, wie lange er
Mattims Gehorsam prüfte! Stehen wir wirklich auf derselben Seite?
Glaubst du das? Bruder. Glaubst du das?
Mattim bückte sich nicht nach seinem Schwert. Und
Kunun gab sie frei. Mattim lächelte leichthin, als hätte er nie
daran gezweifelt. Und da kam auch schon der Morgen hinter den
Häusern emporgekrochen und streckte seine Fühler aus. Das Licht.
Tödliches, gefährliches, immer noch über alles geliebtes
Licht.
»Erklär es mir«, bat Hanna.
Mattim konnte es nicht. Er brachte es nicht über
sich, den Mund zu öffnen und über seinen Tanz mit dem Tod zu
sprechen. Stattdessen legte er den Arm um sie und presste sie an
sich. Sanft lehnte er seine Stirn gegen ihre und atmete tief ein.
Hatte er nicht die ganze Nacht über vergessen zu atmen? Ihr warmer
Geruch. Ihr Herz schlug gegen seins. Nie wieder würde er so lange
warten. Nie wieder würde er zulassen, dass sein Stolz sie beide
derart in Gefahr brachte.
Ich liebe dich. Vertrau mir.
»Ich weiß, wie man die Pforte schließen
kann«, flüsterte er. »Ich werde Akink retten.«