NEUNZEHN
BUDAPEST, UNGARN
Im Tageslicht sah die Stadt weniger zauberhaft aus. Mattim hatte das Meer von Lichtern gegen eine prosaische Ansammlung grau angelaufener Gebäude getauscht. Es war müßig, sich zu fragen, ob es sich gelohnt hatte.
Über die Donau hinweg sah Mattim zur anderen Seite hinüber, wo die Burg sich an den Hügel schmiegte. Buda. Nein, Akink. Akink. Er konnte nicht anders, als an sein Zuhause zu denken, an jene andere Burg, die mit riesigen, wehrhaften Türmen über dem Fluss aufragte.
»Akink«, sagte Atschorek neben ihm. »Du siehst diese Stadt und denkst an Akink, habe ich nicht Recht? Und nun wirst du sie endlich wiedersehen. Wir gehen heute Nacht rüber; Kunun ist der Meinung, dass du mitkommen solltest.«
Der Junge musterte sie mit kühlen steingrauen Augen. »Ich werde euch nicht helfen, gegen meinen Vater zu kämpfen.«
Atschorek seufzte. »Brüderchen, er ist auch mein Vater. Nur für den Fall, dass du das vergessen haben solltest.«
»Ich bin nicht auf eurer Seite.«
»Das hast du schon tausend Mal beteuert. Im Ernst, Mattim, du langweilst mich allmählich. Wir haben es begriffen. Du bist der edle Prinz des Lichts, der mit der guten Seele.«
Sie lachte über sein zorniges Gesicht.
»Ich werde das nie wieder tun.«
»Natürlich wirst du. So wie wir alle. Wer möchte schon zu Staub zerfallen? Du hättest die Gelegenheit zu einem Märtyrertod ergreifen sollen, als du noch die Chance dazu hattest. Jetzt wirkt das nicht mehr so recht glaubwürdig.«
Nie würde Mattim jenen Augenblick vergessen, in dem die Sonne über die Häuser kroch und ihr mildes Winterlicht in den Hof schüttete. Der Tag öffnete sich ihm wie eine weiße Seerose. Dieser Moment, in dem er das Leben in sich spürte, eine wilde, berauschende Lebendigkeit. Hanna im Arm zu halten und zu leben - er, der sein Leben verspielt hatte -, das war unglaublich. Es war ein Gefühl, das ihn von den Zehen bis zu den Haarspitzen erfüllt hatte, und schon jetzt sehnte er sich nach mehr. Es war ihr Leben, von dem er gekostet hatte, ein Leben, bis zum Bersten angefüllt mit Sehnsucht, die für diesen Moment auch die seine war, mit Wärme, die alle Kälte und Furcht vertrieb, einer unstillbaren Neugier, die ihn entzückte, einer gespannten Erwartung an alles Zukünftige, die seine Hoffnungen anstachelte. Er trug dieses Mädchen in sich. Hanna. Auf eine Weise, die er nicht für möglich gehalten hatte, fühlte er sich ihr verbunden, als wäre sie der vermisste Teil seiner Seele.
Nachdem er es getan hatte, war der Fahrstuhl ein paar Meter nach unten geruckt. Irgendwann ging die Tür auf, und Kunun stand vor ihm.
»Sieh an. Du lebst. Wer hätte das gedacht?« Mit einem abfälligen Lächeln betrachtete er das Mädchen, das mit leerem Blick zu ihm aufsah. »Ganze Arbeit geleistet, wie? Du wirst sicher auf den Geschmack kommen.«
Kunun bückte sich nach Hanna und zog sie hoch.
Mattim bemühte sich, seine Eifersucht nicht zu zeigen. »Ich bringe sie nach Hause«, sagte er.
»Wo man dich fragen wird, wer du bist? Du setzt sie in der Stadt aus, ganz einfach. Genieß den Sonnenschein.«
Mattim konnte sich nicht länger zurückhalten. Er holte aus und rammte Kunun seine Faust in den Magen. Der ältere der Brüder verzog nicht einmal das Gesicht. Er stieß den Angreifer zurück, gegen die Wand. Der raue Putz kratzte an Mattims Wange, als Kunun sein Gesicht dagegendrückte. Das Mädchen stand daneben und sah unbeteiligt zu, und der Schmerz über das, was er getan hatte, schüttelte ihn mehr als Kununs Hand.
»Hör auf, dich zu wehren«, befahl der Ältere. »Jeder Kratzer auf deiner Haut bleibt. Du lebst nicht mehr, deine Zellen erneuern sich nicht. Das ist wichtig, hörst du? Zeig mir deine Hand.«
Er griff nach Mattims Hand, zog den bunten Schal herunter und besah sich die ramponierten Fingerknöchel. »Es blutet immer nur kurz«, erklärte er. »Der Schmerz lässt bald nach. Aber du kannst Schmerzen empfinden wie ein Mensch. Alles, was deinem Leib geschieht, trägst du dein ganzes Schattendasein lang mit dir. Bis wir irgendwann alle wieder in Akink sind. Allein das Licht kann die Wunden heilen, die die Dunkelheit aufreißt … Du musst vorsichtig sein. Du kannst dich nicht aufführen, als wärst du unverletzlich, denn das bist du nicht. Unsterblichkeit bedeutet nicht, dass alles heilt. Es bedeutet, dass alles so bleibt, wie es ist. Hast du das begriffen?«
»Ich hasse dich«, ächzte Mattim. Er versuchte nach Kunun zu spucken, verfehlte ihn jedoch.
»Du armer, kleiner, böser Vampir.« Er ließ Mattim los und trat einen Schritt zurück; mit einem süffisanten Lächeln schüttelte er den Kopf über seinen ungezogenen Bruder. »Gerätst ganz nach mir, wer hätte das gedacht.«
»Ich bin nicht wie du!«, protestierte Mattim verzweifelt.
»Jetzt hör mir mal gut zu«, verlangte Kunun und packte ihn hart am Kragen. »Du bist wie wir. Es hat dir keinen Spaß gemacht? Du wurdest dazu gezwungen? Das ist mir egal. Es ist auch ihr egal.« Er wies mit dem Daumen auf Hanna, die mit leerem Blick aus dem Fenster auf den Hof starrte. »Du hast ihr dasselbe angetan, was wir alle tun, um in der Sonne zu leben. Ob du es gern gemacht hast oder nicht, interessiert keinen Menschen. Deine tiefsinnigen Unterscheidungen will hier niemand hören. Du bist nicht wie wir? Ha! Genau wie wir anderen wirst du ihnen das Leben rauben. Glaubst du, derjenige, den du beraubst, hat Verständnis dafür, nur weil du darum bettelst? Niemand ist hier, um dir zu verzeihen. Ich nicht. Und sie erst recht nicht. Jetzt geh und bring sie weg.«
Es war merkwürdig. Mattim hatte Hanna weggebracht, aber sie war immer noch da. Pausenlos hatte er in den vergangenen Wochen an Akink gedacht, während er durch das nächtliche Budapest streifte, doch nun fiel es ihm schwer, die Gedanken auf irgendetwas anderes zu richten als auf Hanna. Selbst jetzt, während seine Schwester versuchte, ihm das Dasein eines Schattens in dieser und in jener Welt zu erklären, konnte er sich auf nichts anderes konzentrieren.
Atschorek schüttelte den Kopf. »Ein wenig mehr Begeisterung hätte ich schon erwartet. Akink. Hörst du? Akink! Vielleicht sehen wir sogar ein paar Flusshüter? Was meinst du, hättest du Lust, sie ein bisschen zu erschrecken? Goran wird auch dabei sein. Ich dachte, sie ist eine Freundin von dir?«
Mit einem ungläubigen Ausdruck wandte er sich ihr zu. »Für dich ist das wohl alles nur ein Spiel?«
»Nein.« Atschorek beugte sich vor, und ihre glänzenden Augen fingen seine ein. »Es ist kein Spiel, aber lass es uns zu einem machen. Das Spiel um Akink.« Dann fügte sie etwas leiser hinzu: »Es ist der einzige Weg nach Hause, Mattim. Diejenigen, die du deine Eltern nennst, werden dir das Herz aus der Brust reißen, wenn du ihnen die Gelegenheit dazu gibst, und dich bei lebendigem Leib verbrennen. Sie werden deine Asche in den Fluss streuen, auf dass du niemals wiederkommst. Wenn du mir nicht glaubst, probier es aus. Wie wir gesehen haben, ist dein Selbsterhaltungstrieb allerdings noch nicht ganz erloschen.«
Er fragte nicht, ob sie um ihn geweint hätte, wenn er den Tod gewählt hätte. Atschorek, das spürte er deutlich, würde um niemanden weinen.
 
Mattim lag in seinem Bett und zog sich das Kissen über den Kopf, mit beiden Händen hielt er es fest.
»Ich will einen Schlüssel.«
»Du bekommst keinen«, sagte Atschorek. »Niemand hier im Haus hat einen. Wenn Kunun mit dir reden will, dann redest du mit ihm. So einfach ist das.«
»Ich rede nie wieder mit ihm.«
Auf einmal erklang Kununs seidenweiche Stimme. Durch das Kopfkissen hindurch hörte er die Worte des Schattenprinzen. »Benimmt er sich wieder kindisch?«
»Vielleicht ist es doch noch zu früh, ihn mitzunehmen. Er könnte einen Fehler machen.«
»Es ist nicht zu früh. Wir haben lange genug auf ihn gewartet. Licht und Schatten, ich will ihn dabeihaben. Du sprichst jetzt mit mir, Mattim.«
»Nein«, rief der junge Prinz. »Geh weg!«
Mit einem Ruck riss Kunun ihm das Kissen weg, packte ihn im Nacken und presste ihm das Gesicht in die Matratze. Mattim schnappte nach Luft, einen Moment lang glaubte er, ersticken zu müssen. Er wehrte sich verzweifelt, aber Kunun hielt ihn unerbittlich fest und drückte ihn hinunter. Schließlich gab Mattim es auf. Er lag da und hörte auf zu atmen.
Kunun ließ ihn los. »Es ist nur eine Gewohnheit«, sagte er. »Das Atmen. Genau wie das Essen. Du brauchst keine Luft und auch keine Nahrung. Was du willst, das Einzige, was du willst, ist Leben. Das bekommst du weder aus dem Sauerstoff noch aus dem Zeug in deiner Küche.«
Atschorek seufzte. »Wenn du ihn zu früh mitnimmst, wird er sich am Ende noch gefangen nehmen lassen, nur um dir zu beweisen, dass er etwas Besseres ist als wir.«
»Das wird er nicht tun.« Kunun schüttelte leicht den Kopf, lächelnd. »Er hatte die Chance, edelmütig zu sterben. Nun ist er auf den Geschmack gekommen.«
»Ich werde das nie wieder tun«, stieß Mattim wieder hervor.
»Er atmet schon wieder, siehst du?«, sagte Kunun zu Atschorek. »Gegen Gewohnheiten kann man nichts ausrichten. Du wirst es lieben, Blut zu trinken.«
»Es ist keine Gewohnheit! Ich werde das nie, nie wieder tun!«
»Wir nehmen ihn mit auf die Jagd«, sagte Kunun. »Es wird Zeit, dass er lernt, unseren Kampf mitzukämpfen.«
»Vielleicht treffen wir Bela.« Atschorek zögerte. »Falls er Mattim überhaupt sehen will. Er hat Wilia so sehr geliebt.«
»Bela?« Mattim hob den Kopf.
»Dein Bruder. Ein Schattenwolf. Wilder hast du ja schon kennengelernt.«
»Bela ist hier?«
»Kein Schattenwolf kommt nach Budapest«, sagte Kunun scharf.
»Was ist mit unseren anderen Geschwistern?«, fragte Mattim. »Wo sind sie? Und was sind sie - Wölfe oder Schatten?«
»Leander ist tot«, ließ Atschorek ihn wissen, mit einer Stimme, die kein Bedauern verriet. »Unser eigener Vater hat ihm die Klinge in die Brust gejagt. Er war ein Schattenwolf, hell wie das Licht … Und Runia …«
»Es reicht«, unterbrach Kunun sie schroff. »Warum sollten wir über die Toten reden? Wir werden diesen Kampf führen, und zwar ohne zu jammern und ohne uns zu fürchten. Zwei Wölfe und drei Schatten.«
Mattim hatte sich aufgesetzt. »Wieso bin ich ein Schatten?«, flüsterte er. »Wieso kein Wolf? Ich hatte gehofft …« Er sprach nicht aus, was er sich erhofft hatte. Um Geheimnisse aufzudecken, war er durch den Fluss geschwommen, doch ihn hatte eine andere Sehnsucht gerufen, in die dunklen Tiefen der Wälder.
»Hast du es denn immer noch nicht begriffen?«, fragte Atschorek ungeduldig. »Wenn einer von uns dich gebissen hätte, wärst du nichts als ein Wolf geworden. Klein und schlau, aber zu nichts nütze. Nur ein Schattenwolf kann aus einem Menschen einen Schatten machen.«
»Das weiß ich längst. Nur woher kommen die Schattenwölfe? Ich dachte, dass aus einem Lichtprinzen kein gewöhnlicher Wolf wird, sondern einer von ihnen.«
»Aus jedem Schatten kann ein Schattenwolf werden, egal, ob Prinz oder nicht«, erklärte Atschorek.
»Aber …«
»Wir wissen nicht, wie es geschieht. Und wann. Niemand weiß das. Wilder war fünfzig Jahre lang ein Schatten, und auf einmal verwandelte er sich. Anderen widerfährt es schneller. Wenn du merkst, dass es geschieht, dann sieh zu, dass du nach Magyria kommst. Lass es nicht hier passieren.«
Mattim stellte sich vor, wie er sich mitten auf der Straße, hier in Budapest, in einen Wolf verwandelte, und lächelte. »Nein, besser nicht.« Ich werde also ein Schattenwolf, wollte er sagen, immer wieder. Ich und ihr auch, wir alle … Doch er zwang die Freude in seinem Herzen nieder. Wie konnte er sich darüber freuen, irgendwann so zu werden wie Wilder, wenn er gar nicht so lange leben würde?
»Ich werde niemanden mehr beißen«, sagte er. Dabei war es so natürlich, es zu tun. Er fühlte es mit seinem ganzen Körper, mit seinem ganzen Herzen. Wolf. Dann sah er auf seine Hände, die so vertraut und menschlich waren und gleichzeitig so erschreckend unsterblich und verletzlich. Die Schrammen an seinen Knöcheln waren nicht verheilt, auch wenn sie nicht mehr bluteten. »Ich komme nicht mit nach Magyria, um gegen die Flusshüter zu kämpfen.«
»Der König«, Kunun spie dieses Wort geradezu aus, »soll erfahren, dass der Kleine jetzt zu uns gehört.« Er sprach mit Atschorek, als wäre Mattim gar nicht anwesend. »Und er wird es erfahren, glaub mir.«
»Was, wenn er zurückläuft nach Akink? Wir brauchen ihn noch. Wir haben nicht Wilias Leben geopfert, um Mattim jetzt auch noch zu verlieren.«
»Nein«, sagte Kunun langsam. »Er wird uns nicht enttäuschen. Er wird sich nicht gefangen nehmen lassen. Er wird jagen, wie wir alle. Sagen wir: fast wie wir. Die Jungen und Unerfahrenen sind immer die Schlimmsten. Vor ihrer Gier ist niemand sicher. Sie sind der schlimmste Albtraum von ganz Magyria. Möchtest du nicht zusehen, was deine hübsche, kleine Freundin Goran mit einem Magyrianer so tun kann - oder, noch besser, mit einem Flusshüter?«
»Nein.« Mattim war blass geworden. »Ich werde nicht gegen meine Freunde kämpfen.«
»Du sollst auch nicht gegen sie kämpfen. Du wirst sie verwandeln.«
»Niemals! Ich komme nicht mit!«
Kununs Hand schnellte vor, wieder packte er Mattim am Nacken wie einen jungen Hund und zog ihn zu sich heran.
»Du weißt, dass du es tun wirst. Genau deshalb hast du Angst davor, mitzukommen. Weil dir jetzt schon klar ist, dass du nicht anders kannst. Glaubst du, ich falle auf deine kleine Theateraufführung hier herein? Glaubst du, ich nehme dir ab, dass du dich quälst wegen dieses Mädchens? Du liegst hier nicht in deinem Bett und schmollst, weil du der armen Kleinen wehgetan hast. Du liegst hier, damit du ungestört davon träumen kannst. Damit du jeden Augenblick auskosten kannst. Noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal. Es tut dir nicht leid. Nur aus diesem einen Grund schämst du dich: weil es dir nicht leidtut!«
Mattim keuchte, sagte jedoch nichts. Mit einem Ruck machte er sich frei. »Ich hasse dich!«, stieß er finster hervor.
Kunun lachte leise. »Du hast einmal davon gekostet. Nun wirst du nicht wieder damit aufhören können. Glaubst du, es ist eine Sache der Willensstärke? Du überschätzt dich, Brüderchen. Meinst du, du wirst mit etwas fertig, was stärker ist als jeder von uns? Im Gegenteil. Du stehst ganz am Anfang. Du hast keine Chance, etwas zu beherrschen, was einem mit jahrzehntelanger Übung schwer genug fällt. Ich kann mir nehmen, wie viel ich will. So viel, wie ich brauche. Wann ich es will. Von wem ich es will.«
»Ich habe fast die ganze Nacht durchgehalten«, erinnerte Mattim leise.
»Doch jetzt«, sagte Kunun, »jetzt, da du wieder weißt, was Leben ist … Wenn du die Gelegenheit hast zu fühlen, wie es ist, wenn das Blut einem durch die Adern fließt, wenn das eigene Herz in der Brust schlägt, wenn du von einem Augenblick zum andern lebst, mit Hoffnung … Wie lange wirst du künftig wohl durchhalten?«
Mattim versuchte Kunun die ganze Verachtung, die er empfand, entgegenzuschleudern, mit einem Blick wie ein Pfeilhagel, aber die schwarzen Augen seines Bruders fixierten ihn unerbittlich, und schließlich senkte er den Kopf.
»Heute Nacht gehen wir rüber«, entschied der Schattenprinz. »Sag den anderen Bescheid, Atschorek. Das wird sich keiner von ihnen entgehen lassen wollen.«
 
»Du wirst mir keine Schande machen«, sagte Kunun zu Mattim. »Du tust genau das, was ich dir sage. Ist das klar?«
Er fixierte Mattim mit einem dunklen, beißenden Blick. Nein!, wollte der Jüngere rufen. Nein, nein und nochmals nein. Doch er konnte die Gelegenheit einfach nicht ungenützt verstreichen lassen, mit den anderen Vampiren nach Magyria zu gehen. Nach Hause … Seit er das Schreckliche getan und einen Menschen gebissen hatte, sehnte er sich noch mehr als vorher in seine Heimat zurück. Akink. Die Burg, durchflutet vom Licht. Die Stimmen seiner Eltern im Salon. Die Hand seiner Mutter auf seinem Haar. Er würde sich die Bettdecke über den Kopf ziehen und wissen, dass alles nur ein Traum war. Kunun und Atschorek, die anderen Vampire, diese Stadt der steinernen Löwen, alles nur ein Traum … Doch dann wäre auch Hanna ein Traum gewesen. Nicht vorstellbar, dass er sich jemals jemanden wie sie ausgedacht haben könnte. Ihre warme Haut, ihr rindendunkles Haar … Manchmal fiel es ihm schwer, ihr Gesicht festzuhalten. Er dachte an sie, und sie schien ihm zu entgleiten, als wäre sie nichts als eine Wolke, die, vom Wind zerrissen, ihre Gestalt verlor. Mit ihrem Blut trug er ein Gefühl für sie in sich, ein unvergleichliches Gefühl, den Abglanz eines Lebens, das nicht das seine war, einen Vorgeschmack von etwas, was ihm nie gehören würde. Niemals. Er war nur aus einem einzigen Grund hier: um für Akink zu kämpfen. Ihr Blut verlieh ihm die Kraft dafür, von mehr durfte er nicht träumen.
»Nun, was ist?«, fragte Kunun. »Willst du lieber hierbleiben? Oder ringst du dich vielleicht doch noch zu einem Ja durch?«
Nein. Nein! Mattim unterdrückte das Beben in seinen Händen, den wahnwitzigen Wunsch, Kunun zu schlagen, und zwang seinen Kopf zu einem Nicken.
»Ja.« Er war zum Vampir geworden, um hinter Kununs Geheimnisse zu kommen, auch wenn das bedeutete, jeglichen Stolz aufzugeben und Ja zu sagen, wenn er eigentlich nur Nein rufen wollte, nein, nein und immerzu nein.
Kunun nickte zufrieden. »Dann komm.«
Er ließ Mattim den Vortritt, stieg nach ihm in den Fahrstuhl, drehte ihm den Rücken zu und ließ eine Hand über die Knöpfe tanzen. Dann drehte er sich um und lächelte über die Enttäuschung, die der Junge nicht so schnell verbergen konnte. Es war ihm nicht gelungen, einen Blick auf den Code zu erhaschen, mit dem man den Fahrstuhl dazu brachte, ins Untergeschoss zu fahren.
»Um dich allein nach Magyria zu lassen, ist es noch ein bisschen früh, findest du nicht?«
»Wenn du meinst.«
Hatte man erst einmal damit angefangen, Kunun zuzustimmen, wurde es immer leichter. Was wohl die anderen Schatten empfanden, wenn sie sich unter Kununs Herrschaft beugten - zumal sie zuvor stolze Flusshüter gewesen waren? Ihnen merkte man es nicht an, ob es ihnen schwerfiel. Eine ganze Schar wartete bereits im Keller auf sie. Nur Vorfreude auf den bestehenden Streifzug las Mattim in ihren Gesichtern.
»Auf zur Jagd!«, rief Goran fröhlich. Goran. Seine Goran! Das hübsche Mädchen mit den blonden Locken, Seite an Seite hatten sie gegen die Schatten gekämpft - wie konnte sie so schnell vergessen haben, wer sie war und wem ihre Loyalität gehören sollte? Oder spielte sie mit, weil sie es musste, und empfand dieselben Qualen wie er?
In einer Reihe schritten die Vampire durch den offenen Torbogen, der, wenn man von hier aus hindurchsah, in einen weiteren Kellerraum zu führen schien. Das war die Pforte, deren Existenz Mattim erahnt hatte, als er noch als unschuldiger Flusshüter Wölfe gejagt hatte, und niemals hätte er sie sich so schlicht vorgestellt, so ganz und gar nicht bemerkenswert. Ein Durchschlupf in einem Kellergewölbe. Kurz darauf standen sie alle in der Höhle, und er drängte sich durch die anderen, bis er Goran erreichte.
»Auf zur Jagd?«, fragte er und zog die Augenbrauen hoch.
»Wie viele Flusshüter werden wir diesmal erwischen, was meinst du?«, fragte sie munter.
»Goran, das sind unsere Freunde!«
Mattim sah ihr in die Augen, versuchte zu erkennen, wer dieses Mädchen vor ihm war. Eine Fremde, die sich in ein Ungeheuer verwandelt hatte? Hoffte sie hinter ihrem schönen Lächeln auf ein Blutbad? Dann dachte er an Morrit. Morrit, der immer noch Morrit gewesen war, sein Anführer und Freund, und er wusste nicht mehr, was er glauben sollte.
Goran seufzte leise. »Mattim, das sind sie nicht mehr. Das sind nicht unsere Freunde. Wir sind Schatten. Sie würden uns töten, wenn sie könnten, das weißt du. Es gibt nur einen einzigen Weg, um mit allen in Frieden zu leben. Wenn wir erst alle Schatten sind, dann gehören wir wieder zusammen.«
Er starrte sie an. »Hat Atschorek dir das eingeredet? Das klingt ganz nach ihr. Goran, das ist Wahnsinn, das ist …«
»Leise!«, befahl Kunun. »Lasst die Jagd beginnen!«
Sie schlichen durch das wohltuende Dämmerlicht. Die Bäume kamen ihm stiller vor als je zuvor, als schliefen sie. Es war, als hielte der ganze Wald den Atem an … Nur nicht die Patrouille. Ihr Flüstern und Tuscheln, das Rascheln der Blätter unter ihren Füßen, all das kam Mattim ungewöhnlich laut vor. So viele, unzählige Blätter, als hätten die Bäume in einer einzigen gewaltigen Kraftanstrengung alles, was ihnen überflüssig schien, von sich geschleudert.
»Ich kann so gut hören wie nie zuvor«, wisperte Goran ihm ins Ohr, und in ihrer Stimme schwang eine Freude mit, die ihn an die alte, fröhliche Gefährtin erinnerte. »Aber nicht immer. Es kommt manchmal über mich, dann ist es wieder fort. Das ist der Wolf in uns … der schlafende Wolf. Er träumt in unserem Blut, bis er irgendwann herauskommt und …«
Sie brach ab, als Kunun die Hand hob. Mattim merkte, dass sein Bruder seinen Blick suchte, dass er ihm zunickte, mit ernsten Augen und einem lächelnden Mund. Dies ist eine Prüfung … Ich darf nicht versagen. Ich darf mir nichts anmerken lassen, oder es war alles umsonst. Ich darf sie nicht warnen, ich darf es nicht. Der junge Prinz biss die Zähne zusammen, um nicht laut zu schreien, um die Männer und Frauen, die ganz in der Nähe durch den Wald marschierten, nicht darauf aufmerksam zu machen, dass ein ganzes Dutzend Schatten ihnen auflauerte.
»Jetzt.« Kunun flüsterte nur, doch die Vampire sprangen los, als hätte er ein Jagdhorn geblasen, als wären sie die Hunde, die er auf die Beute hetzte.
Mattim sah Gorans wippende Lockenpracht vor sich. Er selbst tat ein paar Schritte vorwärts und hielt dann inne, gelähmt von Scham und Entsetzen. Sie sollten ihn nicht sehen, in Kununs Gefolge, seine alten Kameraden. Er wollte zu Staub zerfallen vor ihren Blicken. Er wollte ihnen helfen, nur wie hätte er das tun können, er allein gegen all die anderen Vampire und ihren finsteren König?
»Ihm nach!«, schrie Kunun, als ein junger Flusshüter an ihnen vorbeistürzte. »Mattim, das übernimmst du!«
Es war Derin, sein Freund, der mit einem panischen Schrei im Unterholz verschwand.
Mattim merkte zu seinem eigenen Erstaunen, dass er die Beine bewegen konnte. Dass er, während er dem Fliehenden nachsetzte, die Schnelligkeit und Kraft des Wolfs in sich spürte, die unermüdliche Ausdauer des Tieres. »Derin!«, rief er. »Derin, warte! Ich will dir nichts tun! So warte doch!« Besser, dass er den Flusshüter verfolgte und einholte, als irgendjemand anders. Wenn er ihn nur dazu bringen konnte, mit ihm zu reden, ihm zuzuhören. »Derin, bleib stehen, hab ich gesagt!« Mattim packte seinen Freund an der Schulter und riss ihn mit sich, gemeinsam rollten sie über den Boden. »Hör auf zu schreien, hör mich doch an, ich bin nicht …« Er kam nicht gegen Derins wildes Geheul an.
Der Flusshüter schlug und trat nach ihm. »Rühr mich nicht an! Weg, weg mit dir!«
Mattim sprang zurück, er hatte Angst, dass sein Freund ihm das Gesicht zerkratzte und ihm untilgbare Wunden zufügte. Um ihn daran zu hindern, hätte er sich einfach auf ihn stürzen und ihn beißen sollen. Dann wäre Kunun zufrieden gewesen, vielleicht sogar so zufrieden, dass Mattim darauf hoffen konnte, mehr über die Pforte zwischen beiden Welten zu erfahren. Nur ein Biss. Nur ein einziges Opfer, und es würde ihn so viel weiter bringen! Vielleicht konnte es, wenn er es endlich tat, sogar helfen, Akink zu retten!
Stattdessen hockte er da und starrte in Derins angsterfüllte Augen. Der junge Mann war rückwärts von ihm fortgerutscht, bis ein Baumstamm seine Flucht beendete. Mit bloßer, ausgestreckter Hand versuchte er, Mattim von sich fernzuhalten. »Weiche! Weiche, Schatten!«
Genauso hatte er sich gefühlt, damals im Käfig. Atschorek hatte kein Mitleid mit ihm gehabt. Aber er konnte Derin nichts tun. Nicht einmal, um Kununs Vertrauen zu erringen.
»Grüß meine Eltern«, sagte er leise. »Und Mirita. Sag ihr, sie soll nicht vergessen, was wir besprochen haben, und sobald ich mehr weiß, werde ich …«
Derin schrie, er schrie so laut wie jemand, der seinen unvermeidlichen Tod auf sich zukommen sieht. Goran war aus dem Gebüsch herausgestürzt und hatte sich über ihn geworfen. Mattim konnte nichts tun, um ihm zu helfen, es ging alles viel zu schnell; völlig überrascht musste er mit ansehen, wie Goran ihre Zähne in Derins Hals schlug.
»Nein!«, schluchzte er auf. »Goran, nein, Derin! Derin!« Er streckte die Hände nach beiden aus - um Goran wegzuziehen, um Derin aufzuhelfen -, doch es war zu spät. In Mattims Armen fand die Verwandlung statt. Es war wie eine Geburt, während sie zu dritt, in inniger, verzweifelter Umarmung und getränkt von Blut, einem Wolf auf die Welt halfen, einem schlanken Wolf mit braunschwarzem Fell, der sie ansah wie ein Neugeborenes.
»Was hast du bloß getan!«, rief Mattim, dem die Tränen über die Wangen rannen.
Goran streichelte den neuen Wolf, und sie schienen auf eine Weise zusammenzugehören, die ihn ausschloss. Sie mit dem blutigen Kinn … und das Tier, jetzt ohne Angst, ohne Verzweiflung, nur etwas verwundert.
»Sie empfinden Glück«, erklärte Goran. »Merkst du das nicht? Schau mich nicht an, als hätte ich ihn umgebracht. Wir können Glück schenken, begreife das doch endlich!«
Er schüttelte dumpf den Kopf. »Derin hätte ein anderes Schicksal gewählt.«
»Man kann nichts wählen, von dem man nicht weiß, wie es ist. Findest du, er wirkt unglücklich?« Sie tätschelte den Kopf mit der langen Schnauze, und ihre Fingerspitzen glitten über das dichte Fell. »Du hättest es tun sollen«, sagte sie leise. »Statt ihn zu beauftragen, Grüße zu überbringen. Also wirklich, Mattim!« Sie wischte sich das Blut vom Mund.
»Wirst du es Kunun sagen?« Er sah sie an und versuchte, die Goran in ihr zu finden, die zu ihm gehalten hätte - weil er der Prinz war oder aus Freundschaft, das hätte er nicht zu sagen vermocht. Wenn es sein Rang gewesen war, dann hatte er verloren.
Da hörten sie schon Kununs Stimme. Laut und froh, und das Lachen eines Mannes, dem das Jagdglück hold ist. Mit forschen Schritten - und dennoch leiser als ein wildes Tier - kam er zu ihnen und blickte auf Derin, der sich winselnd vor ihm duckte.
»Dein erster Wolf?«, fragte er, und Vergnügen erklang dabei in seiner Stimme. »Du wirst noch Geschmack daran finden, Mattim.« Er richtete seine schwarzen Augen auf den Jungen. Sein Lächeln wirkte so frei und beschwingt, als hätten sie nichts anderes getan, als aus armseligen sterblichen Kreaturen wundervolle Geschöpfe zu erschaffen, wild und voller Lebenslust und ohne Furcht. Als wären sie hier, um wie mit göttlicher Hand Leben zu schaffen, Freiheit zu schenken und an einer wunderbaren Welt mitzuwirken, in der sie alle Freunde sein würden.
Mattim zwang sich, nicht zu Goran hinüberzublicken, nicht das Flehen und die Angst nach außen zu tragen, die er empfand. Er hielt Kununs strahlenden Blick aus und spürte den Verlust des Lichts, mit dem er geboren war, wie eine qualvoll pochende Wunde, dort, wo sein Herz nicht mehr schlug. Mit diesem Licht hätte er jeden Schatten in die Knie zwingen müssen - doch er konnte nichts tun. Er konnte nur Kununs bohrendem Blick standhalten und nicken.
Goran schwieg, aber Mattim empfand nicht einmal Dankbarkeit. Nur als sein Bruder ihm auf die Schulter klopfte, war da für einen flüchtigen Moment, kürzer als ein Blitzstrahl, der flammende Wunsch, er hätte dieses Lob und die Anerkennung des dunklen Königs verdient.
Magyria 01 - Das Herz des Schattens
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