FÜNFUNDZWANZIG
BUDAPEST, UNGARN
Mattim war so beschwingt, dass er ohne zu klingeln
und darauf zu warten, ob ihm ein Vampir öffnete, einfach durch die
geschlossene Tür hindurchging, wo er in der Eingangshalle gleich
als Erstes auf Kunun traf.
»Ich habe auf dich gewartet«, fuhr ihn sein Bruder
an. »Wo treibst du dich herum?«
»Müssen kleine Schatten etwa schon um acht im Bett
sein?«, konterte Mattim ein wenig zu gut gelaunt.
Kunun hob die Hand. Mattim duckte sich
unwillkürlich, doch der Ältere schlug nicht zu. Er musterte sein
Gegenüber mit seinen schwarzen Augen, mit denen er jeden in die
Knie zwang. Mattim musste schlucken.
»Du bist eben durch die Tür gegangen? Wer hat dir
das beigebracht?«
»Niemand, ich habe es einfach ausprobiert.«
War das die falsche Antwort? Kunun runzelte die
Stirn. »Es ist ganz leicht«, sagte Mattim schnell. »Das ist es
doch, was wir Schatten tun.«
»Leicht?«, fragte Kunun. »Mattim, es ist alles
andere als leicht. Die meisten Schatten müssen monatelang üben.
Andere kriegen es nie hin. Sie sind noch viel zu sehr ihrem alten
Leben verhaftet, als dass sie so vollständig und mühelos mit der
Dunkelheit verschmelzen könnten. Wie lange übst du das
schon?«
Drohend ragte Kunun vor ihm auf, streng wie ein
Feldherr über einem Deserteur. Mattim lief ein Schauder über den
Rücken, nicht, weil er sich vor seinem Bruder fürchtete,
sondern weil ihn dessen Worte mehr trafen, als es ein Schlag hätte
tun können.
»Mit der Dunkelheit verschmelzen? Ich hab doch nur
… Es ist wirklich ganz leicht. Warum sollte es schwer sein? Was
heißt das?« Es konnte unmöglich bedeuten, dass er dunkler war als
die anderen Schatten, so finster und lichtlos wie Kunun. Hanna
hatte versprochen, das nicht zuzulassen, ihn davor zu bewahren. An
sie hatte er gedacht, als er das Tor und die Wand durchschritten
hatte, nur an sie!
»Wenn es so leicht wäre«, meinte Kunun, »dann wäre
es für unsereins unmöglich, geradeaus über eine Straße zu gehen,
ohne ständig im Asphalt oder in einer Hauswand zu versinken und zu
verschwinden. Stell dir das mal vor!« Er lächelte, was selten
vorkam, zumal ohne den Versuch, jemanden damit zu beeindrucken. Ein
fröhliches Grinsen, das ihn heiter und jung aussehen ließ. »Du
würdest durch kein Zimmer mehr kommen. Sobald jemand hinter dir
eine Lampe anknipst, fällst du in deinen eigenen Schatten und bist
weg!«
Mattim musste lachen.
»Wenn es dunkel ist, wäre man sowieso weg.«
»Ganz recht«, sagte Kunun, nun wieder ernst. »Wie
ein Schatten, geworfen vom Licht, Spielball jeder Bewegung des
Lichts. Vom Licht beherrscht und von der Dunkelheit eingenommen …
Es bedarf extrem großer Konzentration und Willenskraft, um ins
Dunkel abzutauchen, ohne sich darin zu verlieren. Um ein wahrer
Schatten zu sein, mächtiger als das Licht. Das ist sehr gefährlich,
wenn man es nicht vollkommen beherrscht. Es ist nichts, womit man
spielen darf. Es ist nichts, was du hier in Budapest tun
solltest.«
»Aber …«
»Was, wenn dich jemand gesehen hätte? Wenn jemand
beobachtet hätte, wie du in dieses Haus verschwunden bist? Willst
du, dass sie mit dem Finger auf diese Tür zeigen?
Willst du, dass irgendeiner von den dummen Tölpeln da draußen
mitbekommt, wer wir sind und was wir vermögen? Willst du, dass sie
uns jagen, so, wie sie alles jagen, was sie nicht verstehen? Ich
bin der Jäger, und ich habe nicht vor, zum Gejagten zu werden. Ah,
ich sehe das Aber auf deinen Lippen, immer noch, ein großes,
verräterisches Aber. Wenn niemand dich sieht? Wenn du dir sicher
bist, dass es keiner merkt? Du hast keine Ahnung, wie viele Kameras
es in dieser Stadt gibt. Die Dinger hängen überall. Selbst wenn
keine da sind, solltest du nicht auf eigene Faust etwas derart
Gefährliches tun. Du weißt nie, was auf der anderen Seite lauert,
wenn du durch eine Wand gehst. Also halte dich daran. Verdammt, tu
einfach das, was ich dir sage!«
»Du sagst mir viel zu wenig!«, protestierte Mattim.
»Ich hatte ja keine Ahnung … Nie erklärst du mir irgendetwas, was
mir hilft, mich als Schatten zurechtzufinden und keine Fehler zu
machen.« Ihm wurde heiß und kalt bei dem Gedanken an die Kamera,
die bei den Szigethys in der Einfahrt angebracht war. Wie dumm er
gewesen war!
»Ich glaube, es reicht, was ich dir sage. Wenn du
nur endlich einmal damit anfangen könntest, mir zu
gehorchen!«
»Tu ich doch«, knurrte Mattim und zwang sich, bei
diesen Worten möglichst ergeben dreinzuschauen.
»Dabei ist eine solche Wut in dir, dass du mich am
liebsten anfallen würdest«, sagte Kunun und lachte ihn leise aus.
»Mattim, das hier ist kein Spiel. Wir befinden uns im Krieg. Und
ich werde nicht zulassen, dass irgendeiner meiner Schatten aus der
Reihe tanzt. Wenn wir den Angriff auf Akink starten, wirst du
entweder mein loyaler Gefolgsmann sein, oder ich werde mir etwas
für dich ausdenken, was dir ganz und gar nicht gefallen
wird.«
Den Angriff starten? Das Entsetzen schlug in ihn
ein wie ein Blitz. Mattim stand da wie gelähmt, doch sein Körper
reagierte ohne sein Zutun auf die Bedrohung. Er zog die Oberlippe
hoch und knurrte.
Kunun schlug ihm kameradschaftlich auf die Schulter
und lachte. »Der Wolf in dir ist stark«, sagte er. »Er ist schon
ganz nah … Ich kann geradezu spüren, wie er mir aus deinen Augen
entgegenspringt. Der Schattenwolf. Wie wird er wohl aussehen, was
meinst du? Golden wie dein Haar? Ein Wolf, glänzend und tödlich wie
ein Blitzstrahl? Er ist da, auch wenn du es noch nicht weißt. Oh,
Mattim, ich bin sicher, wir werden Seite an Seite miteinander
kämpfen!«
Der Jüngere hörte gebannt zu und wollte gegen jedes
Wort protestieren, gegen die Bilder, die ungerufen zu ihm kamen.
Der Wald von Magyria. Die mächtigen Bäume, die ihre Wipfel in den
Himmel streckten, als wollten sie mit ihren knorrigen Händen den
Mond erreichen. Das intensive, dunkle Blau über ihnen, tiefer und
reiner als jedes Wasser. Dazu eine Süße in der Luft, eine Fülle an
Gerüchen. Wald. Wald und Beute …
Und Akink. Sein herrliches Akink hinter dem Fluss,
lichtdurchpulst, alt, eine Stätte der Geborgenheit. Niemand durfte
Akink angreifen. Er musste die Menschen warnen! Irgendwie musste er
den König benachrichtigen.
»Lass mich durch die Pforte im Keller gehen«,
flüsterte er. »Lass mich nach Magyria.«
»Schlag dir das aus dem Kopf«, sagte Kunun schroff.
»Dachtest du, du könntest mich auf der Jagd auch nur einen
Augenblick täuschen? Schande über dich, dass du es überhaupt
versucht hast!«
»Ich wollte, dass du mich auch einmal lobst«,
erwiderte Mattim kläglich und wunderte sich zugleich über die
dreiste Lüge und wie überzeugend er sie vorbrachte und nicht
zuletzt darüber, dass er es schon wieder tat, genau dasselbe, was
Kunun ihm gerade vorwarf.
»Du bist noch nicht so weit.«
Mattim widersprach nicht. Was für ein seltsamer
Kampf
war dies, den Gegner zu besiegen, indem man das Schwert vor ihm
niederlegte.
Oben in seinem Zimmer warf Mattim sich aufs Bett.
Sein Körper war nicht müde, aber sein Geist wollte träumen. Wenn er
die Augen schloss, kehrte er in den Wald zurück, wo die Wölfe auf
ihn warteten. Jenseits des Flusses erhob sich Akink, über den still
daliegenden Türmen und Kuppeln ein Strahlen wie der Hof des Mondes.
Licht glitzerte auf den Wellen des Donua.
Aber süßer und verlockender als dieser Traum war
der Gedanke an Hanna. Nichts konnte schöner sein als das. Sich an
jedes einzelne Wort zu erinnern, an jede ihrer Gesten, an ihre
Blicke, ihre Küsse, ihre Berührungen …
Wenn wir den Angriff auf Akink
starten.
Mattim wollte nicht darüber nachdenken. Träumen
wollte er, von einer Zeit mit Hanna, von einem Leben mit ihr,
während ihn alles andere nichts mehr anging.
Doch Kunun hatte von einem Angriff gesprochen, und
es war immer noch Mattims Pflicht, Akink zu retten. Wenn er nur
gewusst hätte, wie! Wenn er nur gewusst hätte, was Kunun plante.
Dein Bruder glaubt, er wird immer siegen, hatte Hanna
gesagt. Was brachte Kunun dazu, jetzt an einen Angriff zu denken?
Ausgerechnet jetzt, obwohl er seit hundert Jahren damit zufrieden
gewesen war, sein Unwesen in Magyria zu treiben? Hatte er
inzwischen genug Schatten um sich geschart, um einen Angriff auf
die Stadt des Lichtkönigs zu wagen? Nur wie wollte er über die
Brücke gelangen?
Mattim seufzte. So kam er nicht weiter.
Langsam zog er den Brief aus der Tasche und
betrachtete das nichtssagende Weiß. Hell und leer, und obwohl Hanna
gesagt hatte, sie hätte bloß etwas für ihn gebastelt, fürchtete er
sich, denn das hier hatte sie gemacht, bevor er gekommen und sich
entschuldigt hatte.
Das Papier knisterte leise, während er den Umschlag
befühlte. Du belügst Kunun und traust dich nicht, einen Brief
von Hanna zu öffnen, von deiner Hanna?
Mattim riss den Umschlag auf. Sehr laut kam ihm das
Geräusch in seiner stillen Wohnung vor, scharf, wie etwas, das
Hundertschaften auf den Plan rufen konnte. Und noch viel mehr
verdiente das, was er herauszog, das Eingreifen der anderen
Schatten, Kunun mit einem Schwert wild schreiend an der Spitze
…
Es war ein Band, geflochten aus einer weißen
Schnur, in der er nach kurzem Nachdenken seinen verschwundenen
Schnürsenkel erkannte, und einer Strähne von Hannas langem,
schimmerndem Haar. Daran war, wie ein Anhänger, ein herzförmiges
Stück dickes goldenes Papier befestigt, auf dem nichts als eine
Zahl stand.
1502.
Der Code.
Erst als Mattim aus dem Fahrstuhl stieg, wurde ihm
bewusst, dass es jemandem auffallen konnte, wenn er ganz nach unten
fuhr. Deshalb drückte er schnell noch auf einen der oberen Knöpfe,
um den Fahrstuhl wieder nach oben zu schicken, und wandte sich dann
dem Durchgang zwischen den beiden Kellerräumen zu. Er machte kein
Licht. Der kleine Rest Helligkeit, der durch den Schacht bis nach
hier unten fiel, zeigte ihm schemenhaft die Gestelle an den Wänden.
Wie im Gewölbe in Akink, alles bereit für ein Gelage … Doch es war
ihm unmöglich, sich Kunun betrunken und singend vorzustellen.
Mattims Sinne waren bis aufs Äußerste gespannt und
bereit, selbst auf das kleinste Geräusch, auf den leisesten
Windhauch zu reagieren. Ihm war, als müsste er spüren, dass Magyria
so nah war, nur wenige Schritte von ihm entfernt, aber da war nur
der Geruch von Staub und feuchtem Stein.
Er ging unter dem Türbogen hindurch und befand sich
im nächsten Kellerraum. Er musste es nicht sehen, um es zu wissen.
Dort standen mehrere große Öllampen - und der Käfig, den Atschorek
den Flusshütern gestohlen hatte, die Falle, in der sie ihn gefangen
hatte. Ein Schauder lief ihm über den Rücken, er mochte nicht in
einem Raum damit sein. Schnell wandte Mattim sich wieder um. Was
hatte Kunun über das Eintauchen in den Schatten gesagt? Es darf
nicht leicht sein. Willensstärke braucht man und Konzentration
…
Es musste möglich sein, diese Öffnung zu
durchschreiten, ohne nach Magyria zu gelangen. Sonst hätte Kunun
niemals an seine Vorräte auf der anderen Seite herankommen können.
Nein, irgendein bewusster Willensakt war nötig.
Konzentriert richtete Mattim den Blick auf die
Leere zwischen den Mauern und stellte sich vor, dass dahinter die
Höhle war. Viel dunkler als der im Dämmerlicht halb sichtbare
Keller. Eine Dunkelheit, greifbar, fühlbar, schwärzer als ein
Schatten. Magyria. Denk an Magyria, an Akink, an den Wald, an
alles, wonach du dich sehnst … Du musst sie warnen, du musst
…
Diesmal reichte ein Schritt. Ein Schritt, und die
Dunkelheit schlug über ihm zusammen, als wäre er in den Fluss
gesprungen. Eine Nacht, so tief und dicht, als könnte man sie
fühlen und greifen und schmecken. Nach Stein roch sie, nach uraltem
Gestein … und immer noch lag ein Hauch des strengen Raubtiergeruchs
in der Luft, des Wolfes, der hier gewesen war, um ihn zu beißen.
Wilder, schön und rot wie ein Fuchs und doch genauso erbarmungslos
wie Atschorek.
Er wandte sich erneut um. Dort lag die Schwelle zu
der anderen Welt, ein einziger Schritt, und er würde wieder dort
sein. Mit der Hand berührte er den Fels, die rauen Vorsprünge,
suchte nach einem Zeichen, das er sich merken
konnte, um die Stelle wiederzufinden. Eigentlich hatte er, als er
mit Hanna über die Pforte gesprochen hatte, nicht vorgehabt, die
Höhle zu verlassen. Bloß herauszufinden, wie er hierhergelangen
konnte, darum war es ihm gegangen, und er hatte auf eine Eingebung
gehofft, wie sich eine Pforte, die weder Klinke noch Riegel oder
Schloss besaß, für immer schließen ließ.
Nun ging es allerdings um viel mehr. Er musste
irgendjemandem Bescheid geben, einen Flusshüter finden, der die
Nachricht überbrachte. Für einen kurzen Moment musste er den Schutz
der Höhle verlassen. Nur ganz kurz, damit er zurück war, bevor
Kunun merkte, was er getan hatte. Lediglich die Warnung
weitergeben. Einen Augenblick lang das Gefühl genießen, zu Hause zu
sein, sich nur einmal daran erinnern, wofür er kämpfte und wofür er
ständig stark sein musste.
Mattim tastete sich aus der Höhle heraus. Ein
merkwürdiges Licht wies ihm den Ausgang, er wunderte sich, doch da
stand er auch schon draußen im Schnee. Über den kahlen Bäumen hing
ein dunkler, wolkenschwerer Himmel, gegen den das Weiß auf dem
Boden tapfer anleuchtete, eine unberührte Schicht, weich und
verlockend wie die Decke über einer schönen Frau. Vorsichtig setzte
er die Füße hinein. In Budapest war der Schnee nass und schmutzig,
nichts als graue Haufen am Straßenrand, hier dagegen war der Winter
auf eine Weise feierlich, die ihn zutiefst berührte. Er hatte noch
nie so viel Schnee auf einmal gesehen. Die Winter, die er bisher
erlebt hatte, waren alle mild gewesen, warm und glänzend wie der
Herbst davor und der Frühling danach.
Im Herbst fielen die bunten Blätter, Schauer in
Rot, Gelb und Grün regneten überall im Wald herab. Im Winter
glitzerte das Licht durch die kahlen Äste. Nachts brannte ein
Feuerwerk von Sternen am Himmel, sodass es nie völlig dunkel war.
Manchmal fiel sanfter Regen, selten fegte
ein Sturm über Akink hinweg. Hin und wieder schneite es sogar, und
winzige Schneeflöckchen wirbelten durch den Himmel und
überzuckerten die Welt. Diese Unmengen an Schnee waren Mattim
fremd, und er bedauerte es sehr, dass er gerade jetzt in Budapest
leben musste. Es knirschte unter seinen Schuhen, während er ging.
Er spürte, wie seine Füße kalt und nass wurden und sehnte sich nach
seinen robusten Stiefeln, die irgendwo in seinem Zimmer in Akink
standen. Sofern seine Eltern, fiel ihm siedendheiß ein, nicht alle
seine Sachen vernichtet hatten. Wenn er ihnen doch nur hätte sagen
können, dass er kein blutrünstiges Ungeheuer war, dass er lange
nicht so war wie Kunun, dass er immer noch bereit war, alles für
Akink zu geben!
Ein merkwürdiges Geräusch ließ ihn innehalten, ein
Laut, der die Stille zerriss, ein Schlagen und Krachen und etwas,
das wie ein Wimmern klang. Der Wind trug ihm die Witterung zu. Ein
Wolf! Der Prinz hastete vorwärts, ohne jede Vorsicht zu vergessen.
Das konnte nur eins bedeuten, und er durfte nicht zu spät kommen,
durfte nicht zulassen, dass die Flusshüter ihn fanden …
Der Käfig. Dort stand er, unter einem Gebüsch, das
den Schnee auf den Zweigen trug wie eine überbordende Blütenpracht
im Frühling. Sie mussten einen der anderen Käfige in die Nähe der
Höhlen gebracht haben. Ein kleiner grauer, struppiger Wolf war
darin gefangen. Immer wieder warf er sich gegen die Gitterstäbe.
Wie ein menschliches Schluchzen klangen die Laute, die er dabei von
sich gab. Als er Mattim sah, hob er hoffnungsvoll den Kopf und
winselte herzzerreißend. Seine goldgelben Augen waren wie zwei
Monde auf den Jungen gerichtet.
»Palig?« Mattim versuchte mit beiden Händen, die
Klappe hochzuschieben. »Was machst du denn hier? Gerade du hättest
es besser wissen müssen!«
Der Wolf funkelte ihn an. Noch nie, schien es
Mattim,
hatte er ein so wildes, lebendiges Wesen gesehen, erfüllt von so
viel Atem, Wärme und Herrlichkeit. Auf den ersten Blick war es ein
zerzaustes, schmutziges Bündel, auf den zweiten geballte
Willenskraft.
»Kein Jagdglück gehabt? Du dachtest wohl, du
könntest dir die Beute holen und den Mechanismus austricksen, wie?
Was war es? Ein Kaninchen? Eine Ente?«
Erwartungsvoll und zugleich beschämt starrte der
Wolf ihn an.
»Das muss irgendwie eingefroren sein … Es lässt
sich nicht bewegen, verdammt!«
Der Prinz kniete sich neben den Käfig und streckte
eine Hand durch die Stäbe. »Mein Freund, wir müssen uns etwas
einfallen lassen. Ich habe leider keine übermenschlichen Kräfte.
Wenn wir das Eis hier wegtauen könnten … Ich bräuchte eine Fackel.
Könnte ich der Patrouille doch bloß eine rauben … Aber wenn sie
kommt, sieht es böse für uns aus, für uns beide. Still!« Er
horchte.
Im winterlichen Wald trug jeder Laut weit. Die
Flusshüter waren schon unterwegs, um die Fallen zu überprüfen. Er
hatte nicht die Zeit, um zur Höhle zu laufen, nach Budapest
zurückzukehren und mit irgendeinem praktischen Zaubergerät
wiederzukommen.
Aber er konnte seinen ehemaligen Kameraden nicht im
Stich lassen. Wut stieg in ihm auf, dass Palig so dumm gewesen war,
sich fangen zu lassen, jedoch auch auf sich selbst, dass er jetzt
hier war und nichts tun konnte, obwohl er etwas tun musste. Die
Nachtwächter kamen heran, in einer großen Gruppe, und welche Wahl
hatte er, als sich ihnen zu stellen, als ihnen zu erklären, wer
dieser Wolf war und warum sie ihn freilassen mussten? Er würde
ihnen befehlen, Palig nicht zu töten und ihn ebenfalls zu
verschonen, und sie gleichzeitig vor Kununs Angriff warnen.
Vermutlich würden sie Palig trotzdem töten. Und ihre Pfeile auf ihn
selbst abschießen. Ihm nicht zuhören. Mit allen Flusshütern auf
einmal zu reden, würde gar nichts bringen, sie würden nur umso
erbitterter auf ihn losgehen.
»Du dummer Junge«, flüsterte Mattim. »Du bist ein
solcher Idiot.« In diesem Moment wusste er nicht, ob er den Wolf
oder sich selbst meinte. Die Flusshüter würden ihn jagen, ihn daran
hindern, in die Höhle zurückzukehren. So würde es ihm nie gelingen,
Kununs Vertrauen zu gewinnen. Der Kampf um Akink wäre verloren -
und das alles wegen eines Wolfs, der geglaubt hatte, er könnte in
den Käfig hineinfliegen, sich seine Mahlzeit schnappen und wieder
herausfliegen, ohne die Falle auszulösen.
Alles in ihm krampfte sich zusammen und dennoch
konnte er nicht fliehen. Das Licht ist für die Unschuldigen da
… Was wog mehr - die Warnung weiterzugeben oder einen
strohdummen Wolf zu retten? Dort hinten kamen sie schon, die
Lichter ihrer Fackeln tanzten durch die Nacht, ihre leisen Stimmen
trugen den Klang von unterdrücktem Gelächter mit sich. So düster
die Aussichten auch waren, die Nachtwache würde sich immer
scherzend in den Kampf stürzen. Der Schmerz, dass er nicht mehr zu
ihnen gehörte, packte Mattim und drückte ihn hinunter, dicht neben
den Käfig, als könnte er der Qual entkommen, indem er sich dort
verkroch, zwischen den Gitterstäben, sich hindurchdrängte, mit dem
Schatten verschmolz …
Es gab hier keinen Schatten außer ihm. Die
Dunkelheit des Waldes hätte vielleicht genügt, um verschwinden zu
können, aber der Schnee schimmerte zu hell. Unmöglich, in den Käfig
zu gelangen. Es sei denn …
Die Patrouille. Mit ihren Fackeln. Er musste nur
warten, bis sie dicht herangekommen waren und das Licht der Fackeln
einen schwarzen Schatten auf den Käfig warf. Falls sie sich von der
Seite näherten, würde der Busch für den nötigen Schatten sorgen,
falls sie jedoch von vorne kamen …
»Hab keine Angst, Palig«, flüsterte er. »Bleib
ruhig. Ich hol dich da raus.«
Natürlich kamen sie von vorne. Mattim blieb neben
dem Käfig unter dem Gebüsch sitzen und wartete halb bang und halb
sehnsüchtig auf die Fackelträger.
»Da ist einer! Ein Wolf! Wir haben einen!«
Er erkannte die Stimme sofort.
»Na endlich! Es wurde aber auch Zeit. - Passt auf,
da sind Spuren im Schnee, hier ist …«
Der Schein der vordersten Fackel fiel auf den
Käfig. Geduckt sprang Mattim nach vorne, ließ sich in seinen
eigenen Schatten durchs Gitter fallen, packte Palig mit beiden
Armen und stürzte durch den Schatten am hinteren Ende des Käfigs
wieder hinaus. Dort ließ er den Wolf los, der wie ein grauer Blitz
davonschoss.
Der Prinz rappelte sich auf, sah durch die doppelte
Wand der Stäbe noch ein paar Gesichter und lief ebenfalls los, so
schnell er konnte. Er rannte nicht weit, sondern blieb hinter einem
dicken Baumstamm stehen. Das Gesicht an die raue Rinde gelehnt,
horchte er auf die Rufe der Flusshüter.
»Was war das? Habt ihr das gesehen? Das darf doch
nicht wahr sein!«
»Das war Mattim. Ich bin mir ganz sicher, Mattim
war’s.«
»Den Namen gibt es nicht mehr, schon vergessen? Ein
Schatten, ein elender Schatten! Wo mag er hin sein?«
»Wir müssen bloß den Spuren folgen.«
»Das ist nicht dein Ernst. Du willst einem Schatten
folgen, der dich jederzeit aus dem Gebüsch anfallen kann?«
»Seid doch mal still!« Miritas Stimme, scharf und
ungeduldig. »Die Falle ist leer. Lasst uns die Runde
beenden.«
Wer war hier der Anführer, dass er sich das
gefallen ließ? Jedenfalls setzten die Hüter ihren Marsch durch den
Wald fort, ohne die Verfolgung aufzunehmen. Mattim war froh
darüber, auch wenn er es immer leichter fand, in den Schatten
hinein zu verschwinden, und sich wenig Sorgen darüber
machte, dass sie ihn erwischten. Einen Moment lang hatte er
gedacht, er würde einfach laut rufen. So laut er konnte: Kunun
plant einen Angriff! Rüstet die Stadt! Macht euch bereit!
Aber sie würden ihm nicht glauben. Was noch
schlimmer war: Falls Kunun und die Schattenwölfe in nächster Zeit
irgendeinen der Wächter erwischten, würde er Mattim verraten. Dann
hatte er zwar die Warnung weitergegeben, sich selbst jedoch jeder
Möglichkeit beraubt, den Angriff zu verhindern.
Nein, er musste mit einem Flusshüter allein reden,
mit einem, der ihm zuhören würde. Mirita. Bei dem Gedanken an sie
krampfte sich alles in ihm zusammen. Zweimal hatte sie ihn
verraten, einmal an seine Eltern, einmal an die Flusshüter auf
Schattenjagd. Es sprach alles dafür, dass sie ihn auch zum dritten
Mal verraten würde und er diese Nacht damit verbringen musste,
durch den Wald zu fliehen. Und dennoch … Das bittere Gefühl, von
seiner besten Freundin verraten worden zu sein, machte es ihm fast
unmöglich, sich die Frage zu stellen, warum sie es getan
hatte.
Für Akink.
Wenn er ihr klarmachen konnte, dass er wichtige
Informationen mitgebracht hatte, würde sie ihm vielleicht sogar
zuhören - falls er es schaffte, sie zu überzeugen, bevor sie sich
dazu entschloss, die anderen Hüter auf ihn zu hetzen. Außerdem
würde sie noch am ehesten Gehör bei seinen Eltern finden.
In sicherer Entfernung folgte Mattim den Fackeln
und den Stimmen, holte aber nach und nach auf. Er huschte von Baum
zu Baum. Das flackernde Licht warf genug Schatten, in dem er sich
verbergen konnte. Immer näher arbeitete er sich an die Truppe
heran. Ja, da ging Mirita. Ganz hinten. Ständig blickte sie sich
um. Fürchtete sie etwa, er könnte sie anspringen, beißen und in
einen Wolf verwandeln?
Er musste sie dazu bringen, noch weiter
zurückzubleiben,
auf ihn zu warten … Das vereinbarte Zeichen, natürlich! Der Ruf
eines Turuls. Sie hätten besser einen Ruf für die Nacht verabreden
sollen, den Schrei einer Eule, allerdings würde es nichts bringen,
verschiedene Tierstimmen erklingen zu lassen, wenn Mirita sie nicht
als Zeichen erkannte.
Der Turul krächzte. Unzufrieden klang es, als hätte
ihn jemand beim Schlafen gestört.
»Habt ihr das gehört?«, fragte einer der Wächter.
»Wie unheimlich!«
Mirita drehte sich nicht einmal um. Vielleicht
hatte es zu echt geklungen, womöglich glaubte sie wirklich, sie
hätten mit ihren Fackeln einen Turul aufgeschreckt?
Mattim folgte dem Trupp weiter, zunehmend
verzweifelt. Gerade als er sich überlegte, ob er noch einmal rufen
sollte, kniete Mirita sich nieder, um sich die Stiefel fester zu
schnüren. Sie hätte die anderen bitten müssen, auf sie zu warten,
aber sie blickte der Patrouille hinterher, ohne etwas zu
unternehmen. Sie starrte noch immer auf den flackernden
Lichterschein, als er aus der Deckung trat.
»Mirita«, flüsterte er.
»Was willst du?« Langsam stand sie auf.
Nun, hätte er am liebsten gefragt, kein Pfeil
diesmal? Und wann fängst du an, vor Angst und Entsetzen zu
kreischen? Oder überlegst du gerade, wie du mich am besten in die
Falle lockst?
Mattim schluckte seine Wut hinunter, es gelang ihm,
ruhig und gefasst dazustehen, reglos wie der Schatten eines Baumes.
»Hatten wir es nicht so abgemacht?«, fragte er zurück. »Dass ich
komme und dir sage, was ich herausgefunden habe?«
»Und? Was hast du zu berichten?« Er hörte die
Abwehr aus ihrer Stimme heraus. Mirita hob die Hand, als er einen
Schritt auf sie zukam. »Hat es sich - gelohnt?«
»Kunun wird Akink angreifen«, sagte der Prinz und
fühlte
sich unendlich erleichtert, als er es endlich ausgesprochen
hatte.
»Wann?«
»Keine Ahnung. Leider weiß ich nicht, wann, und ich
weiß auch nicht, mit wie vielen Schatten er kommen wird. Ich kann
dir nicht einmal sagen, wie er den Fluss überwinden will.«
»Das ist recht wenig.«
Gleich wird sie die anderen rufen. Gleich wird
das Geschrei losgehen. »Ich weiß. Ich tue, was ich kann, aber
Kunun gibt so wenig preis. Es wird deutlich länger dauern, als ich
dachte, sein Vertrauen zu gewinnen. - Bitte, Mirita, sag es dem
König. Ihr müsst die Brückenwache verstärken. Ihr müsst alle
Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Sobald ich den Zeitpunkt erfahre,
werde ich ihn euch mitteilen.«
Sie stand steif da, eine einsame Gestalt im dunklen
Wald, und sagte nichts. Bedankte sich nicht für die Warnung, lobte
ihn nicht, sie entschuldigte sich nicht mal dafür, dass sie beim
letzten Mal die Wächter auf ihn gehetzt hatte. Hatte er wirklich
gehofft, sie würde ihn um Verzeihung bitten und versuchen, ihr
Handeln zu erklären? Dieses Mädchen hier war längst nicht mehr
seine Freundin, war eine Fremde, die zufällig dasselbe Ziel
verfolgte wie er: alles für Akink.
»Bitte«, drängte er. »Bitte, Mirita. Lass es nicht
umsonst gewesen sein.«
»Jeden Morgen, wenn wir nach Akink zurückkehren und
ich mich zu Bett lege, weine ich mich in den Schlaf«, sagte sie
schließlich, leise, als spräche sie nicht zu ihm, sondern in die
Stille der Nacht. »Jeden Abend, wenn wir losmarschieren, in die
Dunkelheit, zieht sich mein Herz zusammen, als wollte es aufhören
zu schlagen. Diese Dunkelheit ist meine Dunkelheit geworden. Es
hört niemals auf. Abend und Morgen und wieder Abend und Morgen …
Immerzu ist es dunkel um mich. Das Licht kommt nicht mehr. Die
Sonne wird nie wieder so aufgehen, wie sie früher aufging, hell
und strahlend. Und nie wieder werde ich das Licht in deinen Augen
sehen, nie wieder …«
»Aber jetzt bin ich da«, sagte Mattim. So fremd kam
sie ihm vor, wie sie von der Dunkelheit sprach. Mirita war kein
Schatten geworden. Wie konnte sie irgendetwas über die Nacht
wissen?
»Bist du es?«, fragte sie. »Wirklich? Oder
verwandelst du dich in etwas Schreckliches, wenn ich dich berühre?«
Sie legte die Arme um ihn und weinte lautlos.
Er spürte nur, wie das Schluchzen sie schüttelte,
hilflos erwiderte er ihre Umarmung und hielt sie fest.
»Mirita!« Die Flusshüter hatten ihr Verschwinden
bemerkt, ihre Rufe hallten durch den Wald. »Mirita!«
Die Bogenschützin rührte sich nicht. Sie drückte
ihn nur noch fester an sich. »Küss mich«, flüsterte sie. »Küss
mich, Mattim, mein Liebster, bitte, küss mich. Küss mich, damit ich
dir glauben kann, dass du immer noch derselbe bist.«
Sie reckte ihm das Gesicht entgegen. Hinter ihr sah
er schon die Fackeln zwischen den Bäumen.
»Mirita!« Verzweifelt klangen die Rufer, als
erwarteten sie, die Hüterin nicht lebendig wiederzufinden.
Mattim hatte keine Zeit, ihr klarzumachen, dass er
sie nicht küssen wollte, dass es überhaupt keinen Grund dafür gab.
Wenn sie feststellen wollte, ob er auf das Blut der Flusshüter aus
war, hätte es ihr reichen müssen, dass er mit ihr sprach, ohne sie
zu beißen. Aber wenn er nun auch das noch tun musste, um sie zu
überzeugen, bitteschön! Wieder wallte der Zorn in ihm auf, als er
sich vorbeugte und ihr einen kurzen Kuss auf den Mund drückte. Ihre
Lippen waren kalt wie der Schnee. Doch Mirita griff ihm mit beiden
Händen ins Haar, zog sein Gesicht noch näher zu sich heran und
begann ihn so wild und leidenschaftlich zu küssen, dass er es,
verdutzt und überrumpelt, geschehen ließ. Dann ließ sie ihn
plötzlich los, lachte und lief den Flusshütern entgegen, ohne sich
noch einmal umzudrehen.
»Ich bin hier! Mir ist nichts geschehen. Hier bin
ich!«
Lautlos wich Mattim zurück zwischen die
Bäume.
Die Nachricht war überbracht. Merkwürdigerweise
konnte er jedoch keine Freude darüber empfinden.
Was um Himmels willen sollte er Hanna sagen?