VIERZEHN
AKINK, MAGYRIA
Natürlich konnte Mattim nicht schlafen. Die
Ungeheuerlichkeit seiner Entscheidung verfolgte ihn, trieb ihn ins
Bett und wieder hinaus. Er stand am Fenster und starrte in die
Dunkelheit hinaus. Alles war wie immer, und dennoch war es ihm, als
würde er alles zum ersten Mal sehen. Sein Zimmer. Das Bett mit den
gedrechselten Füßen, die Samtvorhänge, das Sofa, mit dessen
Troddeln Mirita die ganze Zeit während ihres Besuchs gespielt
hatte. Ohne es zu merken. Er starrte auf die goldenen Fäden und
ließ sie durch die Finger gleiten.
Morgen war der Tag, an dem er sterben würde. Ein
Schatten zu werden hieß zu sterben. Er war siebzehn Jahre alt. Er
war verrückt. Es war Wahnsinn, der pure Wahnsinn.
Dann erinnerte er sich wieder an die fürchterlichen
Schreie in der Höhle. Und an Morrit. Morrit … Wie viele Freunde und
Gefährten musste er noch verlieren, an einen Tod, der mit sich
selbst nicht zufrieden sein konnte? Es war noch lange nicht vorbei.
Bald würden sie hier vor der Brücke stehen. So nah waren sie der
Stadt am Donua schon gekommen, der herrlichen Stadt des
Lichtkönigs. Sie machten einen Schritt nach dem anderen, ohne Eile.
Die Toten haben keine Eile. Sie würden weitermachen, bis kein
Flusshüter mehr übrig war.
Er wusste das. So war es, und deshalb hatte er gar
keine Wahl. Wenn es einen anderen Weg gegeben hätte,
herauszufinden, wie man sie besiegen konnte, er wäre ihn gegangen.
Doch es gab keinen.
Trotzdem überkam den jungen Prinzen die Angst, so
stark, dass er sie kaum ertragen konnte. Ein Würgereiz packte ihn
und krümmte seinen Körper. Er klammerte sich an einen Bettpfosten
und keuchte. Zum Glück hatte er in den letzten Stunden nichts
gegessen.
Essen. Konnte man überhaupt noch essen, wenn man
ein Schatten war? Konnte man noch schmecken? Fühlen? Die Schatten
kannten Schmerz, das hatte er mit eigenen Augen gesehen, aber was
empfanden sie darüber hinaus? Blutdurst? Mordlust? Kannten sie
überhaupt noch ganz normalen Durst und spürten, wie er gestillt
wurde, durch klares Quellwasser, durch Milch, vielleicht sogar
durch Miritas eklig bitteren Tee?
Was war es mit der Liebe? Konnte er ein Mädchen
küssen, ohne es gleich zu beißen? Beißen. Die Vorstellung war
lächerlich, wenn sie nicht zugleich so erschreckend gewesen wäre.
Er dachte an Mirita. Er hätte sie küssen sollen, solange er es noch
konnte. Jetzt war es zu spät. Er würde nie wissen, wie es war,
jemanden als Mensch zu küssen, oder ob es für einen Schatten anders
war.
Aber vielleicht … Auf seinem unruhigen Marsch
durchs Zimmer hielt er inne. Vielleicht konnte er Mirita noch
einmal treffen, bevor es geschah. Er konnte sie fragen, ob er sie
küssen durfte. Falls sie erschrak und rot wurde, konnte er ihr
erklären, warum es ihm so wichtig war. Ein einziger Kuss.
Vielleicht war es leichter zu sterben, wenn man schon ein Mal
geküsst worden war.
Mattim griff nach seinem Umhang und verließ das
Zimmer. Auf leisen Sohlen schlich er die Treppe hinunter. Seine
Eltern schliefen um diese Zeit, und er wollte den Wächtern nicht in
die Hände laufen.
Als er unten ankam, vernahm er gedämpfte Stimmen
aus dem Salon der Königin. War seine Mutter noch wach? Zögernd trat
er an die Tür und presste das Ohr ans Holz.
Ja, es war seine Mutter. Sie schien sich gerade zu
bedanken.
Eine tiefe, männliche Stimme ertönte, in der er unschwer seinen
Vater erkannte. Ertappt wich Mattim zurück. Er hatte nicht vor,
seine Eltern bei einem privaten Gespräch zu belauschen. Doch gerade
als er sich abwenden wollte, vernahm er die Stimme einer dritten
Person.
Es traf ihn wie ein Schlag. Mirita? Sie war immer
noch da, hier in der Burg - im Gespräch mit seinen Eltern?
Hastig wich er zurück, als könnte er sich an der
goldbemalten Tür verbrennen. Was hatte sie wohl mit dem König und
der Königin zu bereden?
Mattim konnte es nicht glauben. Er musste sich
verhört haben, es gab gar keine andere Möglichkeit. Wenn der Gast
das Zimmer verließ, würde er ihn sehen. Schon näherten sich die
Stimmen der Tür. Hastig verbarg der Prinz sich hinter einer Statue
und wagte nicht zu atmen.
»Wir danken dir«, sagte der König und drückte dem
Mädchen, das Mattim für eine gute Freundin gehalten hatte, die
Hand. Die Königin nickte ihr wohlwollend zu. Miritas Gesicht
schimmerte bleich im fahlen Licht der wenigen Lampen. Sie zog sich
die Kapuze über das helle Haar, verbeugte sich tief und hastete
davon.
Farank und Elira standen in der Vorhalle und sahen
einander an.
»Ich werde eine Wache vor seinem Zimmer postieren«,
sagte der König leise. »Jetzt sofort. Er wird die Burg nicht mehr
verlassen, das schwöre ich.«
Elira seufzte. »Es ist zu viel passiert in letzter
Zeit. Jedes Mal dachte ich, der Junge verkraftet es, er ist stark
genug. Die beiden Gefährten zu verlieren, für die er sich
verantwortlich gefühlt hat, hat ihn völlig aus der Bahn geworfen,
und nun auch noch Morrits Ende … Aber auch das wird er verwinden
müssen. Vielleicht wird er morgen schon über seine verrückten
Einfälle lachen, so wie wir.«
»Mir ist nicht nach Lachen zumute«, murmelte König
Farank.
Mattim hielt den Atem an, bis sie gegangen waren.
Er konnte seinen Vater in der Eingangshalle mit den Wachen reden
hören, Satzfetzen von »gut achtgeben« und »auf gar keinen Fall«,
drangen durch den offenen Mauerbogen.
Hastig sah er sich um. Vorne würden sie ihn nicht
durchlassen. Wenn er die Burg verlassen wollte - und das musste er
auf der Stelle tun -, blieb ihm nur der Dienstbotenausgang.
Vorsichtig schlich er in die Eingangshalle, wo ein paar Wächter
miteinander redeten, und verbarg sich mit klopfendem Herzen hinter
einer Säule. Die Männer waren weitergegangen. Rasch lief der Prinz
auf leisen Sohlen weiter, bog um die Ecke und eilte die Treppe zu
den Wirtschaftsräumen hinunter. Fast überall war es schon dunkel,
die Bediensteten waren längst schlafen gegangen. Nur in der Küche
wurde die ganze Nacht hindurch gearbeitet. Hier blickten ein paar
Gehilfen überrascht auf, als er zwischen den Tischen
hindurchstürmte.
Der Wachposten an der Tür grüßte ihn höflich. Der
Mann zog die Brauen hoch, sagte aber nichts. Vielleicht glaubte er,
Mattim wäre unterwegs zu einem Mädchen, denn er grinste etwas zu
breit.
Gleich, wenn er vom Befehl des Königs erfuhr, würde
er nicht mehr grinsen. Doch dann war der Prinz längst in der Nacht
verschwunden.
Vor sich in der Gasse hörte Mattim das Geräusch
eiliger Schritte. Dort hastete Mirita nach Hause, eng in ihren
Umhang gehüllt. Er erkannte sie trotzdem und duckte sich in den
Schatten zwischen den Häusern. Die junge Bogenschützin hatte ihn
gehört, kurz blieb sie stehen und sah sich um.
»Wer ist da?«
Aus dem Schatten heraus konnte er sie deutlich
erkennen. Sie stand in der Mitte der Gasse und lauschte. Dann
rannte sie plötzlich los, und er wartete, bis er ihre Schritte
nicht mehr hören konnte. Sie würde schon nach Hause kommen.
Noch waren die Schatten, die es wirklich zu fürchten gab, nicht in
der Stadt. Noch nicht.
Als Mattim das Flussufer erreicht hatte, blickte
er sich zur Burg um. In den meisten Fenstern war Licht aufgeflammt,
wahrscheinlich suchten sie ihn bereits. Er wandte sich dem dunklen,
mit winzigen Lichtpünktchen gesprenkelten Wasser zu. Über die
Brücke würden sie ihn nicht lassen, das brauchte er gar nicht erst
zu versuchen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu
schwimmen.
Der Donua war an dieser Stelle einige Hundert Meter
breit. Es war zu schaffen; er musste nur weit genug von der Brücke
entfernt ins Wasser gehen, damit ihn die Wachen nicht bemerkten.
Eine Weile schlich Mattim an der Kaimauer entlang, bis er sich
entschied, es zu wagen. Er wollte nicht zu nah an den Hafen
herankommen, denn bei den Booten war immer jemand
anzutreffen.
Rasch streifte der Prinz die Schuhe ab. Eine Weile
überlegte er, was er mit seiner Kleidung tun sollte. Der Umhang
würde ihn beim Schwimmen behindern, also legte er ihn ab. Hemd und
Hose trocken auf die andere Seite zu bringen, war unmöglich, also
konnte er sie genauso gut anlassen. Es würde kalt, nass und
unbequem sein, aber schließlich war er nicht hier, um zu einem
Picknick zu gehen. Wenn er auf die Wölfe traf, würde die nasse
Kleidung ihn am allerwenigsten stören.
Die Sprossen in der Mauer waren dafür gedacht,
Menschen, die versehentlich ins Wasser gefallen waren, eine
Aufstiegsmöglichkeit zu bieten. Selten benutzte jemand sie dafür,
um zum Wasser hinunterzuklettern. Mattim hatte nicht damit
gerechnet, dass es so kalt sein würde, dass es sich anfühlte wie
ein Angriff. Immerhin war das hier sein Fluss, den er behütete, mit
dem ihn etwas verband, mit dem er aufgewachsen war. Natürlich war
er auch schon darin geschwommen. In einer Zeit, als die Schatten
sich noch in anderen
Teilen des Landes austobten, war er sogar recht häufig hier
gewesen. Dermaßen kalt hatte er die Fluten jedoch nicht in
Erinnerung. Mit eisigem Griff packte das Wasser seine Knöchel und
legte sich wie Gamaschen aus Schnee um seine Waden. Ein Zittern
durchlief ihn, seine Zähne schlugen aufeinander.
Zögernd stieg Mattim weiter hinunter. Vielleicht
war es doch keine so gute Idee, bei Nacht den Fluss zu
durchschwimmen. Hinter ihm lockte die Stadt, er dachte an sein
Zimmer, an sein warmes, gemütliches Bett. Die ganze Müdigkeit des
Tages war plötzlich wieder da und versuchte, ihn von seinem
Vorhaben abzuhalten.
In diesem Moment klang das Horn durch die Stille
der Nacht, diesmal nicht vom Wald her, sondern aus der Burg, ein
Laut, der alle Herzen schneller schlagen ließ. Gefahr!
Aufwachen, herhören, Gefahr!
Sie hatten entdeckt, dass er die Burg verlassen
hatte. Nun würden sie ganz Akink durchkämmen. Sicher dauerte es
nicht lange, bis die ersten Wachen oder vielleicht auch
hilfsbereite Anwohner hier am Ufer entlangkamen.
Der Prinz warf sich ins Wasser und schwamm
los.
Es waren nur wenige Hundert Meter. Vielleicht
drei-, vielleicht vier-. Trotzdem kam es ihm vor, als versuchte er
das offene Meer zu durchqueren. Die Strömung war unerwartet stark.
Seine Kleidung klebte an ihm, als hätte er sich bleischwere
Gewichte in die Taschen gesteckt. Es war so finster, dass er das
gegenüberliegende Ufer nicht erkennen konnte, daher schwamm er
einfach ins Dunkle hinein, und der schwache Schimmer, den die
Lichter aus der Stadt auf die Wellen warfen, trug eher dazu bei,
ihn zu verwirren, als ihm bei der Orientierung zu helfen.
Mattim kämpfte gegen den Fluss, gegen die
nachtschwere Müdigkeit, die sich in seinen Armen und Beinen
breitmachte. Kleine Wellen schwappten ihm ins Gesicht und wollten
mit ihm spielen, mit seinem Leben, seinem Atem, seiner Kraft. Die
Strömung trug ihn weiter von der Stelle fort, an der er
triumphierend aus dem Wasser hatte steigen wollen, immer weiter weg
von Akink und der Brücke. Mattim kämpfte um sein Leben. Und während
er kämpfte, während er mit aller Kraft, die ihm noch geblieben war,
verzweifelt versuchte, durch die Dunkelheit hindurch das rettende
Land zu erreichen, fühlte er das nach Atem ringende, das hoffende,
verzweifelnde, wilde Leben in sich, dieses Leben, das nach festem
Boden unter den Füßen schrie, nach Wärme und Ruhe und Rettung. Der
Prinz kämpfte, und während er mit dem Fluss rang, war dieses Leben
auf einmal das Einzige, was er besaß. Nie zuvor hatte er das so
deutlich gespürt. Sein schlagendes Herz war das Wertvollste, was er
hatte - und er war im Begriff, es wegzuwerfen! Wer hatte ihm bloß
diese Idee eingeflüstert? Morgen ist der Tag, an dem ich sterben
werde … Nein. Nein! Er zwang sich, den Schmerz zu ignorieren
und weiterzumachen. Und dann, irgendwann, ertasteten seine Füße den
schlammigen Grund, und mit ein paar letzten Schwimmstößen erreichte
er das Ufer. Reglos blieb er liegen und atmete.
Er lebte. Und war doch nicht stolz darauf, dass er
es geschafft hatte. Stattdessen hätte er sich dafür ohrfeigen
können. Was hatte ihn bloß geritten, bei Nacht den Donua zu
überqueren? Dort drüben suchten sie nach ihm. Mattim sah zu der
Stadt hinüber, die beunruhigend weit entfernt lag, unter der
schützenden Dunkelheit der stillen Nacht, die alle Kämpfe verbarg.
Auf einmal sehnte er sich nach seinem Vater. Er würde sich einiges
anhören müssen, wenn er zurückkam. Seine Mutter würde ihn ansehen,
mit diesem wehleidigen Blick, der kaum auszuhalten war. Trotzdem
sehnte er sich nach ihrer Umarmung. Und Hunger hatte er! Vielleicht
würden sie ihn ohne Essen ins Bett schicken. Aber vielleicht wären
sie auch so froh, ihn wiederzuhaben, dass sie das Beste aus der
Küche heraufholen ließen.
Hatte er nicht selbst gesehen, wie die Küchengehilfen Teig
kneteten?
Mattims Beine fühlten sich so schwer an, dass er
kaum die Uferböschung hochkam. Erneut blieb er stehen und atmete
tief ein. Zur Brücke war es noch ein gutes Stück, und ganz bestimmt
würde er nicht noch einmal schwimmen. Wenn die Brückenwache ihn von
dieser Seite kommen sah, würden sie wahrscheinlich darauf bestehen,
ihn zu untersuchen. Na, sollten sie ruhig. Die nassen Sachen musste
er sowieso loswerden. Da konnten sie ihm auch gleich eine Decke
geben. Er fror nämlich erbärmlich. Eine Decke, ein heißes Bad, ein
Schluck von irgendeiner scheußlichen Flüssigkeit, die ihn von innen
her aufwärmen würde - er träumte, während er zurück in Richtung
Brücke torkelte, auf wackligen Beinen, die ihn kaum noch tragen
wollten. Nach Hause. Er wollte nur noch schlafen, und morgen …
morgen würde er weitersehen.
Mattim hörte den Wolf, bevor er ihn sah. Er hörte
das leise, bedrohliche Knurren, das Rascheln leichter Pfoten auf
trockenen Blättern.
Sofort blieb er stehen. Er hatte kein Schwert,
nicht einmal ein Messer, nichts, womit er sich verteidigen
konnte.
»Oh, nein«, flüsterte der Junge. »Nicht jetzt, oh,
bitte …« Er lauschte. Wieder vernahm er ein Knistern, das
vorsichtige, heimliche Auftreten, zu dem kein Mensch fähig war. Und
noch einmal …
Er drehte sich um und wollte losrennen, aber da
tauchte vor ihm aus dem Dunkel der Nacht eine schwarze Gestalt auf.
Auf der einen Seite war der Fluss, dem er gerade erst entkommen
war, auf der anderen der Wald. Es gab keine Wahl, keinen Augenblick
der Entscheidung. Mattim stürzte sich zwischen die Bäume, in die
noch dunklere, bedrohlichere Welt des Waldes, und hinter ihm hörte
er das Schnaufen und Keuchen der Tiere.
Der junge Prinz taumelte durchs Gestrüpp. Ab und zu
prallte er schmerzhaft mit der Schulter gegen dicke Stämme, immer
wieder peitschten ihm Äste ins Gesicht, und dornige Ranken krallten
sich um seine Füße. Von irgendwoher ertönte Geheul, vielleicht war
es direkt vor ihm, in der Richtung, in die er rannte, aber die
Wölfe hinter ihm waren ihm so dicht auf den Fersen, dass er nichts
anderes tun konnte als weiterzulaufen. Fahl zog bereits die
Dämmerung herauf, oder seine an die Finsternis gewöhnten Augen
verhalfen ihm dazu, sich etwas besser zurechtzufinden. Unfähig, zu
springen oder auch nur schnell zu laufen, stolperte er vorwärts,
den heißen Atem der Verfolger im Nacken. Einmal wagte Mattim einen
Blick über die Schulter, in der Hoffnung, dass er die Wölfe
abgehängt hatte oder dass dieser Albtraum vielleicht bloß seiner
überreizten Fantasie entsprang, doch da waren sie, zu zweit, graue
Schatten mit gelben Augen.
Es musste ein Traum sein. Ein Albtraum, den er in
seinem Zimmer in der Burg träumte. Es konnte nicht wahr sein, dass
sie ihn hier durch den Wald jagten, diese Bestien, die nie näher
kamen als eine Körperlänge, die ihn nicht zerrissen, sondern nur
immer weiter vor sich her trieben. Mattim konnte nicht einmal mehr
seinen ursprünglichen Plan verfolgen, stehen bleiben und sich
beißen lassen, denn dies waren keine Schattenwölfe, obwohl sie ihm
genauso unwirklich vorkamen. Ihr Biss würde ihn nicht in einen
Schatten verwandeln, sondern nur in ein Festmahl - für sie. Seine
einzige Hoffnung war, dass er auf die Flusshüter traf.
Er fiel. Mit dem Fuß blieb er an einer Wurzel
hängen und schlug der Länge nach zu Boden. Mattim wusste sofort,
dass er nicht mehr würde aufstehen können. Seine Beine, seine
Lungen, sein ganzer Körper wollte ihm nicht mehr gehorchen. Hinter
ihm waren die Wölfe, er sah sie näher kommen, die Zähne gefletscht,
näher, mit geöffnetem Rachen … Es waren nicht nur zwei. Von allen
Seiten kamen sie auf ihn zu, zehn, zwanzig, ein Meer aus grauen
Leibern
in den unterschiedlichsten Schattierungen. Nur vor ihm war noch
ein Durchgang, dort musste er hin, dann würde er frei sein …
Alles, was in ihm leben wollte, zwang ihn nahezu
ohne sein Zutun, sich aufzurappeln und weiterzulaufen. Geradezu
quälend langsam schleppte er sich weiter - und stand plötzlich vor
dem Käfig. Eine der Fallen, die sie für die Wölfe aufgebaut hatten.
Nach wie vor kamen die Bestien von allen Seiten näher, schon spürte
er spitze Zähne an seiner Hand, an seinem Bein. Mattim lachte laut
auf, warf sich nach vorne, zwischen die schützenden Eisenstäbe, da
krachte auch schon die Klappe ins Schloss und rastete ein. Er sah
noch die unzähligen grauen Leiber, die den Käfig umkreisten und
vergeblich versuchten, durch das Gitter nach ihm zu schnappen. Der
harte, kalte Metallboden entwickelte eine unwiderstehliche
Anziehungskraft. Der Prinz rollte sich zusammen, bettete den Kopf
auf seinen Arm und schlief ein.