DREISSIG
BUDAPEST, UNGARN
»Shoppen?« Rékas Augen leuchteten auf.
»Echt?«
Hanna nickte. Sie verriet nicht, dass sie ihr
letztes Taschengeld zusammengekratzt hatte, damit es reichte. Das
Diktiergerät war teurer gewesen als gedacht, und sie hatte Mattim
nicht um Geld bitten wollen. Viel würde sie Réka nicht kaufen
können. Aber selbst wenn sie dem Mädchen körbeweise Klamotten
geschenkt hätte, hätte es ihr schlechtes Gewissen nicht
beruhigt.
»Hast du Lust? Jetzt gleich? Oder musst du noch
Hausaufgaben machen?«
»Hab eh nicht viel auf.« Réka stürzte vor den
Spiegel im Badezimmer und fuhr sich mit den Fingern durch die
Haare. »Und Attila?«, rief sie. »Der kommt doch nicht etwa mit,
oder?«
»Nein, keine Sorge.« Bei dem, was sie vorhatte,
konnte Hanna den Jungen am wenigsten gebrauchen. »Der spielt heute
Nachmittag bei einem Freund.«
Sie hatte alles bestens vorbereitet. Das
Aufnahmegerät war bereit, sie musste es nur noch einschalten.
»Wie«, hatte Mattim gefragt, »soll Réka es
mitnehmen? In der Jackentasche? Da wird sie es finden. Und dann
wird Kunun es sehen. Sie hat nicht so ein Dings - eine
Handtasche?«
Hanna hatte den Kopf geschüttelt. »Eine Handtasche?
Nein. Wenn man sie dazu bringen will, etwas in der Hand zu tragen,
müsste es eine Einkaufstüte sein.«
Er hatte sie angesehen, nachdenklich, und sie
wartete
darauf, ihn sagen zu hören: Wir müssen das nicht tun. Wir finden
einen anderen Weg.
Aber er hatte es nicht gesagt. Es gab keinen
anderen Weg.
Réka redete munter drauflos, während sie nach Pest
fuhren. Es sprudelte nur so aus ihr heraus, von der Schule, von der
Musik, die sie gerade hörte, von irgendwelchen Kinofilmen. Hanna
hatte Mühe, in Gedanken nicht abzuschweifen, so sehr war sie auf
das konzentriert, was sie sagen wollte. Wie sie es sagen würde, am
geschicktesten, und ob es ihr gelingen würde, die Neugierde des
Mädchens zu wecken.
»Also, ich würde kein Star sein wollen«, sagte Réka
gerade, »mit den ganzen Paparazzi hinter einem her, und man kann
kein Wort sagen, ohne dass irgendwer es aufschreibt, und nachher
lesen es alle in der Zeitung.«
Hanna dachte an das Aufnahmegerät. Natürlich fühlte
sie sich jetzt schon schuldig. Doch das musste sie nun mal
aushalten. Es ist nicht nur für Mattim. Es ist auch für Réka. Es
ist der einzige Weg, sie von ihm zu trennen. Du musst sie belügen,
zu ihrem eigenen Besten.
»Man braucht ein paar Geheimnisse«, sagte
Hanna.
»Genau!« Die Vierzehnjährige nickte heftig. »Jetzt
würde ich dich nicht mehr bitten, uns zu fotografieren. Ich glaube,
ein Geheimnis ist viel mehr wert als ein Foto.«
»Aber zwischen Liebenden«, sagte Hanna, »gibt es
keine Geheimnisse mehr. Wenn man so zusammengehört, dass niemand
etwas zu verbergen hat. Wenn man alles miteinander teilt. Wenn man
den anderen bis auf den Grund seiner Seele blicken lässt.«
Réka lehnte den Kopf an ihre Schulter. »Das klingt
schön.«
Hanna musste sich zusammenreißen, um nicht noch
mehr zu sagen. Frag Kunun, frag ihn … Noch war es zu früh,
zu offensichtlich. Sie musste alles vermeiden, was danach
klang, als würde sie die Beziehung des Mädchens zu dem
Schattenprinzen infrage stellen.
Als sie über den Vörösmarty-Platz gingen und der
eisige Wind ihnen ins Gesicht schlug, dachte Hanna einen Augenblick
lang, sie hätte Kunun gesehen, eine Gestalt in Schwarz. Wenn Réka
ihn jetzt schon traf, bevor sie überhaupt einkaufen gewesen waren,
dann war alles vergebens. Doch dann hasteten die anderen Passanten
vorbei, und sie erkannte Mattim. Schwarze Jeans, schwarze
Lederjacke, das Haar unter einer dunklen Kappe versteckt. Zum
ersten Mal bemerkte sie die Ähnlichkeit der beiden Brüder, zum
allerersten Mal. Es war Kununs Jacke, dieselbe, die er damals am
Donauufer getragen hatte, als er Réka angesprochen hatte, als würde
er sie nicht kennen. Hanna hatte es nicht gemerkt, nicht einmal bei
jener schicksalhaften Begegnung im Fahrstuhl. Unter dieser Jacke
hatte sie Schutz und Wärme gesucht. Sie gehörte Kunun.
Mattim war nur wenig kleiner als sein älterer
Bruder. Und selbst die Art, wie er ihr über die Schulter einen
kurzen Blick zuwarf und dann um eine Ecke verschwand, erinnerte sie
an den Schattenprinzen.
»Was ist?«, fragte Réka. »Hanna?«
»Nichts. Gar nichts. Ich dachte, ich hätte jemanden
gesehen …«
»Vielleicht Kunun?« Réka blickte sich in froher
Erwartung um. »Ich werde ihn heute treffen, das spüre ich.«
»Komm«, sagte Hanna. »Gehen wir was kaufen. Wie
wär’s mit einem schönen Rollkragenpullover?«
»Na ja …«
Wie konnte sie sich darüber wundern, dass die
Brüder sich ähnelten? So verschieden waren ihre Gesichter, so
unverwechselbar … und dennoch, so ähnlich der geschmeidige Gang,
und selbst die Art, wie er ihr kaum merklich zugenickt hatte.
Wie Kunun. Wir, Mattim und ich, sind beide wie
Kunun.
Wir locken Réka in die Falle … Nein. Nein! Sie schüttelte die
düsteren Gedanken ab, hakte sich bei dem Mädchen unter und ließ
sich von ihm zum ersten verheißungsvollen Laden ziehen.
»Oh, das hier ist schön, ob mir das steht? Nein,
das! Das ist viel zu teuer, oder? Aber es ist toll. Oder nein, das
da!«
Während Réka in den Stapeln wühlte, Kleiderbügel
herauszog und Hanna mit ihrer Begeisterung fast ansteckte, sah
diese sich heimlich nach Mattim um. Er war ganz in der Nähe, das
wusste sie. Er hatte ihr versprochen, dass er immer in der Nähe
sein würde. Doch erst nachdem Réka in der Umkleidekabine
verschwunden war, spürte sie auf einmal seine Gegenwart dicht neben
sich. Sie drehte sich zu ihm um und seufzte.
»Hanna.« Mattim legte beide Arme um sie und drückte
sie einmal ganz fest. In seinem Gesicht war nichts von Kunun.
»Was darf das Licht tun, um die Finsternis zu
besiegen?«, fragte sie leise. »Lügen? Betrügen? Ein Mädchen in
Gefahr bringen, das nichts ahnt?«
Mattim schüttelte den Kopf. »Sie ist schon in
Gefahr«, sagte er. »In größerer Gefahr als jeder andere Mensch in
Budapest. Außer dir vielleicht.«
Hanna lehnte sich an ihn. »Geh lieber«, sagte sie
dann. »Réka könnte bockig werden, wenn wir zu dritt sind. Dann
läuft sie vielleicht gleich zu ihm.«
Er nickte. »Wir werden auf sie aufpassen, so gut
wir können.« Er beugte sich vor und küsste sie, schnell und
flüchtig, und doch lag in dieser kurzen Berührung so viel, dass ihr
Herz vor Glück erschauerte. Sie wandte sich um, gerade, als Réka
aus der Kabine kam.
»Steht mir das, was meinst du?« Die junge Ungarin
zog die Stirn kraus, selbstkritisch und gleichzeitig euphorisch.
Die schwarze Bluse mit Spitzenbesatz am Ausschnitt wirkte
ebenso edel wie verspielt, aber auch ein wenig altmodisch.
Eigentlich war es kein Kleidungsstück für ein Mädchen in diesem
Alter. Atschorek hätte so etwas tragen können; aus irgendeinem
Grund erinnerte das Muster Hanna an die Vampirin. Verschlungen und
geheimnisvoll unterstrich es Rékas dunklen Typ, aber Hanna hätte
sich gewünscht, sie hätte nicht immer nur nach schwarzen Sachen
gegriffen. Außerdem lag der Hals frei und offen. Etwas Flauschiges
mit Rollkragen wäre ihr lieber gewesen.
»Wunderschön«, sagte sie. »Du bist so hübsch,
Réka.«
»Wirklich?« Die Augen der Vierzehnjährigen
leuchteten. »Aber es ist echt teuer … Immerhin hab ich bald
Geburtstag, vielleicht …?«
Sie brauchte eine Einkaufstasche, die Réka
festhalten würde, als gelte es ihr Leben.
»Ich hab versprochen, ich kauf dir heute was. Wenn
es das Teil hier sein soll? Dann kriegst du eben zum Geburtstag nur
eine Kleinigkeit.«
»Super! Dann kann ich es an meinem Geburtstag schon
anziehen.« Glücklich verschwand Réka wieder hinter dem
Vorhang.
Hanna blickte sich unwillkürlich nach Mattim um. Er
stand in einem anderen Winkel des Geschäfts und unterhielt sich mit
einer Verkäuferin. Die Kappe hatte er abgenommen, sein blondes Haar
glänzte. Selbst von hier aus konnte sie erkennen, wie sein Lächeln
strahlte und wie die blutjunge Verkäuferin es erwiderte. Fast war
es, als ginge ein Glanz von ihm aus, eine Aura aus Licht … Hanna
biss sich auf die Lippen. Es war ihre Sehnsucht, die ihm das Licht
andichtete, das er verloren hatte. So sehr wünschte sie sich, er
möge alles zurückgewinnen, alles, was er vermisste, was man ihm
genommen hatte. Sie konnte sich regelrecht vorstellen, wie er dort
stehen und alles überstrahlen würde, so dass jeder zu ihm
hinblickte … War es so, das Licht? Oder würde es immer nur dieses
Lächeln sein, das ihm niemand
nehmen konnte, außer vielleicht Kunun mit einem unumkehrbaren
Sieg?
»Ich bin fertig. Willst du mir die Bluse echt
kaufen?« Réka trat neben sie, und Hanna riss sich von Mattim los,
was ihr schwer genug fiel.
»Ja, klar, habe ich doch gesagt.«
Sie musste sich beeilen. Das nächste Ziel, das Réka
vorschlagen würde, führte sie vielleicht schon zu Kunun. Bestimmt
war er irgendwo hier, und ihre Instinkte würden Réka zu ihm leiten.
Dann hätte sie bald genug von Hannas Freundschaft.
»Wo kommt Kunun eigentlich her?«, fragte Hanna,
während sie an der Kasse anstanden.
»Wie, wo kommt er her?«
»Ich meine, wo ist er geboren? In welchem Land?
Bist du da gar nicht neugierig?«
Rékas Miene verdüsterte sich. »Bestimmt hat er mir
das schon erzählt.«
Sag es ihr. Das Diktiergerät. Wenn sie neugierig
genug ist, wird sie es selbst einschalten und später abhören. Sie
muss nur alles wissen wollen, und du kannst sie dazu bringen … Wenn
sie es freiwillig tut, ist es etwas ganz anderes.
Nein. Hanna zwang sich, etwas ganz anderes
zu sagen.
»Ich würde es wissen wollen«, meinte sie und
versuchte, es beiläufig klingen zu lassen, nur so dahingesagt.
»Vielleicht kehrt er ja irgendwann zurück.«
»Aber Kunun ist kein Ausländer!«, protestierte
Réka. »Er lebt hier schon immer. Er ist kein Asylant. Er ist
reich!«
»Deswegen kann er sich trotzdem nach der Heimat
seiner Eltern sehnen, wo immer das auch sein mag. Und irgendwann
dorthin zurückgehen.«
Rékas Kopfschütteln und die Art, wie sie dabei
lächelte, sprach Bände. Wie kannst du nur so ahnungslos
sein.
»Nicht ohne mich.«
»Wohin würde er dich denn dann mitnehmen?« Hanna
zahlte und nahm die Tragetasche in Empfang. »Aber mach dir jetzt
keine Sorgen, nur weil ich das gesagt habe. Vielleicht kann er ja
auch gar nicht zurück. Manchmal verschließen sich die Türen, ohne
dass man etwas dazu kann. Viele Menschen, die aus dem Ausland
kommen, gehen nie wieder zurück, weil sie etwa verfolgt werden.
Weil sie Angst haben. Oder wegen der Umstände … Die Türen schließen
sich öfter, als man glaubt.«
»Willst du in Ungarn bleiben?«, fragte Réka
plötzlich. »Geht es darum? Du willst hierbleiben?«
Hanna hatte nicht erwartet, dass das Gespräch diese
Wendung nehmen könnte, doch sie ergriff die Gelegenheit.
»Meine Eltern würden sich bestimmt wundern … Nein,
sie erwarten mich natürlich zurück. Bis sich diese Türen schließen,
müsste noch einiges vorfallen.«
»Da!«, rief Réka plötzlich, gerade als sie auf die
Straße traten. »Da ist er!«
Sie rannte los, der dunklen Gestalt hinterher.
Hanna lief ihr nach.
»Warte, deine Bluse! Deine Tasche! So warte
doch!«
Hastig holte sie im Rennen das Diktiergerät aus
ihrer eigenen Tasche, schaltete es ein und legte es auf das neue
Oberteil. »He!«
Réka drehte sich noch einmal um. »Da vorne ist er.
Kannst du das nicht für mich nach Hause bringen, Hanna?«
»Ich muss noch woanders hin. Hier, nimm. Bis
später, und sei brav, ja?«
»Immer.« Das Mädchen grinste.
Hanna blickte ihr nach, wie sie über das Pflaster
rannte.
»Was wird sie ihn fragen?« Mattim war hinter ihr
aufgetaucht, lautlos wie ein Geist. Hanna ergriff seine Hand.
»Komm, schnell, wir müssen ihr nach!«
»Ich weiß, wo die beiden hingehen«, sagte der
Prinz. »An den Fluss. Zurzeit geht er immer an den Fluss.«
Es war ein Wort, das sie nicht hören wollte, das
sie nicht einmal denken wollte. Zu lebendig war die Erinnerung. Sie
musste nur die Augen schließen und sah die beiden vor sich, Kunun
und Mattim, an der Kante …
»Er ist besessen davon«, erklärte Mattim. »Sie
werden auch heute da sein. Wir müssen ihnen einen Vorsprung lassen,
damit sie nichts merken.«
Hanna schluckte. »Ja, aber wenn Kunun das Gerät
findet … Wenn sie ihn in die Tasche schauen lässt, wenn sie ihm
vielleicht zeigen will, was sie bekommen hat …«
»Er wird sie nicht gleich in den Fluss werfen«,
versuchte Mattim sie zu beruhigen. Sein Arm um ihre Schultern
fühlte sich fest und stark an. Doch konnte er auch Réka schützen?
»Ihr wird nichts geschehen. Vertrau mir.« Er küsste seine Freundin
auf die Wange. Sie wollte fort, Réka nach, aber er hielt sie fest,
und schließlich ergab sie sich in seine Umarmung. »Vertrau mir«,
flüsterte er ihr ins Ohr. »Ich werde nicht zulassen, dass dem
Mädchen etwas geschieht. Jetzt nicht und später auch nicht. Ich
werde Wache halten. Ich werde sie schützen, mit meinem Leben, das
verspreche ich dir.«
Sie wollte nicht daran glauben, dass er vielleicht
zu viel versprach. Mehr, als irgendjemand versprechen konnte.
»Schau mir in die Augen«, bat Mattim. »Das meine
ich ernst. Ich hätte dieser Sache nie zugestimmt, wenn ich nicht
dazu bereit wäre.«
Dieser Ernst in seinen Augen. Auf einmal kam er ihr
viel älter vor als siebzehn. Es war der Blick eines Mannes, der
bereit gewesen war zu sterben, damit ihr nichts geschah. Der bereit
gewesen war, ins schwarze Wasser zu springen. Ein Mann, der zu den
Schatten gegangen war, um seine Familie und seine Stadt zu retten,
und der kein Schatten war, obwohl es den Anschein machte, der das
Licht immer noch in sich trug, verborgen … Genau so würde er auch
für Réka kämpfen. Irgendetwas in seinem Gesicht,
vielleicht seine Entschlossenheit, ließ sie daran glauben, dass er
zu allem fähig war, sogar zu einem Sieg über Kunun. Irgendwo darin
war das Licht, fähig, die Dunkelheit in die letzten Winkel zu jagen
und sämtliche Schatten zu verbrennen. Da war es, so dicht hinter
dem Steingrau seiner Augen, als würde es gleich herauskommen und
sie blenden, als würde irgendwo in ihm eine Sonne strahlen,
unauslöschlich. Selbst die Nacht, dachte Hanna, kann die
Sonne nicht töten. Der Morgen wird kommen, immer …
»Jetzt«, sagte Mattim, »gehen wir ihnen
nach, ohne dass sie uns sehen.«
Réka hatte sich bei Kunun eingehakt und schwenkte
die Tüte beim Gehen hin und her. Von weitem wirkte sie fröhlich und
gelöst. Die beiden gingen die Váci utca hinunter und bogen in die
Régi posta utca ein, am Mariott Hotel vorbei. Unter den Bäumen
setzten sie sich auf eine der Bänke, die das verschnörkelte
Aussehen von Gartenstühlen besaßen und von denen aus man gemütlich
stundenlang die Donau und das Budaer Ufer hätte betrachten können,
wenn es nicht so eisig kalt gewesen wäre.
Sie fragt ihn tatsächlich, dachte Hanna
aufgeregt, sie tut es! »Hoffentlich wählt sie die Worte
geschickt«, flüsterte sie atemlos.
»Kunun hat das Bedürfnis, darüber zu reden«,
sagte Mattim. »Sie muss ihm nur den Anstoß dazu geben.«
»Meinst du wirklich? Mir scheint, er ist mit seinen
ganzen Geheimnissen sehr zufrieden.«
»Das täuscht«, erklärte er, so wie er es schon
einmal getan hatte, als sie ihren Plan besprochen hatten. »Mein
Bruder muss es irgendjemandem sagen. Er lebt davon, dass man zu ihm
aufblickt.«
»Deshalb wird er ihr verraten, wie man ihn schlagen
könnte?«
Mattim strich Hanna das Haar aus der Stirn und
küsste sie auf die Augen.
»Lass doch, ich muss beobachten, was sie
tun!«
Sie sah gerade noch, wie Réka aufsprang. Wie Kunun
sie an den Schultern packte. Irgendetwas stimmte da nicht.
Mattim stürzte los, Hanna ihm nach.
Die Meter, die sie von den beiden trennten,
schienen ihr endlos lang. Mattim erreichte das Paar als Erster und
fiel Kunun in den Arm.
»Lass sie los! Lass sie!«
Der Ältere stieß ihn so heftig zurück, dass der
Prinz mehrere Schritte rückwärts taumelte. Réka schrie ängstlich
auf, doch da war Hanna auch schon bei ihr und legte den Arm um
sie.
»Komm, ich bringe dich nach Hause.«
»Was soll das?« Réka starrte mit zitternden Lippen
auf Kunun.
»Ihr bleibt hier«, befahl der Vampir scharf. Er
wandte sich an Mattim, der vorsichtig in Angriffsstellung näher
kam. »Das hab ich mir gleich gedacht, dass diese ganzen Fragen von
dir stammen. Was hast du jetzt vor? Willst du verhindern, dass ich
sie beiße?« Er griff nach Rékas Hand und zog sie wieder näher zu
sich heran. »Hast du wirklich gedacht, das lasse ich mir
bieten?«
»Beißen?«, fragte Réka verwirrt.
Hanna ließ ihren Arm nicht los. »Komm nach Hause,
bitte, komm!«
»Ich dachte, du hättest etwas gelernt«, sagte Kunun
zu seinem Bruder, heiser vor Wut. »Kann jemand wirklich so dumm
sein?«
»Lass Réka gehen«, forderte Mattim und hielt Kununs
vernichtendem schwarzem Blick stand.
»Meine liebe Réka«, fuhr der Vampir fort und
schenkte dem Mädchen ein warmes Lächeln, bei dem Réka sich wieder
entspannte. Sie schüttelte Hannas Hand ab. »Lass dich
nie wieder zum Werkzeug machen. Frag mich nicht aus. Hast du das
verstanden?«
Réka nickte, ihre Augen hingen an ihm, gebannt.
Kunun legte die Arme um ihre Schultern und presste sie eng an
sich.
»Strafe muss natürlich sein«, redete er weiter.
»Wessen Idee war das?« Er sah von Mattim zu Hanna und wieder
zurück.
»Meine«, sagte der junge Prinz und senkte den
Kopf.
»Natürlich war es deine Idee.« Kunun ließ Réka so
plötzlich los, dass sie zur Seite taumelte, und packte Mattim am
Kragen. »Was soll ich mit dir tun, kleiner Bruder?«
»Lass mich gehen«, ächzte der Jüngere.
»Erst soll ich Réka gehen lassen und jetzt dich?
Könntest du dich bitte mal entscheiden?«
Er wandte sich zu Hanna um, die gerade Rékas Hand
ergriffen hatte. »Weg da! Auch du fürchtest dich noch viel zu
wenig. Hast du nicht schon genug gesehen? Muss ich noch deutlicher
werden?«
»Komm, Réka«, flehte Hanna. »Hast du nicht gehört?
Er will dich beißen, und er meint es ernst. Bitte komm!«
»Was?« Das Mädchen schaute verwirrt von einem zum
anderen.
»Heute Abend, Mattim«, sagte Kunun. »Am Baross tér.
Dort wirst du deine Strafe empfangen.«
»Er wird nicht kommen!«, rief Hanna. »Was glaubst
du, wer du bist? Lass ihn endlich in Ruhe!«
»Oh, er wird«, widersprach der Schattenprinz. »Und
du auch. Ich will, dass du dabei bist.« Damit packte er Réka am Arm
und ging mit ihr weiter; sie musste fast laufen, um mit ihm Schritt
zu halten.
Die Tasche hatte das Mädchen auf der Bank liegen
lassen. Hanna hob sie auf, krallte die Hände hinein. Ein
Schatz.
»Womit haben wir das bezahlt?«, fragte sie
düster.
Mattim trat neben sie. »Ich hoffe nur, es hat sich
gelohnt.
Lass uns schnell zu dir nach Hause fahren, ich will alles hören.
Irgendetwas Wichtiges muss einfach dabei sein!« Er lachte leise.
»Die Sache ist genau so verlaufen, wie wir es uns gedacht hatten.
Genau so! Kunun hat geglaubt, dass wir an die Informationen kommen
wollen, indem wir ihn daran hindern, Réka zu beißen. Er ist gar
nicht auf die Idee gekommen, dass wir so ein Dingens benutzt
haben.«
Hanna blickte Réka nach, eine kleine Gestalt neben
einer großen, dunklen.
»Ich kann es kaum ertragen, wie brav sie mit ihm
mitgeht … Aber er war auf uns böse, nicht auf sie. Ich bin so froh
darüber!« Ihre Freude über den guten Ausgang ihres Plans hatte
allerdings einen schweren Dämpfer bekommen. »Mattim, du darfst
heute Abend nicht dorthin gehen! Kunun wird seine ganze Wut an dir
auslassen!«
»Das hoffe ich doch«, sagte der Prinz. »Es macht
mir bloß Sorgen, dass du mich begleiten sollst.«
»Was hat er vor?«, fragte Hanna bang.
»Wie er mich bestrafen will? Einen Schatten? Ich
hab da so eine Ahnung … Nein, darüber möchte ich nicht reden. Lass
uns jetzt dieses komische Gerät abhören, ich bin so was von
gespannt. Vielleicht«, er lächelte der Tragetasche zu, »steckt
darin die Lösung für alle unsere Probleme.«
Das Schlagen und Knattern der Tasche hörte sich an
wie eine vom Wind gebeutelte Fahne. Undeutlich die Stimmen. Die
beiden mussten sich unheimlich konzentrieren, um dem Gespräch zu
folgen.
Rékas helle Stimme, aufgeregt sprudelnd. Dazwischen
Kununs Stimme. Letztlich war es wie bei seinem Foto, dem
undeutlichen Farbausdruck - auch hier, von Nebengeräuschen
überlagert, war jedes seiner Worte doch wie ein Zaubergesang, wie
ein Fenster in eine sternenklare Nacht, die einen verlocken wollte,
hinaus in den Garten zu gehen und ihm zu folgen. Der Vampir war
viel besser zu verstehen
als das Mädchen, wie Glanzlichter strahlten seine Worte aus dem
Rauschen heraus. Jetzt wurde seine Stimme etwas lauter.
»Warum fragst du mich das? Réka, was soll das, wie
kommst du darauf? Warum interessiert es dich auf einmal, wo ich
herkomme?«
Réka, kleinlaut: »Ich dachte nur …«
»Was willst du hören? Geschichten aus anderen
Ländern? Geschichten vom Licht und von der Dunkelheit?«
»Ich dachte … keine Geheimnisse …«
»Mattim steckt dahinter, habe ich Recht? Versucht
er es auf diesem Weg, mich auszuhorchen, der kleine Hund … Was will
er wissen? Was sollst du mich fragen?«
»Au, du tust mir weh!«
»Verzeih mir, meine Süße, mein Täubchen … Aber du
wirst mir sagen, worauf mein Bruder aus ist, was er wissen will.
Was sollst du mich fragen?«
Réka, weinerlich, wiederholte grob das, was Hanna
ihr gesagt hatte. »Jetzt hab ich Angst, du könntest vielleicht
irgendwann weggehen, ganz weit weg …«
»In der Tat, das werde ich«, sagte Kunun. »Und zwar
schon bald. In ein Land, in das ich jederzeit zurückkehren kann,
wann immer ich es will. Mattim macht sich also Sorgen, die Pforte
könnte mir eines Tages verschlossen sein? Ein Riss in der Welt,
geöffnet von der Klaue der Dunkelheit? Er sollte sich über ganz
andere Dinge Sorgen machen.«
»Warum schaust du mich so an, Kunun? Du machst mir
Angst! Ich will …«
»Lass sie los!« Mattims Stimme.
»Dann bist du gekommen.« Hanna schaltete das Gerät
aus. Sie sah ihn an und wollte nicht weinen. Der Prinz saß auf
ihrem Bett, das Kinn auf die Hände gestützt, und wirkte müde. Das
Haar fiel ihm in die Augen, matt und glanzlos. In diesem Moment war
nichts Strahlendes an ihm. So erschöpft
und resigniert hatte sie ihn noch nie gesehen. Schon fast, als
wäre er geschlagen.
»Er hat ihr überhaupt nichts gesagt. Oh, Mattim, es
tut mir so leid!« Sie legte ihm eine Hand auf den Arm und barg den
Kopf an seiner Schulter. Er rührte sich nicht, sondern saß nur da,
wie erstarrt. Er hatte nicht einmal die Kraft, den Arm um sie zu
legen, Trost zu suchen. Mit aller Macht versuchte sie die Tränen
zurückzuhalten, aber es gelang ihr nicht. Schluchzer schüttelten
sie, und vielleicht löste ihr Weinen letztlich seine Erstarrung,
ihre Tränen, die etwas in ihm zum Schmelzen brachten. Endlich
umschlang er sie, drückte sie an sich und küsste ihre nassen
Wangen.
»Warum weinst du?«, fragte er leise, immer noch wie
jemand, der aus einer tiefen Betäubung erwacht und nicht begreift,
dass der Schmerz, den er fühlt, sein eigener ist.
»Um Akink«, flüsterte sie. »Und um dich. Nun bist
du ganz umsonst ein Schatten geworden. Für nichts!«
Hanna spürte seinen Mund auf ihrem Haar, auf ihren
Augen, auf ihren Lippen. Eine Weile hielt er sie nur fest, doch
schließlich sagte er: »Wir müssen gehen. Jetzt.«
»Und wenn du nicht gehst?« Sie klammerte sich an
ihn, ließ ihn nicht aufstehen. »Wenn du einfach nicht hingehst. Wir
könnten fliehen, irgendwohin. Wo Kunun uns nicht finden wird.
Bitte, geh nicht, Mattim, bitte!«
»Ich muss«, sagte der Prinz. »Wir wussten beide,
irgendjemand wird für diese Fragen bezahlen müssen. Es ist gut,
dass es nicht Réka ist. Ich glaube auch nicht, ich hoffe nicht,
dass es um dich geht. Es wäre nur leichter, wenn man wüsste, dass
man für den Preis etwas bekommen hat, das sich gelohnt hat.«
»Für nichts«, flüsterte Hanna, »für nichts und
wieder nichts willst du hingehen und dir antun lassen, was immer er
dir antun will?« Sie mochte es nicht aussprechen, aber es lag ihr
nun schon so lange auf der Zunge, dass sie nicht anders
konnte. »Dein Bruder kann dich töten, Mattim. Sag mir jetzt nicht,
dass du sicher bist, weil du ein Schatten bist. Kunun kennt einen
Weg, ganz bestimmt. Wenn er es wollte …«
»Ich weiß«, sagte Mattim. »Aber wenn er mich
umbringen will, kann er das jederzeit. Dazu müsste er mich nicht zu
sich bestellen. Was immer er auch vorhat, er kann es tun, wann er
will. Ich kann mich nicht vor ihm verstecken. Er könnte jederzeit
hier aus der Wand heraustreten und auf mich losgehen.«
»Geh nicht zu ihm!«, flehte Hanna. Trotzdem. Auch
wenn alles stimmte, was Mattim sagte, änderte es nichts daran, dass
sie es nicht ertrug, wenn er freiwillig in die Arme seines Henkers
marschierte.
Mattim lächelte. »Es ist eine Chance«, sagte er.
»Die einzige Chance, die ich noch habe, um meinem Bruder zu
beweisen, dass ich ihm gehorche. Die einzige Chance, um in seinem
Haus wohnen bleiben zu dürfen. Die einzige Chance, in der Nähe des
Kellers und der Pforte zu bleiben. Wenn ich jetzt fliehen würde,
gäbe ich alles auf, wofür ich bisher gekämpft habe. Es wäre, als
würde ich Akink aufgeben und im Stich lassen.«
»Dann hast du Akink also noch nicht aufgegeben?«
Seine Augen. Flussgrau, steingrau, himmelsgrau. Vielleicht waren
sie auch akinkgrau, vielleicht lag in ihnen die
Widerstandsfähigkeit einer uralten Burg und einer ummauerten Stadt,
heimgesucht und dennoch immer bereit zum Kampf.
»Nein«, sagte er leise. »Und das werde ich auch
nie.«
Leere Worte. Nichts als leere Worte. Er klammerte
sich an einen Traum, der längst zerplatzt war, und tat immer noch
so, als könnte alles gut ausgehen. Obwohl sie nichts mehr hatten.
Keinen Plan, keine neuen Ideen. Wie Bettler, mit leeren Händen und
frierenden Füßen. So fühlte Hanna sich: frei fliegend im Nichts,
als hätte jemand bei einem
Weltraumspaziergang das Seil zum Raumschiff durchtrennt.
Sie seufzte.
»Komm«, sagte er. Es war nicht Kununs sanft
lockende Stimme. Und doch war sie bereit, dieser Stimme bis in die
tiefsten Abgründe der Finsternis hinein zu folgen.