NEUNUNDDREISSIG
AKINK, MAGYRIA
Leichtfüßig glitt Mattim über das Eis. Er flog nur so dahin. Jeder Augenblick zählte, jeder Atemzug. Er musste so schnell sein wie nie zuvor. Keine fünfhundert Schritte waren es für die Schatten, wenn sie losmarschierten, und bis dahin musste er seine Aufgabe erfüllt haben.
Vor ihm lag die Stadt. Wie eine Glocke wölbte sich das Licht über ihr, schimmernd, verheißungsvoll, tödlich, ja, auch das, wie hätte er es vergessen können? Unter ihm, unter der dicken Schicht des Eises, fand es seinen Widerhall, ein Glimmen, fast nicht wahrnehmbar, aber er war sich dessen bewusst, dass es jederzeit hervorbrechen konnte. Wo waren die Wachen, die ihn kommen sahen, die Alarm ausriefen? Falls sie ihn bemerkten, warteten sie geduldig auf ihn. Falls nicht, würden auch Kunun und seine Schatten unbemerkt auf die andere Seite gelangen. Vielleicht. Der Prinz erreichte die Kaimauer, tastete sich an der dunklen Wand entlang zu einer Stelle, wo Sprossen eingelassen waren. Hastig zog er die Schlittschuhe wieder aus und kletterte rasch hoch, mit bloßen, immer noch blutverschmierten Füßen auf den eiskalten Stäben.
Er war in Akink. Kurz verharrte er; Jubel brannte in ihm auf, Glück, kurz und blendend wie ein Blitzstrahl, dann trieb ihn seine Aufgabe weiter, und er verschmolz mit der Dämmerung zwischen den Häuserzeilen.
Auf dem Weg hinauf zur Burg dachte Mattim nicht darüber nach, was er tat. Er huschte von Schatten zu Schatten. Glitt durch Häuserwände, wenn Menschen ihm entgegenkamen, und verschwand in dunklen Nischen, so als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, als sich unsichtbar durch diese Stadt zu bewegen. Ein heimlicher Gast, wie ein Dieb in der Nacht.
In einer dunklen Ecke, die jeden Schatten einlud, schlüpfte der Prinz durch die Burgmauer und ließ sich, als er die Schritte der Wächter genau vor sich hörte, einfach in den Boden fallen, wo er in einem spärlich beleuchteten Kellergang aufkam, auf allen vieren, geduckt. Die Luft war rein. Er huschte Treppen und Gänge hoch, mit den lautlosen Schritten des Wolfs, wich Patrouillen und Bediensteten aus, horchte, um Hinweise auf den Aufenthaltsort des Königs zu erlangen, und ging schließlich durch eine Tür in ein karg eingerichtetes Zimmer. Dort saß König Farank vor dem Fenster an einem schlichten Holztisch, auf dem nichts als eine kleine Öllampe stand.
»Vater«, flüsterte er.
Der Lichtkönig fuhr herum. »Mattim!« Der Monarch sprang auf und warf seinen Stuhl dabei um, dann schien er sich daran zu erinnern, dass es diesen Namen nicht mehr gab, diesen Sohn nicht mehr gab. Er stand da, die Hände vor sich ausgestreckt, als wüsste er nicht, ob er ihn abwehren oder umarmen sollte. Hektisch blickte er zur Tür, wollte rufen und rief doch nicht, dann schaute er zu der kleinen Lampe auf dem Tisch.
»Ich gehöre dem Licht«, sagte Mattim. Er konnte nicht lügen. Er hatte es nie vermocht. Ein jeder konnte in seinem Gesicht lesen wie in einem Buch, offen und frei, seinen Kummer und seine Sehnsüchte. Er wusste das. »Ich bin immer noch der Prinz des Lichts.« Er log, und doch war es keine Lüge. Denn er war beides, Schatten und Lichtprinz, hatte nie ganz aufgehört, das zu sein, was er war. So hatte er auch Kunun nur die eine Wahrheit gesagt und die andere verschwiegen. In seinen Worten lagen seine Sehnsucht und seine Trauer und sein Schicksal: Akink. Es war die Seite, für die er kämpfte. Immer noch für das Licht. »Sieh her.« Der Junge zog sein Hemd aus, das blutbefleckte. »Ich habe gegen die Schatten gekämpft. Die Wunden sind noch ganz frisch. Keine Bissspuren. Sieh genau hin.«
Er drehte sich einmal herum, bevor er sich das Hemd wieder überstreifte, um die Stiche, Schnitte und genähten Wunden zu verbergen. »Hör mich an, Vater. Hör mir zu. Wirf nicht die Lampe nach mir, brennendes Öl bekommt niemandem gut.« Er lachte leise.
Der König starrte ihn immer noch an, wachsam.
Die Augen seines Vaters ließen Mattim alles vergessen, was er hatte sagen wollen, denn in ihnen lag eine Stummheit, die er noch nie darin gesehen hatte. Das Schweigen zwischen ihnen, wenn sie auf den Wald hinausgeblickt hatten, war friedlich und liebevoll gewesen wie ein lauer Sommerabend, wie der Duft alter, von der Sonne aufgeheizter Steine. Dieses Schweigen dagegen war wie ein Schlag in die Magengrube, wenn man sich krümmte und nicht zu dem Schrei durchdringen konnte, den man ausstoßen wollte. Miritas Worte fielen ihm ein: Jeden Abend zieht sich mein Herz zusammen, als wollte es aufhören zu schlagen. Diese Dunkelheit ist meine Dunkelheit geworden. Es hört niemals auf. Abend und Morgen und wieder Abend und Morgen … Immerzu ist es dunkel um mich. Das Licht kommt nicht mehr. Die Sonne wird nie wieder so aufgehen, wie sie früher aufging, hell und strahlend. Und nie wieder werde ich das Licht in deinen Augen sehen.
Mattim wollte sich abwenden, bevor dieser Schmerz auf ihn übergriff, aber er wusste, wenn er das tat, war alles verloren. Wie einen Anker warf er seinen Blick aus, um seinen Vater aus der Tiefe seines Schweigens und seiner Dunkelheit heraufzuholen.
Mühsam fand er zu den Worten zurück. »Ich trete vor dich hin, ohne zu vergehen.« Hannas Blut schützte ihn. Er hatte den Geschmack ihres Lebens immer noch auf der Zunge. Die Zeit drängte, drängte so sehr! Trotzdem zwang er sich zur Ruhe. »Ich bin über den Fluss gekommen, über das Eis.«
 
Vorsichtig öffnete Hanna die Augen. Ihr war schwindlig und leicht übel. Aufspringen, Réka hochreißen, draufloslaufen, bis zur Höhle - wie stellte Mattim sich das vor? Sie hörte die Stimmen der Schatten durch den tanzenden Schnee. Ganz nah waren sie. Gleich würden sie entdecken, dass Mattim ihnen zu wenig Blut gebracht hatte. Sie hatte nur noch ein paar Augenblicke.
Hanna tastete nach Rékas Hand. So kalt. Lebte sie denn wirklich noch? Man konnte doch einen Stich ins Herz nicht überleben? Vielleicht irrte Mattim sich. Vielleicht hatte Réka längst ihren letzten Atemzug getan, irgendwo auf dem langen Weg an den Fluss oder hier im Schnee, in der Kälte, und es gab nichts mehr zu hoffen. Hannas Finger legten sich über Rékas Handgelenk. Und da war, ganz schwach, kaum fühlbar, der Puls.
Hanna richtete sich ganz langsam auf, erst auf die Knie, und wartete, dass der Schwindel nachließ.
»Schnee! Verdammt, wieso ist da Schnee in dem Krug?«
Kununs Wutschrei zerriss die gespannte Stille. Just in dem Moment packte Hanna Réka, zog sie hoch und stolperte die Uferböschung hinunter. Mattim hatte gesagt, dass sie zurück zur Höhle fliehen sollte, aber zwischen ihr und dem Wald lagerte das Heer der Schatten, und falls sie je die Chance gehabt hatte, unbemerkt und vom Schnee geschützt dort hinzugelangen, so hatte sie diese verpasst.
»Dort! Dort ist sie!«
Mattim hatte auch behauptet, Réka wäre nicht schwer, Hanna hatte allerdings einen ganz anderen Eindruck. Sie hastete vorwärts, doch das Gewicht des Mädchens lähmte jeden ihrer Schritte. Sie kam nicht vorwärts, keuchend stapfte sie durch den hohen Schnee, ihre kostbare Last im Arm, und wie in einem Alptraum wollten ihre Füße sich nicht vom Boden lösen. Hinter ihr näherten sich bereits die Schatten.
»Ach, Hanna, was wird das?« Atschoreks Stimme, ihre kalte Freundlichkeit, trieb Hanna die Tränen in die Augen. »Glaubst du, du kannst uns entkommen?«
Noch ein Schritt. Und noch einer. Schmerz und Schwindel zwangen sie zu Boden. Als sie fiel, dachte sie nur daran, dass Réka sich dabei nicht verletzen durfte, dann lag sie wieder neben dem Mädchen im Schnee, und über ihr tauchte die rothaarige Vampirin auf, flankiert von einer Reihe dunkler Schatten.
»Du kannst mich töten«, keuchte Hanna. »Aber es nützt dir nichts. Rein gar nichts.«
»Ach, Hanna. Du langweilst mich allmählich. Réka hat Kunun ihr Leben gegeben, es ist ganz gleich, wann wir es uns nehmen. Und du - willst du wirklich mit ansehen, was wir mit Mattim tun, wenn du nicht brav bist?« Sie wandte sich an die anderen. »Wo ist er? Bringt ihn her. Wir töten ihn jetzt, vor ihren Augen.«
»Mattim ist nicht da.«
»Dann sucht ihn, verdammt noch mal!« Sie wies ein paar Schatten an, die Mädchen zu bewachen, und ging wütend über den aufbrausenden Protest hinweg. »Hier auf dem Eis. Warum nicht hier auf dem Eis? Ihr habt aus dem Krug getrunken, nicht wahr? Und es wirkt, wie ihr seht. Also stellt euch nicht so an!« Im nächsten Moment verschwand sie im wirbelnden Schneefall.
Hanna lag neben Réka und legte einen Arm um sie.
»Wach auf«, flüsterte sie ihr ins Ohr. »Réka, bitte, du musst aufwachen. Wenn wir beide schnell genug sind, entkommen wir ihnen vielleicht. Bitte, Réka, stirb nicht. Du musst leben. Kunun hat dich betrogen. Du wirst nicht sein wie er. Bitte, Réka, du musst leben!« Was hatte die Königin ihrem Gatten erzählt? Und Mirita? Waren sie zu Farank gekommen und hatten darüber geklagt, dass Mattim sich geweigert hatte, sie zur Pforte zu führen, dass er Hals über Kopf davongerannt war? Er bezweifelte es. Elira würde den Schmerz ihres Geliebten nicht mehren, indem sie ihm davon erzählte. Farank hatte nie erfahren, dass sie Mattim bereits begegnet war. Wie hätte sie auch davon berichten sollen, ohne den Namen ihres Sohnes auszusprechen?
»Drei Lichter waren es. Das hellste ist fort, und der Winter ist über uns hereingebrochen«, sagte der König langsam. Aus seiner Stimme sprach sein ganzer Schmerz. Brüchig klang sie, lichtlos.
Mattim hatte gewusst, dass sein Vater das vorbringen würde. Es war ein Beweis, der nicht leicht zu entkräften war.
»Ich bin über den Fluss geschwommen«, sagte der Junge leise, »und zu ihm gegangen. Ich fiel vor ihm auf die Knie, vor Kunun … und in diesem Moment verdunkelte sich die Welt. Licht, das sich freiwillig aufgibt, reißt alles hinab in die Finsternis. Es tut mir so leid, Vater. Trotzdem musste ich es tun. Ich bringe dir den Sieg. Nicht meinem Bruder, sondern dir. Du musst bloß zugreifen. Allerdings haben wir wenig Zeit.«
Der König hatte keinen Grund, ihm zu glauben, Mattim wusste das. Keinen Grund außer dem, dass er seinem Sohn glauben wollte. Langsam ging der König auf ihn zu. Jeder seiner Schritte durch den kleinen Raum schien eine Flutwelle von Licht vor sich her zu tragen, ein ganzes Meer, das um ihn herum flutete, eine Fackel, die brannte und brannte, unaufhörlich. Trotz der Dunkelheit seiner Augen und seiner Stimme war das Licht noch immer da, weder Angst noch Schmerz, noch Traurigkeit konnte es vertreiben.
»Mattim«, flüsterte Farank.
Alle Worte, die der Prinz hätte sagen können, waren bereits gesagt. Jetzt war nur noch diese Stille zwischen ihnen, eine fragende, behutsame Stille, deren Duft vertraut war. So hatten sie früher nebeneinander auf der Mauer gestanden, wortlos einig, zwischen sich ein Vertrauen, das keiner Beweise bedurfte. Doch nun blickten sie einander in die Augen, nun standen sie sich gegenüber, und Mattim war auf einmal klar, dass sie nie wieder dasselbe sehen würden.
Der König streckte beide Hände nach seinem Sohn aus.
Und Mattim verging nicht. Er spürte das Licht wie eine Quelle der Wärme und des Lebens; nie hatte er deutlicher gefühlt, was das Licht bedeutete. Als er es selbst noch in sich trug, war es ihm selbstverständlich vorgekommen, aber jetzt erst begriff er, was es war, das sich dort nach ihm ausstreckte, lebensspendend und tödlich wie die Sonne, fast unerträglich und trotzdem unverzichtbar.
Der Lichtkönig drückte ihn einmal kurz an die Brust. Nur kurz, und doch war es Mattim, als würde das Feuer durch ihn hindurchbrennen, schmerzhaft und wohltuend zugleich.
»Komm mit, Vater«, sagte der Prinz. »Bitte. Wir können es entscheiden. Jetzt. Die Schatten stehen unten am Fluss.«
»Sie werden nie hinüberkommen. Beruhige dich. Wir haben nichts von ihnen zu befürchten.« Schon war er wieder der Alte, der Erfahrene, der Schutz und Schild ausbreitete über all jene, die er liebte.
Es bereitete Mattim keine Genugtuung, dass er mehr wusste als sein Vater. »Sie werden über das Eis gehen«, sagte er. »Vielleicht haben sie es sogar schon getan. Vielleicht erklimmen sie in diesem Augenblick die Mauer.«
Der König starrte ihn einen Moment lang an. Was sah er in Mattims Augen? Kunun, der mit wehendem Mantel über den Fluss schritt, die Mundwinkel voller Blut? Hanna und Réka in der Gewalt der Feinde und einen Becher, der die Vernichtung Akinks enthielt? Oder reichte die drängende Eile, die sich in dem Gesicht seines Sohnes offenbarte? Die Zeit verrann unerbittlich. Von den vielen Fragen, die Farank haben musste, stellte er keine einzige. »Komm!«, rief er, schon an der Tür, und zog Mattim auf den Gang hinaus.
Die beiden liefen an erstaunten Wachposten vorbei, an Wächtern, die hastig grüßten, und während sie noch rannten, hörten sie das Horn rufen.
Gefahr! Feinde! Schatten!
Zu spät! Die beiden Worte hämmerten in Mattims Gedanken ihren unheilvollen Rhythmus, während sie durch Flure liefen, Treppen hinuntereilten, er immer dem König nach, der atemlos voranhastete.
Der Ruf der Hörner gellte durch die Burg, über die Stadt hinweg, laut, klagend, warnend: Feinde! Schatten! Gefahr!
 
Der Fluss, breit und weiß wie eine Straße. Und dort drüben die Stadt, über der ein Lichtschimmer hing. Inzwischen schneite es so stark, dass sie kaum noch zu sehen war, nur zu erahnen, etwas Warmes, Leuchtendes jenseits der Dunkelheit. Unter ihnen, unter dem Eis, der Fluss. Wenn sie nur Réka etwas Wasser hätte geben können! Hannas Hände tauchten durch den Schnee, bis sie das kalte Eis berührte, die dicke Schicht, die sie trug. So taub waren ihre Finger, dass sie die Kälte kaum noch spürte. Sie hob eine Handvoll Schnee auf und berührte damit ihre eigenen Lippen.
Schnee, der auf dem Eis gelegen hatte, über dem Fluss des Lichts … Hanna dachte an die Worte, die Mattim immer wieder gesagt hatte, wie einen magischen Spruch, wie ein Versprechen, das kurz vor der Erfüllung stand: Das Licht wird die Wunden heilen, welche die Finsternis geschlagen hat … Eine andere Szene trat vor ihr geistiges Auge. Atschorek im Deryné, eine noch fremde, unendlich schöne Atschorek, die versonnen sagte: In Magyria tranken wir am Abend einen Trunk aus geschmolzenem Licht. Es war wie ein Sternenschauer, der durch unsere Glieder rann.
»Trinkbares Licht«, flüsterte Hanna. Entschlossen schob sie sich den Schnee in den Mund und zwang sich, möglichst viel davon hinunterzuschlucken. Ihr wurde davon noch kälter, so kalt, dass sie sich kaum rühren konnte. Vielleicht war nicht genug Licht darin. Nur Schnee, nichts weiter als Schnee …
»Hier, Réka. Ich habe nichts als das. Noch mehr Kälte, bloß noch mehr. Aber wir haben nichts zu verlieren.«
Der Schnee schmolz nicht in ihren kalten Händen. Sie konnte lediglich etwas davon auf Rékas leicht geöffneten Mund legen. Gefrorenes Licht … Nein, nicht einmal das. Nur der Schnee, der auf dem gefrorenen Licht lag, nichts weiter als kalter, eiskalter Schnee.
»Réka, bitte …«
Erstaunlicherweise fühlte sie sich selbst bereits etwas besser. Wenn sie jetzt aufsprangen und losrannten, könnten sie den Schatten vielleicht tatsächlich entkommen.
Das Mädchen seufzte leise. Ermutigt grub Hanna nach noch mehr Schnee, von der untersten Schicht, direkt über dem Eis, sie kratzte mit den Fingernägeln daran so gut sie konnte. »Hier. Hier, Réka, das ist mehr als Schnee. Oh, bitte. Bitte, bitte, bitte.«
Wieder seufzte Réka. Ihre Lippen formten einen Namen, noch ohne Laut. »Kunun.«
Die Schatten bemerkten nicht, was vor sich ging. Sahen nicht, wie Hanna Schnee aß und Réka damit fütterte und wie das gefrorene Licht sie stärkte, so sehr, dass Réka schließlich die Augen aufschlug und fragte: »Wo sind wir?«
»Leise«, flüsterte Hanna. »Wir sind in Gefahr. Kannst du laufen?«
»Warum sollte ich nicht laufen können?«, gab Réka zurück. »Was ist hier eigentlich los?«
»Der Schnee wird uns retten«, flüsterte Hanna. »Sie können uns kaum erkennen. Gib mir deine Hand. Auf mein Zeichen hin springen wir auf und rennen. Lass meine Hand nicht los.«
»Das ist ein Traum, oder?«, fragte Réka.
»Ja«, antwortete Hanna. »Nur ein Traum. Hab keine Angst. - Jetzt!«
Sie sprangen zwischen den überraschten Schatten hindurch und liefen durch den hohen Schnee. Réka war nicht anzumerken, dass sie eben noch bewusstlos und halbtot dahingedämmert hatte. Mit kraftvollen, ausgreifenden Schritten hasteten die beiden Mädchen über den Fluss, und der Wind verwirbelte die Rufe ihrer Verfolger zu unkenntlichen Lauten.
»Weiter!«, rief Hanna. »Weiter!«
Sie liefen, bis sie nicht mehr konnten, bis sie nach Luft japsend stehen blieben und sich umsahen. Hanna spähte angestrengt zwischen den Schneeflocken hindurch, aber keine dunklen Gestalten brachen daraus hervor.
»Wohin jetzt?«, fragte Réka ausgelassen. »Dorthin?« Sie wies auf das schwache Glimmen, das links von ihnen durch die Dunkelheit waberte.
»Nein. In den Wald. Wir müssen zur Höhle, bevor die Pforte geschlossen wird. Komm.« Hanna zog ihren Schützling die Uferböschung hinauf, durch das knisternde Schilf bis unter die hohen Stämme. Hier fiel der Schnee nicht ganz so dicht. Die Dunkelheit schien aus den Bäumen zu kriechen und aus dem Himmel zu stürzen.
»Du kennst dich hier aus, ja?«, fragte Réka.
»Natürlich«, sagte die Ältere. »Es ist unser gemeinsamer Traum, oder nicht?«
»Es fühlt sich nicht an wie ein Traum.« Réka lehnte sich gegen einen Baum mit rissiger Rinde, der mit silbernem Raureif überzogen war. »Es fühlt sich so echt an wie sonst nichts. Wo ist Kunun?«
»Kunun ist am Fluss. Er wartet darauf, dass ich das Zeichen zum Aufbruch gebe. Das Zeichen, dass das Blut seine volle Wirkung entfaltet.«
Hanna musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Atschorek sich hinter ihnen aufgebaut hatte. Die Vampirin stand da, die Arme vor der Brust verschränkt, und starrte die Freundin ihres Bruders hasserfüllt an. Nie zuvor hatte Hanna so viel Gefühl in dem kühlen Antlitz gesehen.
»Oh, nein«, flüsterte sie.
»Jetzt ist die Stunde da«, sagte Atschorek. »Wenn Réka stirbt, wird sich die Kraft eines jeden Schluckes vervielfachen. Leben, freiwillig geopfert … Dann wird es doch noch ausreichen. Dann reicht selbst der winzigste Tropfen, den die Schatten aus dem Pokal getupft haben. Réka für Kunun. Und du für Mattim. Denn wir haben ihn, und er wird mit Kunun über den Fluss gehen. Dein Freund wird als Erster sterben, wenn die Kraft des Blutes nicht genügt.«
»Du lügst«, sagte Hanna. »Ihr habt ihn nicht.«
»Nein? Und was ist das?« Atschorek hob die Hand und zeigte den Mädchen einen Schuh - einen weißen Turnschuh ohne Schnürsenkel. »Wir haben ihn«, sagte Atschorek sanft, so als täte es ihr unendlich leid. »Und für euch zwei gibt es kein Entkommen mehr.«
»Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher«, stieß Hanna hervor. »Komm, Réka. Lauf, lauf!«
Atschorek lachte hinter ihnen auf.
Hanna bemerkte die Wölfe nicht sofort, so sehr verschmolzen sie mit der Dunkelheit. Sie fuhr zusammen, als sie die Tiere plötzlich auf sich zuschleichen sah, mit langsamen, bedächtigen Bewegungen, anmutig und gewaltig zugleich.
Der eine war fast so groß wie ein Bär, ein riesiges schwarzes Untier mit einem Silberschimmer auf dem Rücken, der andere war kleiner und schlanker und erinnerte an einen Fuchs. Er richtete seine runden Augen auf das jüngere Mädchen, und ein merkwürdiges Japsen kam aus seiner Kehle.
Réka wimmerte. »Was ist das? Hanna, was ist das?«
»Beißt sie nicht«, sagte Atschorek, »ich will nicht, dass sie Schatten werden. Treibt sie zu mir. Wir brauchen ihr Blut und ihr Leben.«
Hannas Herz hörte fast auf zu schlagen. Die Angst schien in ihr zu explodieren - und war auf einmal fort. Zurück blieb die Wut.
»Es reicht!«, rief sie. »Ich habe jetzt wirklich genug! Ich habe genug davon, dass alle mein Blut wollen oder mein Leben und dass es ständig darum geht, ob ich gebissen werde oder nicht!« Ohne dass sie es wollte, wurde ihre Stimme lauter. »Es reicht! Ein für alle Mal!«
Der rote Wolf blickte von Réka zu ihr, und die Überraschung war in seinem Tiergesicht zu lesen, in seinen intelligenten Augen.
»Du bist Wilder«, sagte Hanna, »der Spieler. Hab ich Recht?« Ein frecher Wolf. Er machte keinerlei Anstalten, sie zu bedrohen. »Wessen Spiel spielst du? Atschoreks? Kununs? Oder dein eigenes? Was hältst du davon, lieber zu spielen, statt ihre Befehle zu befolgen?«
Der schwarze Wolf schob sich näher heran. Dort hinten zwischen den Bäumen wartete die Schattenfrau.
»Bist du jetzt völlig übergeschnappt?«, fragte Atschorek lachend. »Versuch gar nicht erst wegzurennen. Du hast keine Chance, ihnen zu entkommen.«
»Ich laufe nicht vor euch weg«, sagte Hanna zu den Wölfen. »Ich bin Mattims Freundin. Ich habe gar nicht die Absicht wegzulaufen, während der Prinz kämpft.« Sie kniete sich hin, vor den schwarzen Wolf, denn sie erinnerte sich daran, dass Mattim ihr erzählt hatte, Bela sei schon früh ein Anführer gewesen.
»Hilf mir, Bela«, sagte sie leise. »Du kennst Mattim. Dein Fell ist schwarz, aber dein Herz ist nicht finster. Es gibt keinen Grund, Kunun und Atschorek zu gehorchen. Kunun hat seinen eigenen Bruder in den Fluss gestoßen, obwohl er nicht wusste, ob Mattim dabei sterben würde oder nicht. Atschorek hat ihn mit dem Schwert verletzt, und es hat ihr Spaß gemacht. Aber ein Wolf würde sein Rudel niemals verraten.« Sie wusste nicht viel von Wölfen. Von echten Wölfen, die nicht mehr waren als Tiere, und noch weniger wusste sie, was einen Schattenwolf ausmachte. Aber ihr Gefühl sagte ihr, dass sie nicht böse waren, keine hungrigen Tiere auf der Jagd. Nur Brüder in anderer Gestalt, einen Schritt näher beim Licht als die Schatten, einen Herzschlag näher am Leben als die Vampire.
»Wir haben keine Zeit«, sagte Atschorek ungeduldig. In der Hand hielt sie einen Dolch. Wilder knurrte leise. Nicht Hanna, sondern seine Schwester knurrte er an.
»Scht«, flüsterte Hanna. »Zeig ihr nie, was du fühlst. Lass sie nie wissen, wer du bist. Tu, als wolltest du Réka beißen. Dann ist sie wertlos für die Schatten.«
Wilder knurrte lauter. Bela starrte sie an, unergründlich. Dann sprangen die beiden Wölfe los, gleichzeitig. Im nächsten Moment lag Hanna auf dem Rücken und spürte Belas heißen Atem im Gesicht. »Nicht!«, rief Atschorek in heller Panik. »Lass das! Ich hab gesagt, lass das! Wilder, nein! Bela, zurück!«
Der Wolf über ihr öffnete das Maul. Die Zähne wie ein Heer aus Elfenbein, funkelnd und tödlich. Dann fuhr der Kopf herab, und er umfasste Hannas Schulter.
Sie schrie auf. Neben ihr hörte sie Réka kreischen. Das Mädchen schrie vor Angst, laut und panisch, und Hanna schrie mit, so laut und gellend, wie sie nur konnte. Obwohl sie die Spitzen des gewaltigen Gebisses nur ganz leicht durch den Stoff spürte, brüllte sie, als würde sie unter fürchterlichen Schmerzen leiden. Ihre Hände krallten sich in das dichte Fell, als wollte sie ihn von sich stoßen oder umarmen.
Atschorek fluchte laut und sehr undamenhaft, doch gleich darauf lachte sie wieder. »Na gut«, sagte sie. »Schatten. Glaubst du, damit hast du mich hereingelegt, Hanna? Indem du die Wölfe überredet hast, euch zu verwandeln? Ihr habt euer Leben an die Dunkelheit verloren. Ihr habt euch geopfert. Nun werden wir über den Fluss gehen, bis nach Akink, und uns den Sieg holen.« Sie riss die Arme in die Höhe und stieß einen gellenden Triumphschrei aus. Im Wald antwortete ihr das Geheul der Wölfe, ein wilder Chor.
»Das Zeichen zum Angriff«, flüsterte Hanna.
»Ja«, sagte Atschorek, »meine liebe Schwester. Nun geht es nach Hause.«
 
Die Schatten kamen über den Fluss, hatten das diesseitige Ufer allerdings noch nicht erreicht. Die Bogenschützen waren bereits dabei, ihre brennenden Pfeile hinauszuschicken, aber die Flammen verloschen, sobald sie in den Schnee fielen. Dort hinten kamen sie, näher und näher, Kununs unheilvolle Horde …
Mit schreckensbleichem Gesicht wandte König Farank sich an Mattim. »Wie viele sind es?«
»Mindestens zweihundert«, sagte der Junge. »Ungefähr für so viele müsste das Blut gereicht haben. Die anderen werden drüben am Ufer warten.«
»Sollen sie vor meinem Licht zu Asche zerfallen«, sagte der König grimmig.
Die Bogenschützen machten ihnen Platz. Mattim achtete nicht auf die Blicke, die sie ihm zuwarfen. Farank kletterte die Sprossen in der Kaimauer hinunter. Sein Sohn zögerte einen Moment, dann folgte er ihm. Unter seinen Füßen, unter dem getrockneten Blut, brannte das kaum wahrnehmbare Licht des Flusses.
Der Lichtkönig schritt den Schatten entgegen, die in einer langen Reihe auf die Stadt zumarschierten. Mattim ging neben ihm und spürte, wie die Wirkung von Hannas Blut allmählich nachließ. Seine Augen schmerzten und tränten, als würde er direkt in die Sonne blicken. Unter seinen Fußsohlen glühte das Licht, stärker, immer stärker …
Im Dämmerdunkel verschwammen die Gesichter der Schatten. Mattim erkannte Kunun an seinem Gang. Groß und schlank, der lange, schwarze Mantel flatterte im Wind hinter ihm her. Kalt und scharf wehte der Wind über die glatte Eisfläche und fuhr wie ein Messer durch die darauf liegende Schneeschicht.
»Halt!«, rief Farank. »Keinen Schritt weiter!«
Aus der Dunkelheit ertönte Kununs Antwort: »Wir kommen nach Hause.«
»Sie vergehen nicht vor mir«, flüsterte der König fassungslos. »Wie kann das sein? Ist mein Licht zu schwach?«
Über ihnen flogen die glühenden Pfeile, ohne auch nur einen Schatten zu treffen. Zischend versanken sie im Schnee.
»Es ist nicht zu schwach«, sagte Mattim und ergriff die Hand seines Vaters. »Es wird niemals zu schwach sein. Das Licht wird siegen. Alles, was die Finsternis je angerichtet hat, kann es heilen und wiedergutmachen.«
»Aber wie soll es denn siegen? Wie können wir sie aufhalten? Beim Licht, wie?« Farank packte Mattims Schultern, schüttelte ihn. »Was soll ich tun?«, rief er verzweifelt.
»Du musst das Eis schmelzen«, sagte Mattim. »Es gibt keine andere Möglichkeit.«
Der König starrte seinen Sohn an. »Das ist unmöglich. Niemand kann so viel Eis zum Schmelzen bringen.«
»Das Licht kann es«, widersprach der Prinz. »Komm, Vater, bitte!«
Sie sahen einander an. Mattims Augen, grau wie der Fluss, den er schon immer geliebt hatte … dunkel schien Faranks Blick dagegen, dunkel, von Gram und Verzweiflung erfüllt.
»Bring das Eis zum Schmelzen. Ich wollte, ich könnte es. Tu es für mich, Vater. Bitte.«
Der König blickte an ihm vorbei auf das Heer, das auf sie zukam.
Kunun führte die Schatten an. Schnee lag auf seinen Schultern und färbte den schwarzen Mantel weiß. Schnee lag auf seinem dunklen Haar wie ein Diadem aus Eis.
»Nun hat es sich gezeigt, wer du bist, Mattim«, sagte er. »Ein Verräter vom Anfang bis zum Ende.«
»Wann wirst du je lernen, mir zu vertrauen, Kunun?«, fragte der Prinz. »Wusstest du nicht, dass irgendwann der Tag kommen würde, an dem das Licht vor dir und deinem Schattenheer in die Knie geht? Hast du nicht schon immer gewusst, dass ich dir den Sieg bringen würde? Ich bringe dir den König des Lichts, damit du mit ihm tun kannst, was du willst.«
Er drückte die Hand seines Vaters. Vertrau mir, bitte. Vertrau mir einfach.
»Mein Herr und König«, flüsterte er. »Knie nieder. Nur dieses einzige Mal.«
Fragend blickte Farank seinen jüngsten Sohn an. So viel Verwirrung und Verzweiflung, so viel Angst … und Mattim empfand seine eigene Ruhe wie etwas Fremdes, empfand seine Kraft wie etwas, das in ihm wohnte und schon immer dort gewohnt hatte, ohne dass er davon wusste. Alle Zuversicht und Hoffnung legte er in seinen Blick und schenkte sie seinem Vater. Das Band zwischen ihnen war noch da. Zwischen ihnen, nicht nur wie ein Lichtstrahl zwischen zwei Spiegeln, sondern als würde dieser Strahl tausendfach vervielfältigt, bis er stärker war als ein Seil, stärker als eine eiserne Kette.
Mattim führte die Hand des Königs nach unten. Farank leistete keinen Widerstand. Er ging in die Knie und legte die Hände in den Schnee, wischte ihn zur Seite, bis er das Eis berührte, das glatte, dunkle Eis über dem Fluss, dick und hart und fest.
»Der Fluss gehört dem Licht«, sagte Mattim leise. »Seit unzähligen Generationen. Er ist bereit, wenn du es bist.«
Der König kniete immer noch, die Hände auf dem Eis.
»Du kapitulierst?«, fragte Kunun, seine Stimme scharf und kalt wie der Wind über dem Fluss. »Du kniest nieder? Vor mir?«
Farank hielt den Kopf gesenkt. Er starrte auf seine Hände, auf das dunkle Eis, auf seine Finger, auf die sich weiße Flocken legten, kalt, immer neue, immer mehr. Kälte, die sich vom Himmel auf den Fluss stürzte.
»Sind wir verloren?«, fragte der Monarch leise. »Bin ich verloren? Ist das Licht verloren? Wer bist du, Mattim?«
»Ich bin derjenige, der den Sieg bringt«, sagte der Prinz und legte seine Hand über die Hand seines Vaters. »Für Akink.«
Das Eis knackte. Unter den Händen des Königs entstand ein Riss, schmal nur, aber so tief, als hätte sich die Erde gespalten. Wasser lief über seine Finger. Farank beugte sich über den Spalt, und Mattim sah, dass das Gesicht des Königs im Lichtschein glänzte. Wie ein Blitz fuhr das Licht durch das Eis, eine Linie aus Feuer, von einem Krachen begleitet, laut wie Donnerschläge. Im Zickzack spaltete es die Eisschicht, und mit dem Licht, das aus der Tiefe emporstrahlte, kam das Wasser.
Einer der Schatten schrie auf, laut und gellend.
»Wir können es schaffen!«, brüllte Kunun. »Weiter! Los, kommt! Das Blut schützt uns! Fürchtet euch nicht, geht weiter! Die Mädchen haben sich geopfert! Geht schon weiter!«
Aber die Schatten wichen zurück, fort von dem Wasser, das ihre Füße umspülte, das rasch höher stieg. Sie kreischten, als würden sie verbrannt.
Mattim wich ebenfalls aus, als das Wasser ihn erreichte. Er spürte die Hand des Königs an seinem Arm.
»Wir müssen zurück, schnell, bevor hier alles auseinanderbricht!«
»Nein!« Der Junge umklammerte seinen Vater. »Nein, bitte, hör mir zu. Du musst auf die andere Seite, Vater. Du musst die Höhle erreichen, bevor die Schatten es tun. Dort musst du die Pforte schließen. Vertrau mir ein letztes Mal, bitte! Und jetzt komm!« Er zog den König einige Meter nach hinten, um besser Anlauf nehmen zu können. »Jetzt!«
Sie ließen einander los. Einen Moment lang hatte Mattim Angst, sein Vater könnte sich entscheiden, in die Sicherheit der Stadt zurückzukehren. Aber Farank folgte ihm auch diesmal. Seite an Seite hielten sie auf den Spalt zu und sprangen. Der Junge ging in die Knie, als er aufkam. Das Wasser loderte strahlend um ihn herum auf. Er hatte gewusst, was es bedeutete, mit dem König zusammen aufs Eis zu gehen. Er hatte gewusst, wozu das Licht in der Lage war. Nun streckte es seine nassen Finger nach ihm aus, und kalte Flammen leckten an seinen Beinen.
»Lauf, Vater!«, rief er dem König zu. »Zur Höhle! Ich habe die Stelle markiert, du wirst einen dunklen Händeabdruck auf dem Felsen finden. Dein Licht sollte ausreichen, um es zu erkennen. Leg beide Hände auf das Gestein. Dann wird der Durchgang sich schließen, so wie sich hier das Eis geöffnet hat. Warte nicht auf mich, ich komme nach, so schnell ich kann. Lauf! Bevor sich die Schatten in die andere Welt zurückretten können! Bitte, Vater, beeil dich!«
Der König zögerte nur kurz. Das Wasser reichte ihnen bereits bis zu den Knien. Dann nickte er und verschwand in der Dunkelheit.
Mattim kämpfte sich vorwärts. Im Licht, das immer strahlender unter dem Eis hervorbrach, sah er die Schatten zurück ans jenseitige Ufer laufen. Einige waren bereits vom Wasser eingeholt worden und schrien erneut, als stünden sie in Flammen. Der König rannte mit wehendem Mantel, und Mattim dachte nur: Dreh dich nicht um. Du darfst nicht sehen, was mit mir geschieht. Dreh dich bitte nicht um …
Wieder krachte es, und ganze Eisschollen brachen auseinander. Das warme Leuchten des Wassers erhellte die Dämmerung. Der Prinz fühlte den Boden unter seinen Füßen schwanken, dann merkte er nur noch, wie er nach hinten rutschte.
 
Réka rührte sich nicht von der Stelle.
Hanna packte das Mädchen bei den Schultern und schüttelte es. »Komm zu dir! Komm endlich zu dir! Wir müssen zurück zum Fluss. Sie haben Mattim, und wenn die Kraft des Blutes nicht genügt, dann wird sie ihm auch nicht genügen … Réka!«
»Dies ist ein Traum«, flüsterte die junge Ungarin und starrte auf die beiden Wölfe, die nach wie vor bei ihnen waren. Auf Wilder, der immer wieder versuchte, sich an ihre Beine zu schmiegen. »Nur ein Traum.«
»Hör auf!« Hanna versetzte Réka eine schallende Ohrfeige, um sie zu sich zu bringen. »Für so etwas haben wir keine Zeit. Ich werde dich nicht alleine hier im Wald lassen. Komm endlich!«
»Was ist das?«, fragte das Mädchen.
Hanna hatte noch nie die Hörner von Akink gehört, den klagenden, alarmierenden, aufwühlenden Ruf, der weithin über das Land schallte, aber sie fühlte, wie ihr Herz noch schneller schlug. Gefahr, Gefahr! Es war unmöglich, diesen Ton nicht zu verstehen, ihm nicht zu folgen.
Bela warf ihr einen wilden Blick zu und verschwand dann mit langen Sprüngen in der Dunkelheit. Wilder dagegen blieb an ihrer Seite. Mit kreideweißem Gesicht wich Réka vor ihm zurück.
»Das ist nicht gerade hilfreich!«, fauchte Hanna ihn an. »Verschwinde endlich!«
Dort war schon der Fluss. Es hatte aufgehört zu schneien, und sie blickte über ein weißes Band hinweg, welches das diesseitige Ufer von der Stadt auf der anderen Seite trennte. Glitzernde Lichtpünktchen tanzten auf der Mauer; sie brauchte eine Weile, um zu erkennen, dass es brennende Pfeile waren. Da bemerkte Hanna die dunklen Gestalten auf dem Eis. Sie hörte das Bersten und Krachen und das hervorbrechende Licht, und jeder Schlag fuhr ihr wie ein Dolchstoß durchs Herz. Irgendwo dort unten war Mattim. Und ihr Blut würde ihn nicht lange schützen, wenn das Wasser über ihn kam.
 
Der Prinz tauchte in die brennenden Fluten. Verzweifelt griff er nach dem Eis und versuchte, sich an der brechenden Kante wieder hochzuziehen. Seine Hände krallten sich in die zerberstenden Splitter, er fiel zurück, versuchte es erneut, während der Fluss ihn festzuhalten suchte, an ihm riss, ihn mit übermenschlicher Kraft in die Tiefe zog. Er spürte die Hände an seinem Arm, an seinem Bein … nicht der Donua. Sondern Kunun. Kunun, der hinter ihm im Wasser ruderte, wild um sich schlagend, der sich an ihm festhielt, ihn zurückzog, ihn hinunterriss, als kämpften sie beide am Rand eines brodelnden Vulkans.
»Lass - mich - los!«
Der Schattenprinz lachte wie ein Irrer. »Bring mir den Sieg, kleiner Bruder!«
»Lass endlich los! Wir werden beide untergehen!«
Kunun zog ihn mit sich, und das Wasser schlug über ihnen zusammen. Mattim wehrte sich verzweifelt. Überall war Wasser, über ihnen die brechende, splitternde Decke aus Eis, die ihn hier unten festhielt. Das Licht umgab ihn von allen Seiten, blendendes, gleißendes, verzehrendes Licht, das zur Tiefe hin immer heller wurde. Vor ihm schwebte Kunun im Wasser, als flöge er mitten im Feuer, sein Haar schien in Flammen zu stehen, hinter ihm flatterte der brennende Mantel. Mattim breitete die Arme aus und versuchte nach oben zu schwimmen, wie er es schon einmal getan hatte, aber sein Bruder umklammerte ihn in seiner tödlichen Umarmung, und sie sanken beide tiefer und tiefer.
 
Hanna schrie, als sie ihren Freund versinken sah. Dort im Licht, das aus dem Eis strahlte, blendender als ein Stern. Sie verfolgte, wie die beiden Männer kämpften, untergingen und wieder hochkamen. »Mattim! Mattim!«
Sie wollte zu ihm, und ihre Füße berührten schon das Eis, als Réka sie zurückriss. »Spinnst du? Du wirst einbrechen!« Im nächsten Moment erkannte sie den Vampir. »Kunun!«, kreischte sie. »Da ist Kunun!« Nun wollte sie losstürzen, um den Mann, den sie liebte, aus dem Wasser zu ziehen.
Der Schrei brachte Hanna zur Besinnung. Sie wandte sich um und fasste das Mädchen am Arm. »Réka, hör mir zu.« Sie zwang sich zur Ruhe, zwang sich, langsamer und gefasster zu sprechen. Wenn die Brüder kämpften, bis die Wirkung des Blutes nachließ, waren sie beide verloren. Es gab nur einen Weg, um Mattim zu retten, um dafür zu sorgen, dass er länger durchhielt als Kunun.
»Réka, dies ist dein Traum. Dies ist der Blick in dein Herz. Was fühlst du? Willst du sterben? Willst du im Wasser untergehen oder willst du leben?«
»Leben«, schluchzte Réka. »Er soll nicht untergehen, er soll leben!«
»Dies ist dein Traum«, wiederholte Hanna eindringlich. »Was ist in deinem Herzen? Willst du gemeinsam mit Kunun untergehen? Willst du, dass ihr beide in der Nacht und der Finsternis versinkt? Willst du ihm dein Leben opfern? An deinem Geburtstag? Willst du ihm deine Zukunft opfern? Alles, was du bist und jemals sein könntest?«
»Ja!«, schrie Réka. Sie riss sich los und machte einen Schritt vom Ufer fort. Sofort versank ihr Fuß im eiskalten Wasser, während um sie her das Eis krachend zerbarst. Mit einem Aufschrei sprang die Fünfzehnjährige nach hinten. »Nein«, schluchzte sie. »Nein, ich will leben.«
»Nimm dein Opfer zurück. Halt dein Leben fest. Du darfst Kunun nicht ins Eis folgen. Willst du leben?«
»Ich will leben.« Tränen rannen über Rékas Wangen. »Ich will leben!«
»Ist das dein innerster Wunsch?«, flüsterte Hanna. »Du willst nicht sterben?«
»Ich will, dass dieser Traum endet«, sagte Réka. »Ich will zurück dorthin, wo es hell ist. Ins Licht. In die Wärme. In die Sonne. Ich will nicht sterben. Ich will leben!« Als wären sie wirklich dort, in Rékas Herzen, brach das Eis völlig auseinander, und das Licht aus der Tiefe des Flusses erleuchtete Ufer und Stadt. Es war taghell.
 
Die Brüder kämpften noch immer miteinander, in den Fluten, umgeben von Licht und Brand, und sanken tiefer und tiefer. Auf einmal ging ein Ruck durch Kununs dunkle Gestalt, und er öffnete die Hände. Sein Gesicht verzerrte sich, lautlos schrie er seine Qual hinaus. Seine Augen, die noch dunkler zu werden schienen, kündeten von einem Schmerz, der unvorstellbar war. Von allen Seiten griff das Licht nach ihm mit züngelnden Flammen, Schlingpflanzen aus der Tiefe streckten sich glühend nach ihm aus. Mattim beobachtete, wie sein Bruder von ihm fort sank, dem Grund zu, die Arme haltsuchend ausgestreckt, und verstand nur das eine: Rékas Blut schützte Kunun nicht mehr.
Demnach würde auch sein Schutz in wenigen Augenblicken aufgebraucht sein, und das Licht würde ihn verzehren und verschlingen, so wie der Schein einer Lampe, angezündet in einem finsteren Zimmer, die Dunkelheit verschlang. Nur noch wenige Augenblicke … und dennoch konnte er nicht nach oben schwimmen, obwohl er eben noch um nichts anderes gekämpft hatte. Mit raschen Schwimmstößen setzte er Kunun nach, tiefer hinab ins hellere Licht, bekam die Hand seines Bruders zu packen und zog ihn mit nach oben.
Magyria 01 - Das Herz des Schattens
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