NEUN
EIN DORF, MAGYRIA
Sie horchten. Warteten und horchten. Mattim
merkte, wie ihn die Blicke seiner Kameraden streiften, immer
wieder. Plötzlich begriff er, dass sie auf ihn hofften. Kein
Schatten konnte sich dem Licht nähern, kein Schatten konnte die
Gegenwart eines Lichtprinzen ertragen. War es nicht so? Aber tief
in ihm dröhnte die Verzweiflung wie eine Trommel, die den Takt
seines Herzens schlug. Der Schatten war mir so nah … und auch
das wissen wir jetzt. Dass ich sie nicht schützen kann, keinen von
ihnen.
Sie zuckten alle zusammen, als sie nebenan das
Schlagen von Hufen gegen die Bretterwand hörten. Der Lärm ebbte
nicht ab, ein Trommelwirbel der Angst, lauter als ihr Herzschlag.
Die Akinker krallten ihre Hände um die Waffen und blickten
flehentlich auf Morrit, doch der schüttelte den Kopf.
»Aber …«, flüsterte einer, als Morrits dunkle Augen
ihn zum Schweigen brachten.
Stille kehrte ein. Sie warteten, horchten und
spürten ihre schwitzenden, bebenden Körper, die sie zu dem machten,
was sie waren. Menschlich.
»Ich möchte kein Wolf sein«, flüsterte Mirita neben
ihm. »Alles, nur kein Wolf.« Er fühlte, wie sie an seiner Seite
zitterte, und ihre blonden Locken wirkten auf einmal welk.
»Du wärst also lieber ein blutsaugender Schatten
als ein Wolf?«, fragte Mattim, erstaunt, wie man so eine Wahl
treffen konnte.
»Still«, befahl Morrit.
Die Stunden vergingen. Draußen begannen die ersten
Fäden der Dämmerung das Muster des Tages zu weben.
»Bald«, flüsterte jemand.
Auf einmal war er da. Er trat einfach aus der Wand
heraus, ein fremder Mann, der aussah wie sie, nicht sehr groß und
nicht zu hager, jung, ein kleines Bärtchen unter der Nase. Bevor
irgendjemand aufschreien konnte, hatte er die Schultern des
nächsten Wächters ergriffen und ihn zu sich herangezogen. Sie
schrien alle gleichzeitig, mit dem Opfer zusammen, sprangen auf,
jemand holte mit dem Schwert aus und traf doch nur den Wächter,
während der Schatten ihm schon die Zähne in den Hals schlug. Dann
verschwanden sie gleichzeitig. Der Schatten trat zurück in die
Wand, der Wächter, die Hand auf der Wunde, stöhnte einmal auf, fiel
in seine Kleider hinein und stand als Wolf vor ihnen. Von allen
Seiten stachen und hieben Waffen nach ihm, aber er tauchte
erschrocken winselnd unter ihnen hindurch, rannte in Panik unter
Stühlen und zwischen Beinen hinweg, während sie alle fortsprangen,
fand die steile Leiter nach oben und hechtete aus dem Stand hinauf.
Seine Krallen streiften die Sprossen, er zog sich hinauf, während
eine Lanze sich hinter ihm ins Holz bohrte, und verschwand aus
ihren Augen.
»Kommt in die Mitte«, drängte Morrit, »schnell, die
Waffen nach außen. Prinz, in unsere Mitte!«
Nur Mirita gehorchte nicht, während sich die
anderen angstvoll zusammendrängten, möglichst weit fort von den
Wänden. Die Wächterin schritt rasch durch den Raum, nahm die
Öllampe vom Haken und hielt sie wie eine Waffe in den Händen.
»Sei vorsichtig«, flüsterte Morrit.
Sie nickte. Ihre dunkelblauen Augen streiften den
Prinzen. Die Andeutung eines Lächelns. Wir kriegen
ihn.
»Hockt euch hin«, befahl Morrit, so leise, wie er
noch nie einen Befehl gegeben hatte.
Nur Mirita blieb stehen; so warteten sie auf den
Schatten.
Lautlos trat er durch die Wand. Auf einmal stand er
vor ihnen, und fast im selben Moment warf ihm Mirita die Lampe vor
die Füße. Die anderen hörten sie zerbrechen, und sofort schlugen
die Flammen hoch und fraßen sich an den Beinen des Schattens
hinauf.
Brennend taumelte er auf sie zu und schrie dabei so
laut, dass es in ihren Ohren gellte. Mattim drehte sich um, gerade
noch rechtzeitig, um aus den Wänden weitere Schatten treten zu
sehen. Einer der Wächter hackte mit dem Schwert nach ihnen, als ihn
von hinten ein weiterer Schatten ergriff. Mattim verfolgte nur
noch, wie sich ein braunhaariger Kopf über den sehnigen Hals des
Wächters hermachte, da fühlte er sich von Morrit gepackt und
weggerissen.
»Flieht!«, schrie er. »Auf die Pferde! Flieht!
Kämpft nicht! Flieht!«
Er zog den Prinzen durch die Tür in den Stall. Sie
wussten nicht, was sie dort erwartete, aber es waren tatsächlich
noch ein paar Reittiere da, unruhig von dem Geschrei und dem
Brandgeruch. Sie schwangen sich auf die Pferde, ohne sich die Zeit
zu nehmen, sie zu satteln. Eine Wächterin entriegelte das Tor -
trotz allem, was hier geschehen war, war es zu - und wurde von den
hereinströmenden Schatten umgeworfen.
»Reite!«, brüllte Morrit.
Mattim trieb sein Pferd nach vorne. Es scheute vor
den Gestalten, die auf es zuliefen, doch dann bemerkte es die Wölfe
und stürmte los. Unzählige Hände griffen nach dem Prinzen, als er
durch die Schatten ritt, hinaus auf die Straße, in den frühen
Morgen. Neben ihm und hinter ihm galoppierten andere, aber er
drehte sich nicht um, sondern hielt sich an der Mähne des Schimmels
fest und presste die Knie gegen den glatten Pferdeleib. Nur fort
von dem Geschrei hinter ihm, das wie ein zweiter Brand hinter ihm
loderte,
von dem fürchterlichen Geschrei … Die Pferde preschten durchs
Dorf, kopflos, wildgeworden von dem Lärm und den Wölfen. Da war
schon der Weg durch den Wald, genau vor ihnen. Hier herrschte noch
die Nacht, und in dem Moment, als sie ins Dunkel tauchten,
erwartete Mattim, dass alle Gestalten der Finsternis sich auf sie
stürzten. Er warf einen kurzen Blick zurück und sah ein paar Wölfe
nicht weit von sich rennen, mit so großen, ausgreifenden Sprüngen,
dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis sie ihn erreicht
hatten.
»Reite zu!«, schrie Morrit irgendwo hinter ihm.
»Rette dich!«
Er hätte sein Pferd gar nicht anhalten können,
selbst wenn er es gewollt hätte.
Sie hetzten über den Weg. Äste schlugen ihm ins
Gesicht. Er wusste nicht, wer noch hinter ihm war, wer es geschafft
hatte, wie viele Wölfe ihnen auf den Fersen waren. Nur das
Hufgetrappel hinter ihm verriet ihm, dass er nicht alleine
war.
Es dauerte lange, bis die Pferde langsamer wurden,
so erschöpft, dass sie zitterten, bis sie schließlich stehen
blieben und atmeten, die großen Augen geweitet vor Entsetzen.
Morrit, ein blutiges Schwert in der Hand, stieg
vorsichtig ab. Er nickte jedem von ihnen zu und nannte ihre Namen.
Die beiden Mädchen waren immer noch dabei, Mirita und Goran, blass
und lebendig.
»Zehn«, zählte der Anführer der Wächter mit einer
Stimme, die so grau und staubig und müde war wie sein Pferd. »Nur
noch zehn. Aber du bist da, mein Prinz.«
»Ich bin da«, krächzte Mattim und versuchte, die
verkrampften Finger aus der Mähne des Schimmels zu lösen. Er fiel
hin, als er am Boden aufkam, richtete sich mühsam auf und torkelte
zur Seite.
Morrit nickte ihm zu. »Bleib sitzen. Eine kleine
Weile gönnen wir uns zum Ausruhen. Dann müssen wir weiter.«
»Die Pferde können keinen Schritt mehr tun«, sagte
Goran. Alt wirkte sie auf einmal, als sie den Mund öffnete und
fragte: »Was war das? Was, beim Licht und bei allem, was glänzt,
war das?«
»Das war der Feind«, antwortete Morrit.
»Niemand hat uns gesagt, dass sie durch Wände gehen
können! Warum haben wir uns verbarrikadiert?«
»Ich wusste es nicht«, sagte Morrit, und es klang
wie ein Stöhnen.
»Wir hätten mehr Lampen gebraucht«, wandte Mirita
ein. »Warum haben wir nichts mitgenommen, womit man gegen Schatten
kämpfen kann?«
Morrit nickte ihr dankbar zu. »Gut gemacht. Wir
dachten, wir ziehen nur gegen Wölfe ins Feld. Wir hätten damit
rechnen sollen, dass die Schatten nicht weit sind, dort, wo die
Wölfe heulen.«
»Der Jäger hat die Jagd eröffnet«, sagte Mattim. Er
rieb sich die Arme, in denen kein Gefühl mehr war. Seine Beine
zitterten so, dass er immer noch nicht aufstehen konnte. »Und wir
sind die Beute.«
»Das war eine Falle«, meinte Morrit. »Das Dorf. Der
ganze Einsatz.«
»Das kann nicht sein. Diese verzweifelte Frau, die
Akink um Hilfe gebeten hat, war garantiert kein Schatten.«
»Eine ganz normale Frau, das glaube ich gern«,
stimmte Morrit zu. »Aber wir hätten uns fragen sollen, warum sie
überhaupt durchgekommen ist, wenn das ganze Dorf von Wölfen
belagert war. Sie haben eine Reiterin absichtlich entkommen lassen,
Prinz Mattim, damit sie Hilfe aus Akink holen kann. Ich hatte
gleich so ein seltsames Gefühl, als wir hergekommen sind.«
»Warum sollten sie ein ganzes Dorf auslöschen, nur
um einen Trupp Soldaten in die Finger zu bekommen? Sie können
jederzeit die Flusshüter angreifen, wenn ihnen der Sinn danach
steht.«
»Nur dass du zurzeit nicht in der Patrouille bist,
Prinz Mattim. Sie wussten das! Auf der Brücke kommen sie nicht an
dich heran. Beim Licht, warum haben wir dich nicht dort gelassen!
Sie beobachten uns. Sie wissen alles über uns! Begreifst du es
nicht? Dies war keine Falle für eine Handvoll Soldaten. Wir
dachten, wir nehmen dich zu unserem Schutz mit, aber aus
irgendeinem Grund konnte dein Licht ihnen nichts anhaben. Auch das
müssen sie gewusst haben.« Morrit blickte sehr ernst drein. »Es war
eine Falle für dich, Prinz Mattim. Nicht wir sind hier die Beute,
sondern du.«
Mattim brauchte eine Weile, um diesen Gedanken auf
sich wirken zu lassen. Er dachte an die Gestalt unter den Bäumen.
Komm her … Komm, Bruder.
Sein Mund verzog sich zu einem grimmigen Lächeln.
»Aber sie haben mich nicht erwischt«, sagte er. »Wir sind ihnen
entkommen.«
»Noch lange nicht. Wir sind mitten im Wald, mit
Pferden, die vor Erschöpfung bald zusammenbrechen. Und es ist noch
ein langer Weg nach Hause. Trotzdem bringen wir dich wieder nach
Akink.« Sehr eindringlich blickte er jeden von ihnen an. »Es geht
nicht um unser Leben«, sagte er. »Irgendwie bringen wir unseren
Lichtprinzen unversehrt zurück, koste es, was es wolle.«
Sie führten die Pferde hinter sich her. Mattim
ging in der Mitte. Vergeblich hatte er versucht, Morrit davon zu
überzeugen, wie sinnlos das war.
»Glaubst du allen Ernstes, das nützt etwas?«, hatte
er gefragt. »Wenn die Wölfe kommen, gehen die Pferde sowieso durch.
Wenn wir kämpfen müssen, kämpfe ich mit euch.«
Doch Morrit hatte gar nicht mit sich reden lassen.
»Du bist unser Prinz«, sagte er nur. »Und wir bringen dich nach
Hause.«
Auch aus den Gesichtern der anderen war auf einmal
alle Freundschaft, alle Kameradschaft gewichen. Sie betrachteten
ihn wie einen Schatz, den es zu bewachen galt. Er fühlte, wie
Miritas blaue Augen auf ihm ruhten, mit einem Ausdruck
überlebensgroßer Entschlossenheit.
Wie konnte er zulassen, dass sie sich für ihn
opferten? Es war das Licht, das für das Volk strahlen sollte, nicht
umgekehrt.
»Ich kämpfe mit euch. Ich bin bereit, mit euch zu
sterben.«
Morrit lachte unfroh. »Zu sterben? Niemand von uns
wird hier in Ehren sterben, wie es einem Soldaten zukommt. Wenn sie
uns erwischen, werden wir etwas ganz anderes sein. Nicht tot und
nicht lebendig.«
»Warum hat dieser Schatten so geschrien, als er
gebrannt hat?«, fragte Mattim. »Sie sind doch schon tot. Wie kann
ein Untoter leiden?«
»Ich wünsche ihm, dass er gelitten hat«, flüsterte
Mirita, erfüllt von grimmiger Wut. »Für jeden von uns, dem er das
Leben genommen hat.«
»In diesem Kampf gibt es keinen ehrenhaften Tod«,
sprach Morrit weiter. »Wir würden der Albtraum sein, der Magyria
heimsucht. In wessen Hals willst du die Zähne schlagen, prinzliche
Hoheit? Und das ist nicht einmal das Schlimmste.«
Mattim fragte nicht, was das Schlimmste war. Er war
in dem Bewusstsein aufgewachsen, das Licht von Akink zu sein, man
hatte es ihm so oft gesagt … aber es war nicht zu begreifen, dass
von ihm so viel abhing. Jeden Morgen ging die Sonne auf, und jeden
Abend ging sie unter. Wie konnte sie seinetwegen scheinen, oder wie
konnte sie sich seinetwegen verdunkeln?
»Still.« Der vorderste der Wächter hob die Hand.
Sie blieben hinter ihm stehen. Die Pferde spitzten die Ohren. Lag
der Geruch der Wölfe in der Luft? Sie beobachteten ihre
Tiere, doch nichts wies auf die Anwesenheit ihrer schlimmsten
Feinde hin.
Da stieß Goran einen kleinen Schrei aus.
Vor ihnen auf dem Weg, mitten im Sonnenlicht, das
glitzernd zwischen den Bäumen hindurchfiel, stand ein Mann. Er war
groß und schwarzhaarig, sein langer schwarzer Mantel berührte fast
den Boden. Mattim erkannte ihn sofort, obwohl er zu weit entfernt
war, um das Gesicht deutlich sehen zu können, und er kannte die
Stimme, die klar und deutlich zu ihm sprach.
»Komm zu mir, und ich lasse die anderen
gehen.«
Morrit legte dem Prinzen die Hand auf den Arm, als
fürchtete er, Mattim könnte diesem Befehl tatsächlich
gehorchen.
»Komm und hol ihn dir!«, rief er laut, und ohne den
Blick von der dunklen Gestalt zu nehmen, zischte er den anderen zu:
»Schießt, beim Licht, schnell!«
Goran spannte ihren Bogen und ließ einen Pfeil
fliegen, schlank und befiedert, aber ihre Hand hatte gezittert, und
der Fremde musste nicht einmal zur Seite treten. Er lachte leise,
und als er auf sie zuging, rückten die Wächter vor Mattim näher
zusammen.
Der junge Thronfolger hatte dieses Gesicht schon
einmal gesehen, auf einem Bild in einer geheimen Galerie, ein
Antlitz, schön und dunkel wie der Abend.
»Nein«, wollte Mattim rufen, aber wie in der Nacht,
als er den Schatten über den Schläfern gesehen hatte, brachte er
keinen Ton heraus, seine Stimme war fort, nur die Lippen bewegten
sich.
»Dich krieg ich«, murmelte Mirita. Sie wartete
hinter den anderen, und als der Fremde nur noch zwanzig Schritte
entfernt war, ließ sie ihren Pfeil los. Er sang nicht, als er flog,
sondern blieb stumm wie sie alle, und als trüge er Miritas ganze
Wut in sich, bohrte er sich in die Schulter des dunkelgewandeten
Mannes. Dieser zuckte nicht einmal
zusammen. Er wandte den Blick nicht von Mattim, der ihm
entgegenstarrte und zu atmen vergaß. Der Junge wartete darauf, dass
der andere den Aufruf wiederholte, aber der Jäger musterte ihn nur,
ohne die anderen zu beachten.
Hinter ihnen ertönte plötzlich ein lautes Heulen.
Sie fuhren herum und sahen die Wölfe auf sich zukommen, ein ganzes
Rudel, eine graue Flut, die auf sie zuströmte.
»Auf die Pferde!«, schrie Morrit. Der Weg vor ihnen
war frei - nichts wies darauf hin, dass hier eben noch der König
der Schatten auf sie zugegangen war und den einzigen Wegzoll von
ihnen verlangt hatte, den sie ihm nicht geben konnten.
»Reitet!«
Wieder galoppierten sie, auf Pferden, die vor
Furcht mindestens ebenso wahnsinnig waren wie sie. Mattims Schimmel
streckte sich im Lauf, obwohl er kaum noch Kraft besaß. Dann schrie
hinter ihnen gellend ein Mann auf, und Morrit rief wieder: »Weiter!
Weiter!«
Der Schimmel bäumte sich auf. Mattim merkte, wie
ihm die langen Haare durch die Finger glitten. Er erlebte den
Moment so langsam, als hätte er die Macht, den Sturz jederzeit
anzuhalten, fiel vom Rücken des Tieres auf die harte Erde, über ihm
die Hufe von Miritas Braunem. Er rollte sich ab und wartete, bis
die Luft in seine Lungen zurückkehrte. Eins der Pferde rutschte in
die anderen hinein, und er sah die strampelnden Beine eines Rappen,
dann packte ihn jemand am Kragen und schleifte ihn zur Seite.
»Steh auf! Mattim, kannst du aufstehen?« Morrit zog
ihn hoch, und er stand da und rang nach Atem, während um ihn her
die Welt ein einziges Chaos war.
Jetzt erst merkte er, was sein sonst so treues
Pferd dazu gebracht hatte, ihn abzuwerfen. Vor ihnen auf dem Weg
standen Wölfe - nicht so viele wie die, die sich hinter ihnen
heranschlichen, dafür waren sie weitaus größer. Ein
Blick in die runden Augen, die zu ihm herüberstarrten, genügte, um
zu erkennen, dass sie nur seinetwegen hier waren. Wölfe, so schön
und so groß wie das silberne Tier, dem er die roten Spuren auf
seinem Rücken verdankte.
»Schattenwölfe«, flüsterte Morrit neben ihm. »Die
Falle ist zugeschnappt.«
»Sie wollen mich«, flüsterte Mattim zurück.
»Vielleicht lassen sie euch gehen, wenn ich … Mirita!«
Ganz allein trat die junge Bogenschützin den
riesigen Wölfen entgegen. Sie wedelte mit einem Schwert, das sie
mit beiden Händen halten musste, einem Langschwert, das einem der
Wächter gehört hatte. »Verschwindet, ihr Biester!« Mirita hinkte so
stark, dass sie jeden Augenblick zu stürzen drohte. »Weg!
Weg!«
Morrit drehte sich suchend um, griff nach dem
letzten Pferd, das noch stand, packte Mattims Bein und hob ihn
hinauf. »Reite! Wir lenken sie ab. Verdammt, reite, Mattim,
reite!«
Er schlug das Pferd, das sofort losstürmte, und
ging mit gezücktem Schwert auf die Wölfe los.
Das Pferd galoppierte wie der Wind. Mattim warf
einen raschen Blick über die Schulter und sah, dass die großen
Wölfe sich nicht lange hatten aufhalten lassen. Sie waren hinter
ihm und holten rasch auf.
»Schneller!«, schrie er. »Lauf! Lauf!«
Das Pferd schoss förmlich nach vorne. Mattim spürte
schon den Atem der Bestien an seinem Bein … dann waren sie nicht
mehr da, fielen zurück und verschwanden im Wald. Mehrmals blickte
er sich um. Die Wölfe hatten die Verfolgung aufgegeben.
Das Pferd stolperte, fing sich, stolperte wieder.
Zu Tode erschöpft blieb es schließlich stehen, mit bebenden Flanken
und hängendem Kopf.
Mattim lobte es, aber er hatte das Gefühl, dass es
ihn nicht mehr hörte. Es stand da, ergeben, als wartete es auf das
Ende.
Er starrte den Weg zurück, den er geritten war.
Noch gab es von seinen Freunden keine Spur.
»Wo bist du, Kunun?«, rief er laut. »Ich weiß, du
bist da! Aber ich komme nicht zu dir! Nie! Tu, was du willst, ich
werde nicht kommen!«
Er wartete auf eine Antwort, doch der Wald blieb
stumm. Mattim setzte sich neben das Pferd mitten auf den Weg und
wartete auf diejenigen, die von Morrits Truppe übrig geblieben
waren.
Morrit. Mirita. Goran. Zwei weitere Männer, Roman,
der besonders stark humpelte, und Derin. Erschöpft kamen sie näher,
die drei letzten Pferde führten sie. Mattim freute sich, dass sein
Schimmel darunter war, grau und staubbedeckt, aber
unverletzt.
Einige Meter vor ihm blieben sie stehen.
Mirita wollte auf ihn zulaufen, da packte Morrit
sie am Arm. »Nicht. Du weißt nicht, ob er …«
»Mir ist nichts passiert«, sagte Mattim.
»Sie haben dich nicht erwischt?«, fragte Morrit
ungläubig. »Dabei sind sie hinter dir her, und zwar alle, das ganze
Rudel! Dein Pferd - siehst du nicht, dass es blutet? Und wir sollen
dir glauben, dass sie dich nicht geholt haben, dass du immer noch
unser Prinz bist?«
Mattim war so müde, dass er kaum die Hand heben
konnte, um sich das Haar aus dem Gesicht zu streichen.
»Ich bin es«, sagte er. »Ihr könnt mich
untersuchen, wenn ihr wollt, bitte.«
»Du blutest«, sagte Goran. »Da, am Arm.«
Er hatte es gar nicht gemerkt, doch da war
tatsächlich eine Schramme. »Ich bin vom Pferd gestürzt, vorhin«,
sagte er. »Ihr wart dabei, oder nicht?«
»Es ist kaum zu glauben«, meinte Morrit, und in
seinem Gesicht stritt das Misstrauen mit der Hoffnung, »dass sie so
viel unternommen haben, um dich zu fassen zu kriegen,
und dich dann einfach hier zurücklassen, allein und ungeschützt,
ohne sich auf dich zu stürzen.«
Kunun will, dass ich zu ihm komme, dachte
Mattim. Freiwillig. Dass ich komme, wenn er mich ruft. Nur
deshalb bin ich noch am Leben.
»Es ist Mittag«, sagte er. »Die Wolkendecke bricht
gerade auf. Vielleicht sind sie deshalb geflohen.«
»Als wenn die Wölfe das stört!«
»Was wissen wir denn wirklich?«, fragte er.
»Schatten trotzen dem Morgen und treten durch Mauern, Wölfe jagen
uns vor sich her … Was wissen wir schon? Nichts! Gar nichts!«
Roman stöhnte plötzlich auf, und sie blickten
erschrocken zu ihm hin. Er war verletzt, wie sie alle, aber sein
Gesicht war grau vor Angst und Entsetzen, seine Augen geweitet. »Es
tut weh«, schluchzte er auf, »das Licht - es tut so weh.«
Seine Gefährten wichen vor ihm zurück.
»Es tut schrecklich weh«, wiederholte er
fassungslos. »Alles. Meine Augen brennen … Und da«, er zeigte mit
ausgestrecktem Arm auf Mattim, »die Sonne brennt!«
»Er ist ein Schatten!«, rief Goran. »Ein
Schatten!«
»Nein«, protestierte Roman. »Nein, ich …« Er sank
auf die Knie. Ein inneres Licht schien ihn auszufüllen und durch
seine Poren zu strahlen, als wäre dort, in ihm, eine brennende
Lampe. Er schrie nicht einmal mehr, während sie, unfähig sich zu
rühren, gebannt zusahen, wie das Gleißen immer heller wurde, bis
sie für einen Moment geblendet die Augen schlossen.
Roman war fort.
Goran schluchzte auf. Mirita sagte: »Ein Schatten.
Wir sind mit ihm gegangen, die ganze Strecke, und wussten es
nicht.«
»Mir kam es so vor, als wusste er es selbst nicht«,
erwiderte Mattim, immer noch im Bann dessen, was sie gerade
erlebt hatten. Mühsam richtete er sich auf, und auf einmal flog
Mirita auf ihn zu und schlang die Arme um ihn.
»Du bist nicht verbrannt«, sagte sie. »Du bist kein
Schatten. Wir bringen dich jetzt nach Hause.«
Morrits Hand auf seiner Schulter. »Ja. Wir bringen
dich nach Hause.«