ACHTUNDDREISSIG
BUDAPEST, UNGARN
Kunun beugte sich über Réka und küsste sie auf die Augenlider.
»Wird es reichen?«, fragte Atschorek und stand auf. Hanna blieb oben auf der Empore liegen und weinte. Sie versuchte nicht zu fliehen. Es gab auch keinen Grund dazu. Die Schatten brauchten sie nicht mehr, denn Réka hatte ihnen alles gegeben, was sie wollten. Hanna lag nur dort und dachte: Sie ist tot. Réka ist tot. Nun ist es zu Ende.
Kunun blickte auf. »Ich habe dir nicht erlaubt zuzusehen«, sagte er. Seine Stimme klang dunkel und samtig. Seine Hände glänzten von Rékas Blut. Aber eine steile Falte auf seiner Stirn zeigte seinen Zorn.
»Tut es dir leid?«, fragte Atschorek und ging am Geländer entlang. »Hattest du sie am Ende lieber, als du gedacht hast? Ich war hier, um einzugreifen, falls es dir doch schwergefallen wäre, die Sache durchzuziehen. Blut allein genügt nicht. Leben, freiwillig geopfert, wird uns wie auf Flügeln bis nach Akink tragen. - Allerdings fragte ich mich, ob es genug für uns alle ist. Wird es reichen? Oder brauchen wir Hanna?«
Kunun blickte in den Krug, in dem die Flüssigkeit schimmerte. »Szigethy-Blut für die Stadt«, sagte er, langsam, als könnte er es selbst nicht glauben. »Es wird reichen, denke ich. Obwohl es weniger ist, als ich erwartet habe. Ein Liter, vielleicht anderthalb … Ein sehr kleiner Schluck für jeden von ihnen.« Erneut spähte er in den Krug, bauchig und schwer in seinen Händen.
»Was für ein Glück für dich, Hanna«, sagte Atschorek, aber sie klang nicht, als wäre sie glücklich über den Verlauf der Dinge. »Du kannst aufstehen, mein Schatz.«
Die Vampirin bückte sich und zog sie hoch. Hanna, die der Schmerz auf den Boden drückte, die kaum Kraft fand, sich zu erheben, Kununs Blick auf sich zu spüren und sein Gesicht auszuhalten, so schön, immer noch so schön … Ihr war, als müsste das, was er getan hatte, aus seinem edlen Antlitz eine fürchterliche Fratze machen, doch nach wie vor sah er aus wie ein Gott, wie der unwiderstehliche Prinz des Lichts, der hoch zu Ross durch die Straßen ritt und dem alle zuwinkten. Vor dem alle auf die Knie fielen. Und er wandte sich ab und schlug den Mantel um sich, den langen Mantel aus sternloser Nacht …
Dann ein Klirren und Krachen. Die Dunkelheit zerbarst, Licht strömte herein, und in einem Schauer aus splitterndem Glas stürzte Mattim ins Zimmer, zwischen den sich im Luftzug bauschenden Vorhängen, rollte über den Boden und sprang auf. Er blickte sich wild um, sah Réka vor dem Kamin, sah Kunun dastehen, den Becher in der Hand.
»Nein!« Mattim schrie all das hinaus, was Hanna nicht hatte schreien können, all das, was sie selbst fühlte, ein Entsetzen, das sich niemals würde besänftigen lassen. Laut und gellend, ein Schrei wie ein zu Tode Getroffener. Er stürzte sich auf Kunun, riss ihm den Krug aus den Händen und hob ihn hoch über sich, um ihn am Boden zu zerschmettern. Ein Schwall des kostbaren Blutes schwappte über den Rand und färbte seine Kleidung dunkel.
»Hanna ist hier«, sagte Atschorek ruhig, fast unnatürlich ruhig, bevor Kunun irgendetwas erwidern konnte. »Gib den Krug zurück.«
Mattim blickte hoch zu ihr, sein Gesicht fast weiß, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Er blickte Hanna an und hielt das Gefäß, Akinks Vernichtung, das, wofür Réka gestorben war, hielt es noch einen Augenblick fest. Schließlich begannen seine Hände zu zittern, und er reichte seinem Bruder den Krug. Danach fiel er auf die Knie, neben Réka, und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.
Kunun machte ein paar Schritte rückwärts, zum Tisch hin, wo er einen runden Deckel aufhob und das Gefäß damit sorgfältig verschloss.
»Tja, Mattim«, sagte Atschorek und klang nicht einmal schadenfroh dabei, »nun wird es doch nicht reichen. Nicht für alle. Du weißt, was das heißt.«
Der Prinz hob den Blick und sah Hanna an, nur ein kurzer, flüchtiger Blitzstrahl, bevor er sich wieder abwandte. Verzeih mir … Verzeih mir …
Darin lag zweierlei, unendliches Bedauern, aber immer noch ein Funke Hoffnung, eine Kraft, von der sie selbst nichts wusste. Sie konnte rein gar nichts fühlen. Er hatte das Blut verschüttet. Nicht alles. Für sie hatte er darauf verzichtet, alles, bis auf den letzten Tropfen, auf den Boden zu gießen. Kunun würde über den Fluss gehen, und niemand konnte ihn mehr aufhalten. Und wen kümmerte das jetzt noch.
»Was«, fragte Kunun mit gefährlich leiser Stimme, »soll ich jetzt mit dir machen, kleiner Bruder?«
»Ich beuge mich vor dir«, sagte Mattim. »Und bitte dich, mich anzuhören. Allein.«
»Seine Kniefälle sind nichts als gymnastische Übungen«, höhnte Atschorek. »Wir nehmen sie beide mit, gefesselt.«
Der Prinz des Lichts sah Hanna nicht an. Sie ihn dagegen schon. Wie er dort neben Réka kniete und zu Kunun aufblickte, geduckt wie ein wildes Tier, bereit zum Sprung, Blutspuren im goldenen Haar. Halb erwartete sie, dass er jeden Moment hochfuhr, Kunun an die Kehle. Aber Mattim rührte sich nicht, und als Atschorek Hanna die Treppe hinunterführte, wusste das Mädchen nicht mehr, was geschah und was geschehen würde. Sie fühlte nur die Hände der Vampirin an ihrem Hals. Was war das da, ein Messer? Merkwürdig, dass sie dabei weder Angst noch Schmerz empfinden konnte, dass sie nichts mitnehmen konnte in die Dunkelheit, in die Atschorek sie geleitete, außer Mattims letztem Blick. Nur diesen Blick, das Einzige, was zu ihr durchdrang. Verzeih mir. Ich liebe dich, bitte, verzeih mir …
Hanna konnte nicht einmal weinen. Auch hatte sie keine Angst. Sie stand nur da und spürte ihren Körper wie etwas Seltsames, das nicht in diesen Traum hineingehörte, zitternd, mit pochendem Herzen. Er fühlte sich an wie etwas, das sich bleischwer um ihre Seele gelegt hatte und sie daran hinderte, dorthin zurückzukehren, wo sie sein wollte. Irgendwo an einem anderen Tag, fern von allem. Nur sie und Mattim. Nicht Kunun. Nicht Atschorek. Und nie, niemals Rékas kleine, weggeworfene Gestalt auf dem Teppich.
 
»Du hast dein Leben verwirkt«, sagte Kunun zu seinem Bruder. »Ebenso deinen Platz an meiner Seite. Und Hannas Leben. Hat sie dir nicht gesagt, was ich tun werde, wenn Réka nicht genügt?«
Mattim hielt den Blick aus, den Blick eines Lichtkönigs, fähig, alles zu verbrennen, was seinen Ansprüchen nicht gerecht wurde. »Réka konnte nicht genügen«, gab der Junge zurück. »Sie ist viel zu klein, sie konnte dir niemals genug Blut geben. Wir sind zu viele Schatten. Du brauchtest Hanna auf jeden Fall. Glaubst du, das wüsste ich nicht? Es war mir schon lange klar. Seit jenem Tag, als ich aus der Donau aufgetaucht bin. Dass sie beide sterben müssen, Hanna und Réka. Trotzdem habe ich nichts unternommen, um sie zu retten.« Wie bitter schmeckte die Wahrheit dieser Worte auf seiner Zunge. Selbst jetzt konnte er nicht lügen. Selbst jetzt war die Wahrheit wie ein tödlicher Trank, den er hinunterschlucken musste. Er hatte nicht versucht, Hanna aus der Stadt zu schicken. Er hätte Réka entführen und verschleppen können, gegen ihren Willen, um ihr Leben zu retten, und hatte es nicht getan. Alle seine Gedanken hatten sich um Akink gedreht, viel zu lange, um zu begreifen, was er längst hätte begreifen müssen. »Als du Hanna hast fesseln lassen, um mich zu prüfen - war dir da nicht klar, dass ich keine andere Wahl hatte, als sie zu befreien? Als sie frei war, wusstest du da nicht, dass ich ihr helfen musste, Réka zu retten? Als wir hier ankamen, war es da nicht meine Aufgabe, hier hereinzuplatzen und ein klein wenig zu spät zu kommen? Wenn Hanna nicht fest an meine Liebe glaubt, wird die ihre nicht stark genug sein können, um sich zu opfern. Was nützt uns ihr Blut, wenn sie zweifelt?«
Kunun starrte mit grimmiger Miene auf ihn herab. Doch Mattim hatte kein Herz, das heftig pochen konnte. Keine verräterische Röte stieg ihm ins Gesicht. Kein Zittern durchlief ihn. Er hielt stand. Und er sprach die Wahrheit aus, eine Wahrheit, so stark und unerschütterlich, dass sie sich wie ein Schutzmantel um die Lügen legte: »Ich will Akink. Ich muss zurück. Dieselbe Sehnsucht, die in dir brennt, ist auch in mir. Ich kann das nicht aufgeben, selbst wenn ich wollte.«
Plötzlich lächelte Kunun. »Mein Bruder«, sagte er. »Steh endlich auf. Du wirst mir also Hanna geben? Und alles andere auch?«
»Natürlich«, sagte Mattim und fühlte, wie der Blick der schwarzen Augen sich in seinen bohrte, ähnlich einer sengenden Flamme, die alles Unechte verbrannte. Er zögerte noch einen winzigen Moment, fast zu lange, dann sprach er es endlich aus. »Réka lebt.«
»Das hast du also bemerkt.« Kunun nickte. »Und du hast deine Entscheidung getroffen. Ich habe darauf gewartet, dass du versuchst, mir einen unverfänglichen Vorschlag zu machen. Etwa sie vor ihrem Elternhaus abzulegen. Oder irgendwo, wo man sie mit Sicherheit schnell findet. Aber das hast du nicht getan.«
»Nein«, sagte Mattim. »Das habe ich nicht.« Er atmete nicht. Fast wurde ihm schwindlig dabei. Denn genau das hatte er ursprünglich vorgehabt, seit er sich neben das Mädchen gekniet und dabei gemerkt hatte, dass es noch lebte. Wenn Kunun es nicht wusste! Wenn es ihm nur irgendwie gelang, sie zu retten! Selbst als er sein Wissen aussprach, war er nicht sicher gewesen, ob es nicht doch irgendwie möglich gewesen wäre, seinen Bruder zu einer Tat zu verleiten, die Rékas Leben retten konnte.
»Weil du wusstest, dass ich es wusste?«
»Sie muss sterben«, sagte Mattim leise, »allerdings nicht hier. Sondern in Magyria, am Fluss. Erst in dem Moment wird das Blut seine volle Wirkung entfalten.« Diesmal konnte er den Schattenprinzen nicht ansehen. Er drehte sich um und starrte auf das blasse, wie leblos daliegende Mädchen vor dem Kamin. Alles in ihm krampfte sich zusammen, und nur mit Mühe hielt er es aus, nichts zu tun. Sich nicht auf Kunun zu stürzen, schreiend, so laut, dass man ihn bis auf die Straße hören konnte. Die Gegenwart seines Bruders war eine Folter, der er nicht entkommen konnte. Er hielt still und wartete.
»Nimm sie hoch«, sagte Kunun. »Dann fahren wir jetzt zu meiner Pforte. Sag Hanna nichts. Lass sie ruhig in dem Glauben, dass alles verloren ist. Es stirbt sich leichter, wenn andere einem vorausgehen.«
Mattim bückte sich und hob Réka auf. Wie ein schlafendes Kind hing sie in seinen Armen, federleicht. Ihr Haar fiel zurück und entblößte ihr Gesicht, klein und hell wie ein erfrorener Engel.
 
Im Garten konnte man sehen, womit Mattim sich so lange aufgehalten hatte. Atschoreks Büsche waren zerdrückt, der Rasen zertrampelt. Die Schatten, die ihnen entgegenblickten, waren dermaßen zugerichtet, dass man Mitleid mit ihnen haben konnte. Kunun hob leicht die Brauen, sagte jedoch nichts.
»Du hättest auch einfach warten können«, meinte Atschorek säuerlich, als die beiden Brüder aufrecht und nebeneinander aus dem Haus kamen. Sie fragte nicht, womit Mattim Kunun von seiner Treue überzeugt hatte. »Sie wollten dir nur mitteilen, dass Kunun nicht gestört werden sollte. Musstest du denn unbedingt auf diese Weise durchs Fenster? Die schöne Jacke kannst du wegwerfen. Außerdem hast du einen Splitter am Hinterkopf. Du musst ja nicht unbedingt wie ein Toter durch die Gegend rennen!« Sie streckte die Hand aus und entfernte ein großes Stück Glas aus seinem Nacken.
»Dann fahren wir jetzt«, bestimmte der Ältere. »Kommt. Atschorek, hast du den anderen Schatten Bescheid gegeben?«
»Sie warten schon«, sagte die Vampirin. Sie warf einen Blick auf Rékas zerbrechliche Gestalt und verzog das Gesicht. »Du willst sie doch nicht etwa mitschleppen? Bis nach Magyria?«
»Natürlich«, erwiderte Kunun scharf. »Ich will mir die Möglichkeit offenlassen, jederzeit nach Budapest zurückzukehren, wann immer mir danach ist, ohne dass ich polizeilich gesucht werde.«
Atschorek nickte. Sie legte ihre Hand auf Hannas Schulter. »Dann komm. Komm, meine Liebe. Willst du es nicht sehen, das Land unter der ewigen Dämmerung, das Land, aus dem die Traumwölfe stammen?«
 
Kunun parkte direkt vor seinem Haus. Mattim war es egal, dass einige Passanten zu ihnen herüberstarrten. Wie ein krankes Kind, so trug er Réka. Ein schlafendes Kind, krank, als würde er sie nach Hause bringen. Unter den starrenden Löwen hindurch.
»Ist es dir egal, wann sie stirbt?«, fragte er. »Ansonsten würde ich ihr schnell eine Decke aus meiner Wohnung holen.«
Kunun runzelte die Stirn, dann nickte er. »Beeil dich«, sagte er knapp.
Wenig später erschien Mattim wieder; er hatte Réka in eine dicke Decke gehüllt und trug einen Rucksack. Neben seinem Bruder trat er in den Fahrstuhl.
In der kleinen, gläsernen Kabine war es eng. Kunun gab mit der linken Hand den Code ein. In der Rechten hielt er den Krug. Einen bemalten Tonkrug, den sich Touristen kaufen würden, um ihn stolz zu Hause als typisch ungarisch zu präsentieren. Dabei enthielt er die Vernichtung Akinks.
Die Höhle war erleuchtet. Jemand hatte die Öllampen angezündet und verteilt. So sahen sie beim Eintreten die große Menge der Schatten, die sich hier bereits versammelt hatten.
»Sie alle kannten den Code?«, fragte Mattim und bemühte sich, jegliche Bitterkeit aus seiner Stimme zu verdrängen.
»Jeder, dem ich trauen kann«, gab Kunun zurück. Er hob den Krug hoch, so dass alle ihn sehen konnten. »Szigethy-Blut für die Stadt«, sagte er. »Hier ist es.« Niemand jubelte oder schrie. Nur ein leises Raunen ging durch die Reihen. Fast war es wie ein Aufleuchten, ein Aufstrahlen in den Gesichtern. Akink! Wir gehen nach Akink!
Atschorek und Hanna kamen hinzu. Hanna sah immer noch aus wie eine Schlafwandlerin, und als sie Mattim mit Réka erblickte, starrte sie ihn an, als würde sie ihn gar nicht kennen.
»Leg sie endlich ab«, forderte Atschorek. »Das ist ja nicht auszuhalten.«
»Nein«, sagte Kunun sofort. »Wir nehmen sie mit an den Fluss. Du bleibst bei mir, Mattim. Und jetzt kommt.«
Der junge Prinz blickte sich nicht nach Hanna um. Wie musste es für sie sein, das erste Mal aus der Höhle herauszutreten und den Schnee zu sehen! Den Wald, dessen Wipfel sich in der Dämmerung verloren … und die Stille hier unten am Boden, eine abwartende, geheimnisvolle Stille, so wie Réka in seinen Armen still war … Mattim konnte nicht widerstehen. Einmal erhaschte er einen Blick auf Hannas Gesicht. Stumm schritt sie neben Atschorek einher. Ihre Augen waren groß und dunkel, und sie war so schön, dass er weinen wollte.
Wie die Patrouille marschierten sie durch den Wald, ein finsteres Heer. Die Gedanken wirbelten dem Jungen durch den Geist wie die Schneeflocken, die der eiskalte Wind ihnen ins Gesicht blies.
Kunun ging neben ihm, hochgewachsen, in seinem schwarzen Mantel, der über den Schnee schleifte. Sie liefen schweigend nebeneinander. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen. Zwischen den dunklen Baumstämmen schimmerte es weiß, nur weiß, endlos weiß. Doch dann begann vor ihnen ein schwaches Leuchten, der Glanz einer Stadt unter dem Nachthimmel, und sie traten aus dem Wald und hatten die Umrisse Akinks vor sich.
Da bückte Mattim sich, als ginge er dieses Mal vor der Stadt des Lichts in die Knie, und legte Réka behutsam in den Schnee. Er breitete seine Lederjacke aus und bettete sie darauf.
»Akink«, sagte Kunun. »Bald wird es uns gehören. Heute noch. Das ist meine Stadt!« Er wandte sich zu den Schatten um, lachend. »Meine Stadt! Trinkt, Freunde, trinkt! Trinkt vom Verderben unserer Feinde!«
Er reichte den Krug an die Schatten. Persönlich ging er von einem zum anderen und ließ einen jeden trinken, während die anderen schweigend dabeistanden. Dicke Flocken legten sich auf Réka; sanft wischte Mattim sie ihr aus dem Gesicht. Er wollte nicht mit ansehen, wie die Schatten ihr Blut tranken, und er blickte erst auf, als Kunun neben ihm stand.
»Es reicht nicht für alle. Nun wird sich zeigen, wer du bist«, sagte der Schattenprinz.
»Du weißt, wer ich bin«, gab Mattim zurück. »Bruder.« Er nahm den Krug entgegen und nickte seiner Freundin zu.
»Komm zu mir, Hanna«, sagte er. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie Kunun Atschorek zunickte. Daraufhin versetzte seine Schwester Hanna einen kleinen Stoß, der sie vorwärtsstolpern ließ, direkt auf ihn zu. Er streckte die Hände aus, griff nach ihr und legte die Arme um sie. Er spürte ihr Zittern, als seine Lippen ihre Stirn berührten.
»Komm«, sagte er. Dann lauter, an Kunun gewandt: »Dort vorne. Nur ein paar Schritte. Gib uns eine Weile. Wir müssen ungestört sein. Wir müssen allein sein.«
»Aber …«, begann Atschorek.
Kunun nickte seinem Bruder jedoch zu, und der führte Hanna am Ufer entlang durch den immer dichter fallenden Schnee.
Hannas Hand war kalt. Klein und kalt. Sie sagte nichts. Sie sah ihn nicht an. Bereitwillig ging sie neben ihm her, aber ihre Augen schwammen vor Tränen, die ersten Tropfen rannen ihr über die Wangen.
»Weine nicht«, sagte er leise. »Tu ihnen nicht den Gefallen. Es ist noch nicht vorüber.«
»Es ist nicht vorüber? Mattim, Réka ist tot!«
»Nein. Nein, Hanna, das ist sie nicht. Réka lebt«, sagte er und hielt ihre heftige Bewegung mit seinem festen Griff im Zaum. »Zeig ihnen nicht, worüber wir sprechen. Lass sie denken, dass ich gerade dabei bin, dich zu überreden. Mich von dir zu verabschieden. Réka lebt. Sie ist nur bewusstlos geworden, als sie auf einen Schlag so viel Blut verloren hat. Wir haben nicht viel Zeit. Das Mädchen kann jederzeit sterben. Sie kann sich allerdings immer noch erholen - wenn wir verhindern, dass Kunun sie tötet.«
Sie schaute ihn an, und in ihren Augen sah er die Hoffnung aufflammen, stark und mächtig, eine Hoffnung, die dazu fähig war, selbst den Tod zu besiegen.
»Liebste«, sagte er leise in ihr Ohr. »Kunun glaubt, dass ich auf seiner Seite stehe. Wenn er das lange genug annimmt, haben wir eine Chance. Dann und nur dann. Wir können ihn besiegen, wenn er bis zum Schluss glaubt, dass der Sieg ihm gehört. Aber dafür brauche ich dein Blut. Ich brauche dich und deinen ganzen Mut. Bist du bereit?«
In der Hand drehte er das kleine silberne Röhrchen. Jetzt erst merkte sie, dass es eine Kanüle war. Ihre Augen weiteten sich, doch sie nickte. »Ja«, flüsterte sie, »ja, Mattim, ich bin bereit.«
Der Prinz setzte sich in den Schnee und zog Hanna zu sich herunter. Er hielt sie im Arm, so wie Kunun Réka festgehalten hatte, eng und innig, dann küsste er sie auf die kalten Lippen.
»Du darfst nicht sterben«, flüsterte er. »Und Réka auch nicht. Ich sage dir nicht, rette dein Leben und lass Réka zurück. Ich wünschte, ich könnte es dir sagen, aber dazu kenne ich dich zu gut, du würdest es ohnehin nicht tun. Solange Hoffnung besteht … Heute sterben wir alle drei oder keiner von uns.«
Hanna starrte ihn an, immer noch ungläubig, als würde er eine fremde Sprache sprechen, die Sprache der Hoffnung. »Was hast du vor, Mattim?«
Er küsste sie sanft auf die Wange. »Ich werde nach Akink gehen. Dafür brauche ich dein Blut, vielleicht mehr, als ich jemals gebraucht habe. Ich benötige es, damit Kunun mir vertraut. Sollte ich mich irren und sollte das, was ich vorhabe, nicht gelingen, so gebe ich ihm damit den Schlüssel zu Akink in die Hände. Wenn der Fluss ihn hinüberlässt …«
Er nahm den Krug und füllte Schnee hinein. Erst eine Handvoll, dann eine zweite, dann noch eine und drückte die Masse fest.
»Ich gehe zu meinem Vater«, sagte Mattim. »Er ist der König des Lichts, es liegt in seinen Händen. Dies ist sein Krieg, und wenn die Sache gelingen soll, muss es sein Sieg werden. Ich muss sie beide überlisten, Kunun und meinen Vater. Ein Spiel, Hanna … Ich wüsste nicht, wann der Einsatz jemals so hoch gewesen wäre. Und nun muss ich dich setzen.«
Hanna starrte auf das spitze Ding in seiner Hand, scharf und furchteinflößend. »Das wirst du mir doch nicht ins Herz stoßen?«
»Wir müssen nur so tun als ob. Durch das Schneetreiben können sie uns nicht gut erkennen.« Er küsste sie auf die Stirn. »Gib mir deinen Arm. Ich werde diese Ader hier nehmen, die man gut sehen kann … Der Krug muss voll wirken. Ich habe schon ein wenig Schnee hineingetan, aber er muss randvoll sein. Tut es weh?«
»Ich habe gar nichts gemerkt.« Sie schaute nur Mattim an. Sie wollte nicht beobachten, wie ihr Blut in den Krug floss. »Soll ich tun, als wäre ich tot? Ich weiß nicht, wie lange ich es aushalten kann, im Schnee zu liegen.«
»Nur eine kleine Weile. Danach läufst du mit Réka zurück zur Höhle. Denk daran, zurück zur Höhle.«
Sie nickte. »Ja.«
»Bist du bereit?«
Er küsste sie. Vielleicht ist dies das Ende, dachte er. Vielleicht geschieht jetzt alles zum letzten Mal. Der letzte Kuss. Das letzte Mal, dass ich Hanna in den Armen halte. Dass ich sie in den Schnee lege, hier am Ufer des Donua. Dass ich zurück zu Kunun und Atschorek gehe, den gefüllten Krug in den Händen, und vor ihren Augen daraus trinke.
 
Kunun tauchte den Finger in die dunkel schimmernde Flüssigkeit.
»Ja«, bestätigte er, »das ist Hannas Blut. Würzig und sommerlich, Licht und Leben, das uns hinübertragen wird.«
»Ach, Mattim«, sagte Atschorek und legte ihm die Hand auf die Schulter, »wie leid mir das tut.«
»Bring sie her«, befahl Kunun. »Leg sie dort neben Réka. Wir werden sie beide zusammen töten.«
Mattim seufzte. Dann ging er zurück zu seiner Freundin, die reglos im Schnee lag, und hob sie auf, so wie er zuvor Réka getragen hatte, und brachte sie zurück zu ihren Feinden, durch die wirbelnden Schneeflocken.
»Ich fühle mich so schwach«, flüsterte Hanna, den Kopf an seine Brust gelehnt.
»Ich muss jetzt gehen. Sofort. Ich lege dich gleich neben Réka. Sie werden bald merken, dass der Krug nicht voll ist. Bevor es so weit ist, musst du Réka nehmen und loslaufen. Sie ist ganz leicht. Du musst fliehen, so schnell du kannst. Versprich mir das. Lass nicht zu, dass sie dich fassen. Der Schnee wird deine Spuren zudecken. Wirst du das schaffen?«
»Geh«, flüsterte sie. »Geh nur, Mattim, ich liebe dich.«
Wie eine Tote sah sie aus, als er sie neben Réka in den Schnee bettete. Sie hielt die Augen geschlossen, und Schneeflocken legten sich auf ihre Wimpern. Es war unmöglich, es zu tun. Die beiden Mädchen hierzulassen, bei den Schatten, einfach zu gehen, und darauf zu vertrauen, dass Hanna die nahezu unmögliche Flucht gelang … Aber er hatte keine andere Wahl, als sich loszureißen und zwischen den Schatten zu verschwinden, hinweg aus Kununs Sicht, und dann rückwärts, einen Schritt nach dem anderen, von der Menge fort …
Erst als er weit genug entfernt war, wandte er sich dem Fluss zu. Am Ufer streifte er seine Schuhe ab und spuckte das Blut, das er noch im Mund behalten hatte, auf seine Hände. Damit rieb er sich die Fußsohlen ein. Vorsichtshalber; vielleicht hielt der Schutz so ein klein wenig länger. Dann öffnete er den Rucksack und holte die Schlittschuhe heraus. Rasch zog er sie an.
Der erste Schritt aufs Eis. Erschauernd. Instinktiv erwartete Mattim, dass das Licht seine glühenden Hände nach ihm ausstreckte. Aber der Fluss duldete ihn, das Eis trug. Er horchte auf die leisen Stimmen der Schatten weiter unten am Ufer. Noch hatten sie den Betrug nicht entdeckt. Noch war Hanna nicht geflohen. Noch hatte die Suche nach ihr nicht begonnen. Er atmete tief ein und begann zu laufen.
Magyria 01 - Das Herz des Schattens
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