FÜNFUNDDREISSIG
BUDAPEST, UNGARN
»Keine Sorge«, sagte Kunun und richtete sich
wieder auf. »Jeder Tropfen Blut, den man dir stehlen muss, wäre
verschwendet.«
»Du bekommst nichts!«, rief Hanna. »Niemals!
Glaubst du, ich mache freiwillig mit und helfe dir dabei, diesen
Krieg zu führen?«
Der Vampir blickte auf sie hinunter, mit einem
Lächeln um die Mundwinkel, das sie nicht deuten konnte.
»Mich wundert«, meinte er, »dass Mattim nie nach
dem anderen Teil der Prophezeiung gefragt hat. Die Alte hat mir
damals zwei Sätze gesagt. Kleiner Bruder bringt den Sieg … Möchtest
du nicht gerne hören, was sie mir noch gesagt hat?«
»Ja«, flüsterte Hanna.
»Szigethy vér a városért. A gyözelmet a kis testvér
hozza.«
Szigethy. Der Name löschte alles aus, was danach
kam. Kununs Rede zog an ihr vorbei und verwandelte sich in eine
wirre Abfolge von Lauten. Wie ein Zauberspruch klang es in ihren
Ohren, den er für sie deklamierte, der schwarze Zauberer, mit
funkelnden Augen, das Lächeln des Siegers schon auf den
Lippen.
Als wären alle ihre Ungarischkenntnisse auf
Nimmerwiedersehen verschwunden. Sie verstand nichts. Gar nichts.
Mattim. Mattim, wo bist du … Die Silben perlten an ihr
herunter wie Regentropfen an einer Fensterscheibe. Szigethy vér
… Ich will nach Hause, ich will nur noch nach Hause! Szigethy
…
Aber ein anderer Teil von ihr, unberührt von Kälte
und Angst, arbeitete weiter, entschlüsselte die Botschaft, klopfte
an die Tür ihres Bewusstseins, rüttelte daran.
Szigethy vér. Das Blut der Szigethys! Rékas
Blut!
Nein!, wollte sie schreien. Nein, nein,
nein!
Doch der Schrei blieb ihr in der Kehle
stecken.
»Du hast es verstanden«, sagte Kunun leise.
»Genauso wie ich es damals verstanden habe, als ich alle Szigethys
in dieser Stadt gesucht habe und schließlich Réka fand. Ihr Blut
wird mich nach Akink bringen. Ihr Leben. Denn es gibt noch etwas,
liebe Hanna, das ich dir sagen muss. Der Donua ist ein mächtiger
Fluss, viel mächtiger als diese schmutzige braune Brühe, die sich
durch Budapest windet. Blut, freiwillig geopfert, wird es den
Schatten erlauben, über das Eis zu gehen. Eine Weile wenigstens
wird es uns schützen. Aber ob es reicht? Den ganzen Weg bis ans
andere Ufer? Eine ganze Schlacht hindurch, die Stunden dauern mag?
Erst wenn ein Leben geopfert wird, entfaltet das Blut eine Kraft,
die allem standhalten kann.«
»Nein«, wisperte Hanna. Ihre Gedanken rasten durch
ihren Schädel, wie auf der Suche nach einem Ausgang. »Nicht Réka.
Bitte nicht Réka!«
Kunun legte ihr beide Hände auf die Schultern,
nicht fest, aber bestimmt. »Heute ist der Tag«, sagte er. »Heute
gehen wir nach Akink. Fragst du dich, warum ich dir das erzähle? Du
wirst Réka nicht warnen. Du bleibst hier. Und du wirst hoffen, dass
die Kleine mir alles gibt, worum ich sie bitte. Nie wirst du dir
etwas so sehr gewünscht haben. Denn sollte sie zögern, sollte ich
auch nur den geringsten Zweifel haben an ihrer Bereitschaft, ihr
Leben für mich aufzugeben, werde ich dich nehmen. Und du wirst dich
nicht wehren. Du wirst mir geben, wonach ich verlange. Denn wenn du
es nicht tust, werde ich Mattim töten.«
Seine Augen waren schwarz. Nichts als seine
Dunkelheit konnte sie darin lesen. Keine Freude, kein Bedauern,
nicht
einmal Triumph. Er teilte ihr einfach nur das mit, was er
entschieden hatte.
»Einer von euch dreien wird heute sterben. Mattims
Tod nützt mir nicht das Geringste; daher kann ich nur hoffen, dass
du vernünftig sein wirst, schöne Maid. In wenigen Stunden werden
wir sehen, wessen Liebe am stärksten ist.«
Liebe. Aus ihrem Gedächtnis tauchten Atschoreks
Worte auf und gewannen eine neue Bedeutung. Nur das Gefährliche
lohnte sich. Nur deshalb lohnte die Liebe, weil sie so angreifbar
war. Nur deshalb … Liebe, der Kuss des Todes im Frühling. Ist
das nicht das Schönste daran - so ahnungslos zu sein wie ein Vogel
im Baum, der singt und nicht weiß, dass der Pfeil bereits
abgeschossen wurde, der ihn mitten ins Herz treffen wird?
Niemals hätte sie zulassen dürfen, dass
irgendjemand ahnte, wie viel ihr Mattim bedeutete. Niemals hätte
sie Kunun diese Waffe in die Hand geben dürfen.
»Mattim hat sich für dich entschieden«, sagte sie
und bemühte sich, ihrer Stimme einen festen, kühlen Klang zu geben.
»Du kannst nicht deinen besten Gefolgsmann opfern. Den Bruder, der
dir den Sieg bringen wird.«
»Vielleicht wird er mir den Sieg auf genau diese
Weise zuschanzen.« Kunun musterte sie mit leisem Spott. »Aber glaub
mir, ich weiß, wie ich am besten herausfinde, was sein Treueeid
wert ist.«
Er drehte sich zur Wohnungstür um. »Kommt rein. -
Freiwilligkeit«, meinte er zu Hanna, und Spott funkelte in seinen
Augen, »ist etwas Gewaltiges und Besonderes. Doch manches geht
genauso gut ohne.«
Hanna wich zurück, als sie vier Schatten auf sich
zukommen sah: zwei junge Männer, einen älteren und eine Frau.
»Fesselt sie. Steckt ihr einen Knebel in den Mund; ich will nicht,
dass man das Geschrei auf der Straße hört. Übrigens«, der Vampir
beugte sich vor und fasste in ihre Jackentasche, »das brauchst du
jetzt nicht mehr.«
Er reichte das Handy einem der Vampire. Die anderen
drei waren schon an ihrer Seite. Hanna wehrte sich verzweifelt,
doch es gelang ihr nur, einem ihrer Bezwinger die Hand zu
zerkratzen, bevor er ihr die Arme auf den Rücken drehte.
»Das ist nicht nötig!«, rief sie. »Tu das nicht!
Ich werde hier warten. Ich mache alles, was du verlangst!«
Kunun schüttelte nur den Kopf und zauberte aus
seiner Manteltasche eine Kordel, die er kurz vor ihren Augen
baumeln ließ, bevor er sie der Vampirfrau reichte.
»Das wird halten, glaub mir. Du brauchst dich nicht
zu fürchten - nicht allzu sehr jedenfalls. Wenn mit Réka alles
glatt läuft, bist du bald wieder frei. Wenn nicht … nun, sofern
Mattim akzeptiert, was ich mit dir tue, werde ich ihm kein Härchen
krümmen. Wenn er einsieht, dass dein Blut für Akink vergossen
werden muss, so ist er würdig, neben mir auf dem Thron zu sitzen. -
Bringt sie in den Hof«, befahl er den Schatten. »Bindet sie an
einen der Löwen. Wenn Mattim eintrifft, werden wir sehen, wer er
ist. Und er wird herkommen, früher oder später.«
Hanna konnte nicht verhindern, dass ihr die Tränen
in die Augen schossen, vor Zorn und Angst und Schmerz. Das dünne
Seil schnürte ihr die Handgelenke ein, und der Griff ihrer Wärter
war allzu fest. Dennoch hätte sie alles dafür gegeben, wenn Kunun
ihre Tränen nicht gesehen hätte.
»Mattim dient mir«, sagte er. »Er ist sich noch
unsicher - glaubst du, das wüsste ich nicht? Aber ich habe ihn
gerufen, und er ist zu mir gekommen, und was immer er tut, er wird
es für mich tun. Er wird mir den Sieg bringen, Hanna, ob er will
oder nicht, und du steckst mit in der Sache drin, ob du nun willst
oder nicht.« Er machte eine Pause und beobachtete, wie die Vampire
ihr einen Knebel in den Mund schoben, ein Stück Stoff, das ihre
wütende Antwort erstickte.
»Kleiner Bruder bringt den Sieg … Es ist sein
Schicksal. Keiner von uns kann dem entkommen, was ihm auferlegt
ist. Auch Mattim vermag das nicht, egal, wie sehr er sich wehrt.
Stück für Stück wird er in die Knie gehen, und was an Auflehnung
übrig ist, wird dahinschmelzen wie Schnee in der Sonne. Er hat
deine Sicherheit in meine Hände gelegt, Hanna. Von nun an
entscheide ich, was mit dir geschieht. Du weißt das, ich weiß das
und er auch. Der Sieg wird durch ihn zu mir kommen. Er hat keine
Wahl, mein kleiner Bruder.«
Kunun nickte den Schatten zu. Sie führten Hanna aus
der Wohnung heraus zum Fahrstuhl. Es nützte ihr nichts, die Füße in
den Boden zu stemmen. Die vier schienen nicht einmal zu merken,
dass sie sich wehrte. Hinter der Glasscheibe die dunkelblauen
Gitter, die weißen Türen … Der Hof schien ihnen entgegenzuschweben,
dort stand der Brunnen, die steinernen Löwen. Ihr war, als läge das
Aufeinanderkrachen der Schwerter immer noch in der Luft, der
Bitterduft des Kampfes.
Die Vampire zwangen das Mädchen, sich auf den Boden
zu setzen, gegen einen der Löwen gelehnt. Vom Untergrund her stieg
die eisige Kälte sofort hoch.
Kunun kam erst in den Hof, als sie fertig waren und
Hanna so fest an den Löwen gebunden war, dass sie sich nicht rühren
konnte.
»Bewacht sie«, sagte er zu den Schatten. »Sobald
Mattim kommt, ruft mich sofort an. Diskutiert nicht mit ihm. Er
soll mit mir sprechen, mit niemandem sonst. - Und nun werde ich
losfahren und einen Krug besorgen, der Rékas Blut fassen
kann.«
Dann ein Lächeln, ein letztes Lächeln, für Hanna,
während er über ihr stand wie ein strafender Gott, herrlich und
gnadenlos.
Irgendwo hinter ihr flüsterten die Schatten. Kunun
war bereits in dem hohen Durchgang verschwunden.
Szigethy-Blut für die Stadt.
Kleiner Bruder bringt den Sieg.
Mattim sprang gegen den Fels, tauchte hindurch und
stand im Keller. Automatisch atmete er tief ein und aus, um sich zu
beruhigen, um einen klaren Gedanken zu fassen. Es war fast völlig
dunkel; der Fahrstuhl musste sich direkt über ihm im Erdgeschoss
befinden. Das Handy hatte er im Weinregal versteckt, doch als er
schon die Hand danach ausstreckte, zögerte er. Der Prinz hielt den
Atem an und horchte. Erst nach oben, dann zu allen Seiten hin. Im
Haus war es vollkommen still. Keine Schritte im hallenden Flur, im
Treppenhaus, keine Stimmen.
Ruf nicht an, dachte Hanna. Bitte,
bitte, ruf nicht an! Und komm, schnell! Sie versuchte ihn mit
ihren Gedanken herzulotsen wie einen magischen Bann: Komm,
Mattim, bitte, komm … Ruf nicht an … Komm … Rette mich! Nein, rette
mich nicht! Rette mich nicht!
Die Schatten wanderten durch den Hof. Die Frau
beugte sich über den Rand des Brunnens und streckte eine Hand
hinein. Mit den Fingernägeln kratzte sie über das gefrorene Wasser.
Sie lachte leise.
»Noch sind wir nicht in Akink«, sagte der ältere
Mann düster.
»Noch nicht«, flüsterte sie, »noch nicht.«
Hanna fühlte die Blicke der beiden auf sich. Die
zwei jüngeren Vampire standen gelangweilt in der Nähe des Eingangs
und scharrten mit den Schuhen über ein paar trockene Blätter, die
es in den Hof geweht hatte. Es sah aus, als wollten sie damit
Fußball spielen.
Hanna fror so sehr, dass sie mit den Zähnen
klapperte. Ihre Beine zitterten, und auch die an den kalten Stein
gefesselten Hände waren taub.
War es nicht schon immer mein Schicksal, in
diesem Haus zu sterben? Sie blies ihren Atem in feinen Wölkchen
in die frostige Luft. War das nicht von Anfang an mein
Schicksal?
Szigethy-Blut für die Stadt … Aber über sie sagte
die Prophezeiung nichts. Rékas Blut oder meins. Mein Blut oder
Rékas. Vielleicht hatte sie als Einzige jemals die Wahl gehabt.
Nur wie hätte sie etwas anderes wählen können, als in Mattims Nähe
zu sein und immer wieder herzukommen, trotz der Gefahr?
Der junge Prinz starrte nach oben auf den von
Kabeln durchzogenen Boden des Aufzugs. Dunkel. Ja, dunkel genug.
Alles hier unten war ausreichend finster. Er brauchte den Fahrstuhl
nicht.
Mattim kehrte um und trat schnell durch den
Durchgang in den zweiten Kellerraum, in dem die Lampen und der
Käfig aufbewahrt wurden. Zwar konnte er sie nicht sehen, dafür aber
ertasten. Er kletterte hinauf und richtete sich vorsichtig auf, die
Hände nach oben gestreckt, bis er die Decke anfassen konnte. So
niedrig, dass er, wenn er auf dem Käfig stand, den Rücken krümmen
musste. Mattim ging in die Knie, spannte die Muskeln an und
sprang.
Er knallte nicht mit dem Kopf gegen die Decke. Als
würde er aus dem Wasser auftauchen, fuhr er durch die dunkle
Schicht hindurch, stützte sich mit den Armen ab und zog sich ganz
aus dem Fußboden der Eingangshalle heraus.
Mit einem Satz war er in der Nische zwischen den
Briefkästen und einer vorspringenden Säule und blickte sich
um.
Auch in Budapest hatte der Morgen schon begonnen.
Im Hof leise Stimmen. Rasch spähte er um die Ecke und fuhr sofort
wieder zurück. Mit einem Blick hatte er die Lage erfasst: Hanna
gefesselt am Boden, vier Wächter daneben. Kunun war nicht da,
Atschorek auch nicht. Das war gut; gegen seine beiden Geschwister
zusammen hatte er keine Chance. Doch die vier Schatten waren mit
Sicherheit keine hilflosen Dörfler irgendwo aus der magyrianischen
Provinz. Auch wenn er sie nur vom Sehen kannte und nie mit ihnen
geredet hatte, musste er davon ausgehen, dass sie - vor seiner
Zeit - in der Wache von Akink gewesen waren. Krieger. Kunun hätte
Hanna niemals Leuten überlassen, die unfähig waren.
Hastig ging Mattim seine Möglichkeiten durch. Sich
zeigen und sagen: He, was macht ihr da mit meiner Freundin, und
dafür bringe ich euch jetzt kurz um?
Aber sie waren Schatten. Auch mit einem Schwert
hätte er sie nicht überwältigen können, weder schnell noch langsam.
Sie würden das Gesicht vor Schmerz und Wut verziehen, wieder
aufstehen und ihn schlussendlich ergreifen. Ganz zu schweigen
davon, dass sie Hanna in ihrer Gewalt hatten.
Letztlich gab es nur eines, worin er ihnen mit
Sicherheit voraus war: das Spiel mit dem Schatten. Nicht dumm von
ihnen, dass sie Hanna an den Löwen gefesselt hatten. Der Hof war
nicht unterkellert. Selbst wenn Mattim schnell genug bei ihr war,
würde es zu lange dauern, die Fesseln zu lösen und mit ihr zu
verschwinden. Es gab nicht viele Möglichkeiten, eigentlich nur
eine. Ins Freie zu treten und zu sagen: Hier bin ich, was erwartet
Kunun von mir?
Er hob den zerbrochenen Besen auf, der an der Wand
lehnte, und schlüpfte durch den Fußboden zurück in den Keller. In
dem kleinen Raum, in dem Atschorek die Lampen aufbewahrte, zog er
die Schuhe aus, streifte die Socken ab und tauchte sie ins
Öl.
Hanna bewegte die Füße hin und her, malte kleine
Kreise und Buchstaben, nur um in Bewegung zu bleiben. Ich gebe
nicht auf, noch lange nicht … Mitleidslos kroch die Kälte durch
ihren Körper. Was wollte Kunun, gefrorenes Blut? Sie saß vielleicht
eine Viertelstunde hier, aber es kam ihr bereits vor, als wären es
Stunden. Wenn der Vampir nicht an den Knebel gedacht hätte, hätte
sie die ganze Nachbarschaft zusammengeschrien … Ein schwacher Laut
entschlüpfte ihrer
Kehle, als sie auf einmal Mattim im Eingang zum Hof stehen sah. In
jeder Hand trug er eine der Besenstielhälften, die vom Schwertkampf
mit Atschorek übrig geblieben waren. Um die Spitzen hatte er
irgendetwas gewickelt, was lichterloh brannte.
»Mattim! Mach keine Dummheiten!« Der älteste
Schatten ging ein paar Schritte auf ihn zu. Indem er die
behelfsmäßigen Fackeln vor sich herschwenkte, kam der Prinz in den
Hof. Nicht langsam und vorsichtig, sondern wie der Blitz schnellte
er vorwärts, trieb die Vampire von sich fort und stand schon neben
Hanna. Er warf ihr nur einen kurzen Blick zu, die Augen wild und
dunkel in seinem hellen Gesicht. Rette mich nicht!, wollte sie
rufen. Nein, rette mich nicht!
Die Vampire wichen vor ihm zurück und sahen sich
an, ratlos. Der Angreifer beschrieb mit dem brennenden Stock einen
großen Bogen um sich.
»Mattim! Hör auf! Prinz Mattim!«
Der Junge trieb sie mit den Fackeln vor sich her.
»Raus hier!«, befahl er. »Macht, dass ihr hier rauskommt!«
»Das ist ein Fehler, du solltest nur mit Kunun
reden …« Einer der Vampire versuchte, hinter ihn zu gelangen, aber
Mattim war zu schnell. Er schwang herum, und die Flamme streifte
das Haar des Mannes, das sofort zu brennen begann. Der Getroffene
schrie auf, taumelte durch den Hof und presste den Kopf auf das
gefrorene Wasser des Brunnens.
»Noch jemand?«, fragte der Prinz kühl. »Raus hier,
habe ich gesagt.«
Die Männer sahen sich an und nickten und
verschwanden.
Die Frau zog beim Gehen ein Handy hervor.
»Warte!«, schrie Mattim und sprang mit der Fackel
vor, als wäre sie ein Schwert. »Wähl die Nummer und gib es mir. Und
bleib hier stehen.« Er drängte die Vampirin mit
der Flamme an die Wand. Sie presste die Wange gegen den Stein,
während sie die Tasten drückte. Der Junge riss ihr das Telefon aus
den Händen.
»Mattim.« Als hätte Kunun keinen Moment daran
gezweifelt, dass sein Bruder ihn anrufen würde. »Du bist also
da.«
»Ja, ich bin da«, sagte Mattim. »Sicher wird es
dich nicht überraschen, zu erfahren, dass ich alles andere als
erfreut bin, mein Mädchen hier angebunden vorzufinden. Was hast du
dir bloß dabei gedacht?«
»Bist du etwa nicht losgestürmt wie ein wild
gewordener Tiger, um sie zu befreien? Du hörst dir tatsächlich erst
an, was ich zu sagen habe?«
»Natürlich«, sagte Mattim. »Du bist der Anführer.
Also, was hast du dir dabei gedacht?«
Kunun lachte leise. »Gib mir einen der
Schatten.«
Mattim hielt der Vampirin das Handy an die Lippen,
sein Gesicht so nah an ihrem, als wollte er sie küssen. Sie machte
eine Bewegung, aber die Fackel loderte vor ihrem Gesicht, und die
Flamme erfasste beinahe ihr Haar.
»Die Kleine ist immer noch gefesselt?«, erkundigte
Kunun sich.
»Ja«, knurrte die Frau.
»Sieh an. Nicht schlecht. Wieder eine Prüfung
bestanden. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mich das freut. Dann
darf er sie jetzt losbinden.«
Die Bedrängte öffnete den Mund, um noch etwas
hinzuzufügen, aber Mattim zog das Handy rasch zurück und schaltete
es ab.
»Eine Prüfung also«, sagte er.
»Bei der du jämmerlich versagt hast!«, rief die
Schattenfrau, stieß ihn vor die Brust und rannte zum Ausgang.
Mattim machte sich nicht die Mühe, ihr zu folgen.
Er eilte zu Hanna, legte die Fackeln auf den Boden, löste den
Knebel, strich mit den Fingern leicht über die Wange der
Gefangenen und machte sich daran, das Seil um den Steinlöwen
aufzuknoten.
»Réka.« Sie krächzte, ihre Zunge wollte ihr nicht
gehorchen. »Réka. Wir müssen … Réka.«
»Zuerst müssen wir fort von hier. Sie werden Kunun
Bescheid geben, so viel ist klar. Ich werde dich in Sicherheit
bringen, bevor ich mich mit ihm auseinandersetze.«
»Nein. Réka …«
Er half ihr hoch. Einen Moment drückte er sie mit
dem freien Arm fest an sich und sah ihr dabei in die Augen. Wieder
war er da, dieser dunkle Blick, als wäre ein Schatten über den
grauen Himmel gefallen und als wären die Steine im Gebirge sich des
Gewichts bewusst, das auf ihnen lastete, ein Gewicht, das sie bis
in die Tiefen der Erde hinunterdrückte.
»Ich hab’s vermasselt, in Magyria«, flüsterte der
Prinz, und in diesem einen dahingeworfenen Satz entdeckte Hanna das
ganze Ausmaß seiner Verzweiflung. »Aber du lebst.«
»Mattim, er wird sich Réka holen. Sie sind noch
nicht lange weg, höchstens eine halbe Stunde. Wir müssen es
verhindern!«
»Réka?«, fragte Mattim. Er führte sie schon zum
Ausgang, leuchtete mit der Fackel in die Ecken und legte dann
vorsichtig die Hand auf den Türknauf. »Sie werden uns nicht einfach
so entkommen lassen. Das sind Kununs Leute, sie wissen, was er tun
wird, wenn sie versagen … Komm, wir gehen lieber hier
entlang.«
Im Tageslicht waren alle Schatten diffus und
verschwommen, doch er hielt die Fackel einfach vor sich hin und
warf sich rücklings durch die Wand ins nächste Haus. Hanna japste
vor Schreck auf, als sie sich in einem fremden Flur
wiederfanden.
Mattim legte die Fackeln zur Seite und umfasste mit
beiden Händen ihr Gesicht. »Was ist mit Réka?«, fragte er sehr
ernst.
»Es ist der zweite Teil der Prophezeiung.
Szigethy-Blut für die Stadt. Kunun wird ihr Blut benutzen,
um die Schatten auszurüsten. Und er wird sie umbringen, damit es
besser wirkt. Mattim, verstehst du? Dein Bruder weiß, dass der
Donua mächtiger ist als die Donau. Er wird auf Nummer sicher gehen
und sie töten!« Es gab keinen Zeitpunkt, zu dem sie eine Wahl
getroffen hätte, zu dem sie sich gesagt hatte: Rékas Leben ist mir
wichtiger als meins. Denn es gab keinen einzigen Moment, in dem sie
auch nur erwogen hatte, es nicht wenigstens zu versuchen, ihren
Schützling zu retten.
Freundschaft, ein Band, das nie gegen die Kraft
des gemeinsamen Blutes bestehen kann … Was war Réka für sie?
Ihre Freundin? Oder ihre kleine Schwester? Atschorek irrte sich.
Liebe fragte nicht nach Verwandtschaft.
Mattim schaute sie an, und obwohl sie ihm nicht
gesagt hatte, was Kunun tun würde, wenn Réka gerettet wurde, war
die Intensität seines Blicks nahezu unerträglich.
»Er wird dich nicht bekommen«, versprach er leise.
»Weder dich noch sie.«
»Dann wird er dich töten«, flüsterte sie. »Du
hättest mich nicht losbinden dürfen.«
Einen Augenblick lang schwiegen sie beide. Aber die
Eile brannte in ihr, und sie drängte zur Tür. Mattim hielt sie am
Arm fest. »Warte. Sie beobachten die Straße, so viel ist sicher.
Wir müssen einen anderen Ausweg suchen, damit sie nicht wissen, wo
wir sind. Hier, dein Telefon. Ruf Réka an. Stell fest, ob sie noch
frei ist.«
»Wenn dein Bruder eine halbe Stunde Vorsprung hat,
werden wir sie nie und nimmer vor ihm erreichen. Dann ist er längst
da. Man braucht von hier vielleicht zwanzig Minuten zur Schule.
Allerdings wollte er noch einen Krug auftreiben.« Mit bebenden
Fingern wählte Hanna die Nummer. »Geh ran, bitte, geh ran …« Sie
unterdrückte ein Schluchzen, als sie Rékas Stimme an ihrem Ohr
hörte.
»Ja, was ist denn?«
»Réka! Réka, wo bist du?«
»Auf dem Schulhof, der Unterricht fängt gleich an.
Hanna, ist etwas passiert? Du klingst so komisch. Und Mama hat
gesagt, du wirst zurück nach Deutschland gehen. Sie hat heute
Morgen die ganze Zeit mit uns geschimpft, sie war völlig daneben.
Obwohl es mein Geburtstag ist! Und …«
»Réka«, unterbrach Hanna, »hör mir zu, du musst
…«
»Du, ich mach jetzt Schluss. Bis später!«
Hanna starrte Mattim an.
»Wir werden nicht rechtzeitig dort sein. Wir werden
es nicht …«
»Beruhige dich.« Er fasste sie bei den Schultern,
bis sie ruhig dastand und ihn ansah. Sein Gesicht, so ernst. Alles
andere als jungenhaft. Es war, als würde er die beiden Fackeln
immer noch in den Händen halten, ein zorniger Racheengel.
»Versprich mir, dass alles gut wird«, flüsterte
sie. »Versprich es mir.«
»Mein Bruder wird Réka nicht bekommen«, sagte
Mattim. »Gib nicht auf, Hanna. Noch ist er nicht da. Sie ist in der
Schule. Denk nach. Kennst du jemanden, der in der Nähe der Schule
wohnt?«
»Außer Atschorek? Nein, aber - Mónika! Die
Musikschule ist auch im zwölften Bezirk. Sie könnte in zehn Minuten
an der Schule sein. Beten wir, dass Kunun immer noch nach einem
Krug sucht.« Hastig rief sie die Nummer an und wartete, dass ihre
Gastmutter sich meldete.
»Mónika, hier ist Hanna. Du musst unbedingt Réka
von der Schule abholen, sofort, sie ist in Gefahr, sie soll
…«
Sanft nahm Mattim ihr das Telefon aus der
Hand.
»Frau Szigethy, mein Bruder wird heute mit Réka
durchbrennen«, sagte er. Seine Stimme klang ruhig und gefasst und
sehr erwachsen. »Wenn Sie Ihre Tochter bitte sofort aus dem
Unterricht abholen könnten. Sie werden sie vielleicht
sonst nie wiedersehen. Ja, unter einem Vorwand, die Lehrerin muss
ja nicht unbedingt … Ja, Frau Szigethy, es ist ernst, glauben Sie
mir. Bringen Sie Réka - nein, nicht nach Hause, das ist gar keine
gute Idee, dort wird er als Nächstes hinkommen. Fahren Sie mit ihr
…« Er suchte Hannas Blick.
»Zu Mária«, sagte sie. Das Erste, was ihr
einfiel.
»Zu Mária«, wiederholte Mattim, »Sie wissen doch
sicher, wo sie wohnt? Wir treffen uns dann dort. Ja, bis gleich.
Und bitte - erwähnen Sie Réka gegenüber nicht, dass Sie ihren Plan
kennen, bleiben Sie ganz ruhig, sagen Sie am besten gar nichts. Ja,
die Geschichte von dem Notfall, ja, das ist eine gute Idee.«
»Ich wusste gar nicht, dass du so gut lügen
kannst«, sagte Hanna.
Merkwürdig, wie sehr das kleine Lächeln, das um
seine Mundwinkel zuckte, sie an Kunun erinnerte.
»Daran war nichts gelogen«, sagte er. »Kunun wird
der Frau die Tochter stehlen, wenn sie nichts tut. Hoffen wir nur,
dass Mónika gut genug lügen kann, damit Réka keinen Verdacht
schöpft und ihr entwischt.«
»Dann auf zu Mária«, sagte Hanna, während sie schon
loslief. »Wir müssen vor ihnen da sein. Komm. Wir haben nur wenig
Zeit.«