DREIZEHN
AKINK, MAGYRIA
Seinem Ziel, wieder in die Nachtpatrouille aufgenommen zu werden, war Mattim natürlich keinen Schritt näher gekommen. Zunächst durfte er nicht einmal mehr Tagdienst verrichten, sondern hatte die strikte Anweisung, im Schloss zu bleiben. Obwohl er wusste, dass der König es nicht gern sah, begann er tagsüber zu schlafen und die Nächte draußen auf der Wehrmauer zu verbringen, ein Nachtwächter im eigenen Dienst. Wütend marschierte Mattim auf der Wehrmauer hin und her und starrte hinaus auf den Fluss und den Wald dahinter, wie ein Schiffbrüchiger, der nach Land Ausschau hält.
»Man hat mir gesagt, dass du hier bist.« König Farank verstand es, jede Missbilligung aus seiner Stimme zu entfernen, dennoch spürte Mattim den Tadel.
»Du kannst mich jederzeit Morrits Patrouille zuteilen«, sagte er.
»Reicht es dir nicht? Was in jenem Dorf fast geschehen wäre? Was mit deinen Kameraden von der Tagwache passiert ist? Wenn nicht, sollte der Befehl deines Vorgesetzten dir reichen. Und der deines Königs.«
»Sie werden mir nichts tun.« Davon war der Prinz überzeugt. Es hätte keinen besseren Beweis geben können als die Nacht im Dorf und die Verfolgungsjagd durch den Wald. Morrit war dafür geehrt worden, dass er den Königssohn zurück nach Akink gebracht hatte, aber Mattim wusste es besser. Jetzt, da er erfahren hatte, worauf der Jäger aus war, fühlte er sich dazu fähig, alles zu tun und alles zu erreichen. Sie warteten auf ihn, doch ab sofort würden sie ihn in Ruhe lassen, und wenn er nicht zu ihnen ging, was konnten sie dann schon tun?
»Glaubst du, die Schatten fürchten dich?«, fragte Farank. »Das tun sie nämlich nicht.«
Manchmal, wenn er die Augen schloss, sah er die kleinen Wölfe vor sich, die mit seiner Hand spielten, und dahinter im Dämmerlicht des Waldes den großen, schlanken Mann mit dem schwarzen Mantel. Manchmal hörte er die Stimme des Jägers, die ihn rief, eine Stimme ohne Zaubermacht. Es bereitete ihm ein unwiderstehliches Vergnügen, sich daran zu erinnern und zu wissen, dass die Schatten keine Macht über ihn hatten, dass sie nicht dazu fähig waren, ihn zu sich zu rufen. Selbst ihr König nicht.
»Mattim, hör mir zu.« Farank kam nicht dazu, seinem Sohn weiter ins Gewissen zu reden. Der laute Ruf des Horns zerriss die Nacht, ein Ruf von jenseits des Flusses aus den Wäldern.
»Das ist die Nachtpatrouille!«, schrie der König alarmiert auf. »Sie brauchen Verstärkung!«
Der Prinz hatte ein, zwei Schritte getan, als ihn sein Vater grob zurückriss.
»Du nicht!« Farank brüllte fast, sein Gesicht verzerrt von Angst und Sorge.
»Aber sie sind in Schwierigkeiten!«
»Du nicht«, wiederholte der König, und aus seiner Stimme sprach eine Verzweiflung, von der Mattim nichts wissen wollte. »Du ganz bestimmt nicht.«
»Sie brauchen Beistand. Da draußen sind meine Freunde!«
»Denen ich Hilfe schicken werde. Allerdings ohne dich.«
Mattims Blick hätte Steine erweichen können. Schließlich seufzte Farank. Er klang müde, als er sagte: »Du darfst an der Brücke auf sie warten. Du tust jedoch keinen Schritt an das andere Ufer.«
»Ja, Vater.« Es war nicht viel, wenngleich mehr, als er zu hoffen gewagt hatte. In großen Sprüngen rannte er die vielen Treppen hinunter und bekam gerade noch den Auszug der Verstärkung mit. Die Brückenwächter ließen ihn durch ihre Reihen hindurch, als würden sie ihn nicht bemerken, aber der Mann am hinteren Ende trat ihm entgegen und nickte ihm zu.
»Du bleibst hier bei mir, Prinz Mattim?«
Es hörte sich an wie eine Frage. Der Königssohn kannte den Mann von seinem eigenen Brückendienst her; sosehr es ihn auch danach verlangte, an ihm vorbeizustürzen und hinter den anderen in den Wald einzutauchen, er wollte ihn nicht in Schwierigkeiten bringen.
Die Brückenwache tat nichts weiter als warten. Von den Bäumen her, die in der Dunkelheit zu einer einzigen schwarzen Masse verschmolzen, kam nichts. Eine Stille, die tief und dicht war, als würde niemand irgendwo dort kämpfen und leiden und vielleicht sterben … Dann, endlich, die hüpfenden Lichter der Patrouille, Gestalten, erst noch dunkel, die allmählich Gesichter bekamen, während sie sich der hell erleuchteten Brücke näherten. Sie trugen jemanden. Mattim eilte den Heimkehrenden entgegen.
»Morrit? Ist er verletzt? Was ist passiert?«
Die Männer, die Morrit trugen, schüttelten besorgt die Köpfe. »Er hat viel Blut verloren.«
»Morrit!« Mattim umfasste die Hand des Mannes, der vielmehr sein Freund war als sein Vorgesetzter. Der Verletzte schrie auf. »Morrit! - Was ist passiert? Mit wem habt ihr gekämpft? Schatten? Wölfe?«
»Eine Schwertwunde«, sagte einer der Wächter. »Irgendjemand von uns muss ihn im Gedränge erwischt haben. Sie waren überall. Beim Licht, wir haben mindestens vier, fünf Leute an sie verloren! Ein paar sind verletzt …«
Die Brückenwache stellte sich ihnen entgegen. »Ohne Prüfung können wir euch nicht durchlassen.«
»Er braucht dringend einen Arzt!«, rief Mattim. »Vergesst endlich eure verdammten Prüfungen!«
»Bedaure. Wir müssen uns sicher sein. Wir müssen sie überprüfen, jeden Einzelnen von ihnen.« Die Brückenwächter bildeten eine undurchlässige Barriere vor den Heimkehrern.
»Dazu ist keine Zeit!« Hilfesuchend blickte Mattim sich um. Vor ihnen leuchtete der Fluss, getränkt von Licht, ein schimmerndes Band in der Nacht. »Lasst Morrit durch. Die anderen schickt ins Wasser. Das haben wir doch schon einmal so getan. Bitte! Er verblutet, seht ihr das nicht!«
Morrit stöhnte; die Qual seines Freundes ging dem Prinzen durch und durch. »Vielleicht können ihn die Ärzte noch retten! Bitte! Sieht das etwa wie ein Biss aus? Ihr hirnverbrannten Idioten, lasst ihn endlich durch!«
Der Wächter inspizierte die klaffende Wunde. »Na gut«, sagte er schließlich.
Mattim stieß ihn beiseite. Die Flusshüter beeilten sich, mit ihrer kostbaren Last über die Brücke zu kommen.
»Wer ist noch verletzt?«, fragte der Königssohn. »Weitere Stichwunden? Lasst sie durch, schnell! Du da, du blutest, komm. Lasst sie durch!«
»Wir werden jeden Einzelnen untersuchen«, verkündete der Brückenwächter. Es klang nicht danach, als wäre er bereit, auch nur bei einer einzigen weiteren Person Gnade walten zu lassen. »Zeig uns deine Wunden.«
Eine Wächterin, blass vor Schmerzen, kam näher und schob ihren blutdurchtränkten Ärmel hoch.
»Es ist nicht zu erkennen«, meinte der Brückenwächter zögernd. »Seit wann verletzt ihr euch alle gegenseitig? Ist das ein Biss, oder war es ein Dolch? Wie soll ich das feststellen?«
»Die Frau braucht einen Arzt.« Mattim nickte ihr zu. Er kannte sie gut aus seiner Zeit als Nachthüter, eine mutige und unerschrockene Wächterin. Jetzt war sie kaum wiederzuerkennen. Mit dunklen Augen starrte sie ihn schmerzverzerrt an und ächzte, als er näher kam.
Plötzlich dachte er an Roman. Daran, wie Roman gestorben war. »Bin ich es?«, fragte er, obwohl er einige Schritte von ihr entfernt stand. »Tue ich dir etwa weh?«
Sie starrte ihn an und wich zurück.
»Schatten!«, brüllte der Wächter. »Vorsicht! Schatten!«
Die Frau schrie auf, als die Umstehenden ihre Schwerter zogen, so qualvoll, dass es Mattim durchfuhr. »Nein! Nein! Oh, nein!«
»Treibt sie zum Fluss!«, rief der Brückenwächter. »Bevor sie irgendjemandem zu nahe kommt!«
War es nicht so, dass Schwerter einem Schatten nichts anhaben konnten? Dennoch schrie die Frau fürchterlich, als ein Hieb sie traf, und vor ihren Waffen, vor ihren grimmigen Gesichtern wich sie aufschluchzend zurück. Hinter ihr lag das Ufer des Donua. Die vielen Lichter der Brücke spiegelten sich im Wasser. Die Frau warf einen Blick hinter sich, weinte wieder und versuchte mit einem Sprung zur Seite den Schwertern zu entkommen. Doch da stand Mattim, und wieder schreckte sie vor ihm zurück, das Gesicht verzerrt vor Qual. Entschlossen rückten die Wachen weiter vor, und da versanken ihre Füße schon im Uferschlamm. Die Frau blieb stehen, ein ungläubiger Ausdruck glitt über ihr Gesicht.
»Für Akink«, sagte sie und warf sich nach hinten, ins Wasser.
Alle hörten, wie sie fiel, dann war sie verschwunden.
»Das Wasser löst sie auf«, sagte der Brückenwächter leise hinter Mattim. »So wie das Licht. Die Schatten verbrennen daran.«
Mattim war gelähmt vor Entsetzen.
»Geh, Prinz«, bat ihn der Wächter, »wir werden herausbekommen, wie viele von ihnen es noch sind.«
Lass mich hier, und wir können sehr schnell feststellen, wer es ist, wollte er sagen. Doch er schwieg, denn er wusste nicht, ob er es ertragen konnte, noch einmal ein solches Ende mit anzusehen. Dann erinnerte er sich daran, wie Morrit gestöhnt hatte, als Mattim seine Hand ergriffen hatte, und eine solche Angst überfiel den Jungen, dass er nicht sprechen konnte. Er drehte sich um und rannte über die Brücke nach Akink, so schnell ihn seine Beine trugen.
Morrit war inzwischen aufgestanden und schien die klaffende Wunde in seiner Seite nicht zu spüren. Er stand da, während die Wachen einen großen Kreis um ihn bildeten. »Ich bin es!«, rief er immer wieder. »Ihr kennt mich doch! Ich bin es!« Dann bemerkte er Mattim und machte ein paar Schritte in die Richtung des Lichtprinzen. »Ich bin es! Ich bin immer noch ich! Lasst mich gehen, bitte, so lasst mich doch gehen!«
Einer der Wächter drehte sich mit aschfahlem Gesicht zum Prinzen um. »Nein«, sagte er leise. »Das ist nicht mehr Morrit. Das ist ein Schatten. Der Arzt hat die Bisswunde entdeckt. Warum habt ihr ihn bloß über die Brücke gelassen?«
»Mattim!«, rief Morrit. »Hilf mir! Gnade, König Farank, bitte, Gnade!«
Der König war herbeigeeilt. Erhöht stand er auf der Mauer und blickte auf den Platz hinunter. Sein Gesicht verriet keine Regung.
»Ich kann Euch dienen!«, flehte der ehemalige Anführer der Nachtpatrouille. »Ich kann zu den Schatten gehen und alles über sie in Erfahrung bringen, was wir wissen müssen, um sie zu besiegen. Ich stehe immer noch auf Akinks Seite, glaubt mir! Ich kann Euch nützlich sein! Ich werde immer noch für Euch kämpfen!«
Der König des Lichts nickte den Wachen zu. Sie traten zur Seite, um die Bogenschützen vorzulassen. Die Männer hatten ölgetränkte Lappen um die Pfeilschäfte gewickelt, die sie nun entzündeten.
»Schießt!«
»Nein!« Mattim versuchte, sich nach vorne zu drängen. »Vater, nein!«
Unter dem Hagel der brennenden Pfeile ging Morrit in die Knie.
»Verbrennt ihn!«, bestimmte der König mit rauer Stimme. »Lasst nichts von ihm übrig. Seht genau hin. Das riskieren die Hüter, wenn sie den Fluss und Akink schützen.«
Unfähig sich zu rühren, verfolgte Mattim, wie Morrit in ihrer Mitte tanzte, während die Pfeile flogen, immer mehr, einer nach dem anderen. Der Mann musste unvorstellbare Qualen erleiden, aber er schrie nicht mehr. Er wankte über den Platz, nicht tot und nicht lebendig. Auf der anderen Seite, hinter den Wächtern, erkannte Mattim Miritas schlanke Gestalt, auf ihren Gehstock gestützt. Ihr helles Haar schimmerte durch die dichter werdenden Rauchschwaden.
Gebannt starrte der Prinz in das Feuer, auf die lichterloh brennende Gestalt. Es war ein Wesen mit menschlichen Umrissen, ein Wesen aus Licht. Es erhob sich und torkelte vorwärts. Die Wächter wichen unwillkürlich zurück, als Morrit auf sie zutaumelte.
»Mattim!«, rief er. »Mattim!«
Der junge Mann blieb stehen, und seltsamerweise fürchtete er sich nicht. Es war kein Schatten, kein Toter, sondern Morrit, immer noch Morrit, der auf ihn zukroch, während die Flammen über sein Haar züngelten, der die Hände nach ihm ausstreckte. Ihre Blicke trafen sich, Morrits dunkle Augen, Mattims graue. Dann schien der ehemalige Anführer einen Herzschlag lang aus glühendem Staub zu bestehen - und war fort.
Die Wachen zogen den Prinzen zur Seite, aber er schüttelte sie ab. Er merkte nicht, wie Mirita die Hand nach ihm ausstreckte. Nur seinen Vater sah er an, stellte sich ihm in den Weg, in seiner Stimme lagen all die Tränen, die er hier, vor den vielen Zuschauern, nicht weinen konnte.
»Das war Morrit«, sagte er. »Bis zum Schluss war es Morrit. Warum hast du das bloß getan, Vater? Warum?«
»Kein Schatten kommt nach Akink«, sagte der König streng. »Kein Verdächtiger überquert diese Brücke, ohne dass die Wächter ihn prüfen.« Er hob die Hand und versetzte seinem Sohn vor aller Augen eine schallende Ohrfeige. »Man hat mir gesagt, dass du meine Männer daran gehindert hast, ihre Pflicht zu tun. Muss ich es noch einmal sagen? Kein Schatten kommt hierher nach Akink!« Der König schlug noch einmal zu. »Du bist mein einziger Sohn, aber wenn ich wüsste, dass sie dich verwandelt haben, ich würde dich verbrennen, bis du zu Asche zerfällst.«
Mattim wusste, dass er lieber schweigen sollte, konnte es jedoch nicht. Sein Gesicht brannte, doch er konnte die öffentliche Bloßstellung, die Schande nicht einmal fühlen. Er sah nur Morrit vor sich. Morrits Blick. Prinz Mattim, für Akink.
»Er ist zu mir gekommen, um durch mein Licht zu sterben«, sagte er. »Nicht durch das Feuer, sondern durch mich. Es war Morrit. Und er hätte so viel für uns tun können, mehr als irgendjemand sonst. Er hätte zu ihnen gehen und ihnen ihre Geheimnisse entlocken können. Warum musste er sterben?«
»Selbst in ihren letzten Augenblicken wissen die Schatten noch, wen sie vernichten wollen«, sagte König Farank, ohne sich zu seinem Sohn umzudrehen.
 
»Er war nicht böse.« Wieder und wieder sagte Mattim diesen Satz, während er in seinem Zimmer auf und ab wanderte. Dann blieb er endlich stehen und wartete auf Miritas Zustimmung. »Du hast ihn gesehen, auf dem Platz. Glaubst du, er war böse? Ein anderer?«
»Ich weiß es nicht.« Hilflos zuckte sie mit den Schultern. Sie wusste nicht mehr, ob es eine gute Idee gewesen war, den Prinzen im Palast zu besuchen.
»Du warst da. Also red dich nicht heraus. Was hast du gedacht, als die Pfeile flogen? Ein Glück, dass dieser Schatten endlich erledigt wird? Oder hast du an Morrit gedacht, an den Morrit, den wir kannten?«
»Ich habe geweint«, gab Mirita zu. »Das heißt allerdings gar nichts. Ich habe geweint, weil wir ihn verloren haben.«
»Er hätte uns helfen können, die Schatten zu verstehen.« Wütend stieß Mattim mit dem Fuß gegen eine Teppichkante, bis sie sich aufrollte. »Wir hätten ihn befragen können, was passiert ist. Wie es passiert ist. Was er dabei gefühlt hat.«
»Er war ein Schatten!«, protestierte Mirita ungläubig.
»Und wenn schon! Er war er selbst! Wir haben Morrits Hinrichtung mit angesehen!« Mattim kam mit schnellen Schritten auf sie zu und blickte ihr mitten ins Gesicht, als könnte er sie so dazu zwingen, ihm zuzustimmen. »Goran ist verschwunden in jener Nacht, Goran und noch ein paar andere … Glaubst du, sie wird sich auf uns stürzen, wenn sie uns im Wald trifft? Glaubst du, sie ist eine blutdürstige Bestie - unsere Goran? Wie kann ein Biss jemandes Charakter verändern? Der Biss eines Schattenwolfes kann einen Menschen halb töten, so dass er zu einem Schatten wird. Aber wie könnte er das Herz eines Menschen verändern? Morrit hätte niemals gegen uns gekämpft. Er hätte weiterhin auf unserer Seite gestanden, wenn wir ihn gelassen hätten.«
»Niemand wollte das Risiko eingehen«, wandte Mirita ein. Mattims Gesicht so nah vor sich zu haben, brachte sie zum Schwitzen. Sie konnte die Wärme spüren, die von ihm ausging und in ihr ein Feuer entfachte. Die beiden waren sich so nah, dass Mirita für einen Moment glaubte, er wollte sie küssen.
Aber er küsste sie nicht. Stattdessen richtete er sich auf und nahm seine endlose Wanderung durchs Zimmer wieder auf. Da sie das Gefühl hatte, dass er mit ihr unzufrieden war, versuchte sie, ihre Meinung zu verteidigen.
»Stell es dir doch nur mal vor. Ein Schatten in der Flusswache. Wer will vor ihm gehen? Wer würde auch nur einen Moment mit ihm allein sein wollen? Jeder hätte Angst. Man könnte den Fluss gar nicht mehr bewachen, jeder hätte nur noch Augen für den Schatten. Die Hand am Dolch, den Pfeil schussbereit auf der Bogensehne. Er bräuchte nicht einmal gegen uns zu kämpfen. Seine bloße Anwesenheit würde es uns unmöglich machen, unsere Arbeit zu tun.«
Mattim hörte natürlich nur das heraus, was ihm passte. »Du räumst also ein, dass es möglich wäre. Es könnte einen Schatten geben, der niemanden angreift. Der immer noch er selbst ist.«
»Nein, ich …«
»Beim Licht, Mirita!« Der Prinz presste beide Hände gegen die Brust. »Hier schlägt mein Herz. Genau hier. Für Akink. Für Magyria.«
Ihr eigenes Herz machte einen Sprung, so sehr hoffte sie, er möge ihren Namen hinzufügen. Aber er lächelte sie nur an, siegesgewiss und so sehr von seiner eigenen Kraft überzeugt, dass sie nahezu bereit war, klein beizugeben.
»Wie könnte eine Wunde in meiner Haut aus meinem hellen Herzen voller Licht etwas Dunkles machen? Wie, wenn ich es nicht will?«
»Und deine Geschwister?«, fragte sie. »Glaubst du, sie haben es gewollt?«
Es war immer wieder der gleiche Einwand. Die Frage, mit der man ihn stets treffen konnte. Sein Lächeln verblasste.
»Ich habe sie nie kennengelernt«, sagte er leiser. »Ich habe keine Ahnung, wie stark sie waren. Wovon sie geträumt haben. Ich weiß nicht, wer sie waren.«
Mitleid überflutete Mirita. Sie konnte ihn so gut verstehen. Morrit, eingekreist von der Wache, hatte sie nicht angeschaut. Aber wenn sie sich vorstellte, dass er es getan hätte, dass sie seinem Blick hätte standhalten müssen … Wenn ihr Bein nicht gewesen wäre, hätte man auch sie zum Dienst gerufen. Vielleicht wäre sie bei dem Angriff im Wald dabei gewesen. Vielleicht hätte sie selbst einen ihrer Pfeile auf den Mann anlegen müssen, der ihr alles beigebracht hatte.
»Ich hätte schießen müssen«, sagte Mirita. »Aber es wäre mir schwergefallen, das kannst du mir glauben.«
Mattim kam wieder näher, in seinen Augen lag ein Glanz.
Jetzt ist er mir wieder gut, dachte sie. Und vielleicht …
Leider erfuhr sie nie, ob sie für ihr Geständnis einen Kuss bekommen hätte, denn just in diesem Moment klopfte es an der Tür und ein Flusshüter betrat das Zimmer des Prinzen. Zögerlich, in seinem Blick lag etwas Gehetztes.
»Ja?«, fragte Mattim. »Derin?«
»Mein Prinz, ich wollte …« Dann bemerkte der Mann Mirita. »Kann ich allein mit dir reden?«
»Sprich ruhig.« Mattim winkte Derin, sich zu setzen. Viele Nächte waren sie gemeinsam durch den Wald gestreift, und der Einsatz im Dorf hatte sie miteinander verbunden, doch hier, in der königlichen Burg, fühlte er sich sichtlich unbehaglich. Mirita kannte dieses Gefühl. Es war etwas ganz anderes, gemeinsam Dienst mit dem Prinzen zu tun oder einen Bereich zu betreten, der einem normalerweise verschlossen blieb.
Derin rang die Hände, doch dann brachte er es endlich hinter sich. »Sie waren bei den Höhlen«, begann er. »Morrit und die anderen. Er hatte uns den Befehl erteilt, das Gelände im Umkreis zu sichern, während sie dort gewartet haben. Keine Ahnung, worauf. Er sagte nur, du hättest ihn darum gebeten, Prinz Mattim.«
Mirita sog scharf die Luft ein. »Du hast was?«
Der Thronfolger winkte ungeduldig ab. »Bist du sicher, Derin?«, hakte er nach. »Sie waren bei den Höhlen? Und der Wald war frei von Schatten? Niemand hätte sich zwischen euch hindurchschleichen können?«
»Das hätte ich behauptet, als ich noch dort stand. Aber wie es aussieht, haben wir uns überschätzt.«
Hinter Mattims Stirn arbeitete es. »Sie kamen aus den Höhlen.«
»Das kannst du unmöglich wissen!«, rief Mirita.
»Ich dachte, du solltest es erfahren«, meinte Derin abschließend. »Mein Prinz.« Er wandte sich zum Gehen, zögernd.
»Wenn sie aus den Höhlen gekommen sind, konntet ihr nichts tun«, sagte Mattim. »Ihr wart nicht unaufmerksam. Ihr wart nur zu wenige, um den Schatten zu trotzen, das war Morrits Fehler.«
Derin nickte. Ein müdes Lächeln stahl sich auf seine vom Schrecken gezeichneten Züge. »Danke.«
Als er fort war, richtete Mirita sich auf. »Du hast die Hüter zu den Höhlen geschickt? Bist du noch ganz bei Trost?«
»Ich habe es weder befohlen noch Morrit darum gebeten. Ich hatte ihm nur erklärt, warum die Wölfe uns beide allein gejagt haben. Mirita! Er hat daran geglaubt. Er wollte dasselbe herausfinden wie ich!«
»Das hat er mit seinem Leben bezahlt.« Rede es ihm aus, dachte sie. Rette ihm das Leben. Aber sie konnte nichts mehr sagen. Die Tränen nahmen ihr die Sicht und verwirrten ihren Geist, denn sie ahnte, was nun kommen würde.
»Wir kämpfen gegen Schatten«, sagte er leise, »die auftauchen und verschwinden, wie es ihnen beliebt. Sie lachen uns aus. Sie stecken Wölfe in unsere Fallen, damit wir zufrieden sind und leichtsinnig werden. Man kann gegen Schatten nicht kämpfen, die aus dem Nichts auftauchen. Wir können nur versuchen, die Pforte zu schließen, durch die sie kommen.«
»Was hast du vor?«, fragte Mirita heiser.
In Mattims Augen blitzte etwas auf, ein selbstmörderischer Trotz, und auf einmal fürchtete sie sich wie nie zuvor.
»Wir waren in der Höhle«, erzählte er. »Aber wir konnten den Durchgang nicht sehen. Man muss ein Schatten sein, um dort ein und aus zu gehen.«
»Hör auf. Nein, Mattim, bitte, hör auf!«
»Man muss ein Schatten sein«, wiederholte er. »Nur so kann man hinter das Geheimnis kommen. Nur so kann man herausfinden, wohin diese Höhlen führen und warum die Schatten, wenn sie ins Licht treten, nicht vergehen. Man muss sein wie sie, um zu verstehen. Und verstehen muss man es, Mirita. Wenn man sie nicht versteht, kann man sie nicht bekämpfen und nicht besiegen. Wir müssen herausfinden, was das Geheimnis ihrer Kraft ist.«
»Man?«, wisperte sie. »Man muss ein Schatten sein? Mattim, weißt du, was du da redest?«
»Ich würde gewiss nicht böse werden«, versicherte er, und redete hastig weiter, als müsste er schnell all seine Argumente loswerden, bevor sie ihm widersprechen konnte. »Morrit war nicht böse. Er war wie immer, er war immer noch er selbst. So kann ich auch sein. Und fang jetzt nicht wieder mit meinen Geschwistern an. Vielleicht kommt es allmählich. Das Bösesein. Vielleicht«, er versuchte zu lachen, »ergreift einen irgendwann der Trieb, anderen an die Kehle zu gehen. Jedenfalls geschieht es nicht sofort. Ich habe Morrit in die Augen gesehen, er wollte nur Gnade, sonst nichts. Glaubst du, ich könnte jemals Vergnügen daran finden, Menschen zu beißen und ihnen das Blut auszusaugen? Es ist lächerlich. Wenn dagegen … ich meine, wenn es mit der Zeit kommt, wenn es womöglich irgendwann so stark ist, dass ich mich nicht mehr dagegen wehren kann, dann musst du mich töten.«
»Ich?«, japste Mirita.
»Wenn ich ein Schatten bin«, fuhr Mattim fort, »muss ich irgendjemandem mitteilen, was ich herausgefunden habe. Du bist die Einzige, die mir zuhören würde, die nicht schreiend davonlaufen würde. Ich werde zu dir kommen. Wir müssen ein Zeichen vereinbaren, damit du weißt, dass ich in der Nähe bin, und dich eine Weile von den anderen Flusshütern entfernst. Ich könnte wie ein Wolf heulen. Ich glaube, das bekomme ich ziemlich echt hin.«
»Mattim! Im Wald wimmelt es von Wölfen. Wie sollte ich wissen, dass du es bist? Es ist Unsinn. Dein ganzer Plan ist Unsinn.«
»Wenn ich wie eine Eule schreie …«
»Nein!«, rief Mirita. »Nein, nein und nochmals nein! Du sollst nicht so tun, als wärst du ein Tier der Nacht.«
»Dann werde ich wie ein Turul krächzen. Das kann ich auch, soll ich es dir vorführen, damit du weißt, wie es klingt?«
»Nein! Ich will nichts davon hören. Nein, Mattim, nein!«
»Wenn ich rufe, dann komm zu mir«, sagte er. »Sobald du jedoch merkst, dass ich anders geworden bin - so wie die anderen Schatten -, dann musst du mich töten. Versprich mir das. Lass mich nicht als blutrünstige Bestie durch den Wald streifen und Menschen überfallen.«
Mirita schüttelte wild den Kopf. »Hör auf. Mattim, hör endlich auf.«
»Wie sonst sollen wir das Grauen beenden?«, fragte er. »Hast du eine bessere Idee?«
»Was, wenn es nichts bringt?«, fragte sie zurück. »Wenn du dich ganz umsonst opferst? Wenn du sofort böse wirst und gar keine Gelegenheit hast, mir etwas zu übermitteln? Du bist der Prinz des Lichts. Die Stadt wird sich verdunkeln, wenn du fort bist. Und dann wird es keine Hoffnung mehr geben. Gar keine.« Ihre Stimme versagte. Sie stand auf und ging durchs Zimmer, fort von ihm, sie wollte ihn nicht ansehen und musste doch zu ihm zurückkehren.
Was konnte sie tun, um ihn vor dem schrecklichen Tod zu bewahren, den er gewählt hatte? Tu es nicht, wollte sie rufen. Wir werden alles verlieren und nichts gewinnen. Sie sollen die Burg niederreißen, wenn sie unserem Prinzen ans Leben wollen. Aber wir werden ihn den Schatten nicht freiwillig überantworten. Niemals. Nicht, solange wir uns stolze Magyrianer nennen dürfen.
»Nein«, flüsterte Mirita.
Aber sie kannte Mattim. Wenn er sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, gab es kein Zurück. Er war keiner Vernunft zugänglich. Wollte sie verhindern, dass er sich selbst den Wölfen zum Fraß vorwarf, dann musste sie den König informieren und dafür sorgen, dass man den Prinzen in Ketten legte.
Vielleicht hatte Elira genau das gemeint, als sie Mirita beschwor, Mattim zu retten. Dinge zu tun, die so schwer waren, dass nur jemand, der genug liebte, sie tun konnte. Dafür hatte die Königin ihr Mattims Hand versprochen. Genau dafür. Dass sie ihn jetzt verriet.
Sie hob den Kopf und nahm all ihre Kraft zusammen. »Na gut«, sagte sie. »Ich werde dir helfen. Komm morgen noch einmal her, dann kannst du mir mitteilen, welches Erkennungszeichen du dir überlegt hast. Ich muss jetzt zum Dienst.« Nach den großen Verlusten, die die Patrouille erlitten hatte, war die Schonzeit wegen ihrer Verletzung vorbei. »Du solltest wenigstens einmal darüber schlafen. In gewisser Weise hast du Recht. Und andererseits völlig Unrecht. Vielleicht wird es klarer, wenn du einmal geschlafen hast.«
»Du meinst, ich bin verwirrt. Das hätte ich mir denken können.«
Enttäuscht stand Mattim auf. Sobald inmitten all der freundlichen Worte das kleinste bisschen Kritik steckte, zog er sich sofort in sich zurück.
»Mattim, warte doch, so habe ich das nicht gemeint. Ich habe gesagt, ich bin dabei, hast du das überhört? Aber diese Nacht solltest du dich wirklich noch ausruhen. Du siehst bereits halb aus wie ein Schatten. Bitte. Ich gehe jetzt nach Hause. Und morgen …« Sie schluckte. »Dann ist morgen also der Tag, an dem du sterben wirst.«
»Versprochen?«
»Versprochen.«
Magyria 01 - Das Herz des Schattens
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