SIEBZEHN
BUDAPEST, UNGARN
Ohne Auto und ohne Attila an ihrer Seite kam Hanna sich merkwürdig einsam in dieser Stadt vor. Es war wie eine Motorradfahrt ohne Helm - völlig schutzlos, während der kalte Wind an einem riss. Zugleich frei und allen Gefahren ausgesetzt, in einem rasenden Flug. Anzuhalten war unmöglich.
Die Hände in den Taschen vergraben, stapfte sie die Straße hinunter, beflügelt von dieser erregenden Mischung aus Freiheit und Gefahr. Wahrscheinlich ihr letzter Abend in Budapest. Auf die Regeln, die mit ihren Gasteltern abgesprochen waren, brauchte sie jetzt keine Rücksicht mehr zu nehmen.
Durch die schmutzstarrenden Fenster des Busses konnte sie kaum erkennen, wo sie sich befand. Irgendwo stieg sie aus, nahm einen anderen Bus. Sie ließ sich treiben, verbannte jeden Gedanken, jeden Plan. Ohne dass sie es selbst gemerkt hatte, hatten ihre Füße sie wieder zum Déryné gelenkt. Hanna sah an dem Kellner, der ihr entgegentrat, vorbei und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Atschorek war nicht da. Nun denn.
Sie ignorierte die enttäuschte Miene des jungen Mannes und kehrte zurück in den kalten, dunklen Januarabend.
Auf dem steilen Weg zur Burg wurde ihr wärmer. Hier waren immer Menschen unterwegs. Der eisige Wind trieb sie wie aufgewirbelte Blätter in die Restaurants und Lokale, aber es gab noch genug Leute, die der Kälte trotzten und den Ausblick auf die Pester Seite genossen. Hanna interessierte sich heute nicht für die grandiose Aussicht, sondern hielt nach Liebespärchen Ausschau, die vielleicht etwas anderes waren, als es den Anschein machte. Die Einzigen, die sich küssten, waren ein weißhaariger Mann und eine rotbackige Frau mit einer Strickmütze, offensichtlich halb erfrorene Touristen, und es erweckte nicht den Eindruck, als würde einer von ihnen gebissen werden.
In den letzten Tagen hatte Hanna das Gefühl gehabt, in der ganzen Stadt wimmele es nur so von Vampiren, doch jetzt war kein einziger zu sehen. Niemand, den sie in flagranti ertappen und fotografieren konnte. Vielleicht war es einfach zu kalt. Vielleicht saßen sie alle irgendwo drinnen. Dann würde sie Réka niemals beweisen können, dass es diese Blutsauger wirklich gab.
Auf der Kettenbrücke war der Wind noch stärker. Er blies mit aller Macht in ihren Mantel und kühlte sie völlig aus, sodass sie auf der anderen Seite beschloss, ihre Suche in den warmen Lokalen fortzusetzen.
Ein heißer Tee würde sie nicht nur aufwärmen, sondern ihr vielleicht auch wieder mehr Zuversicht schenken.
Während sie an ihrer Tasse nippte - der Tee kam ihr zu heiß vor, um ihn zu trinken, was wahrscheinlich an ihren blau gefrorenen Lippen lag -, sah sie sich um. Niemand schien an irgendjemandes Blut Interesse zu haben. Enttäuscht trank sie aus und setzte ihre Pirsch fort.
In wie vielen Lokalen und Restaurants hatte sie gesessen, wie viel Tee hatte sie getrunken? Der Abend schritt voran, euphorisch fühlte sie sich schon lange nicht mehr. Sie wollte nur noch ins Warme, und einem spontanen Entschluss folgend, ließ sie sich vom Hinweisschild zur Metró locken und fuhr die lange Rolltreppe hinunter. Die gelbe Linie hatte die nettesten Stationen, mit Holz verkleidet wie ein alter Wohnzimmerschrank aus Eiche. Hier kam es ihr immer nicht ganz so hektisch vor wie auf den anderen Linien. Unten zögerte sie jedoch, denn der Gedanke, nach Hause zurückzufahren, war auf einmal der verlockendste von allen. Vielleicht konnte sie ihre Gastfamilie dazu bewegen, sie nicht fortzuschicken. Vielleicht konnte sie sich mit Réka versöhnen. Vielleicht …
Sie fasste den Entschluss, zum Déak tér zu fahren, wo alle Metró-Linien sich trafen; dort wollte sie sich endlich entscheiden, was sie tun sollte.
Da wurde sie aus ihren trüben Gedanken gerissen. Kunun! Kunun, der in denselben Waggon stieg wie sie. Er sah nicht zu ihr hin, sondern blieb an der Tür stehen und hielt sich an einer der Halteschlaufen fest.
Hannas Herz begann heftig zu schlagen. Wohin er wohl fuhr? Sie zog ihr Handy heraus und machte ein Foto, auf dem leider nur seine Nasenspitze zu erkennen war. Wenn sie Pech hatte, würde er jeden Moment aufblicken und sie bemerken, und dann … Aber er wandte sich zum Glück seiner Begleiterin zu. Ihr fiel erst jetzt auf, dass die Frau neben Kunun zu ihm gehörte. Sie war recht groß und trug einen Mantel mit Kapuze, sodass weder ihre Haare noch ihr Gesicht zu sehen waren. Doch sie beugte sich zu ihm hinüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Hanna konnte Kununs Profil betrachten, als er der Frau antwortete. Er lächelte. Hanna wagte nicht, noch ein Foto zu machen, weil sie befürchtete, er könnte es aus den Augenwinkeln heraus bemerken. Sie wollte alles vermeiden, was Kunun auf sie aufmerksam machen könnte.
Am Déak tér stiegen die beiden aus. Hanna folgte ihnen, was im Gedränge gar nicht so einfach war. Einen Moment lang dachte sie schon, sie hätte das Paar verloren. Aber sie wechselten nur die Linie. Nachdem sie in einen graublauen Waggon gestiegen waren, sprintete Hanna los und zwängte sich schnell in den Wagen dahinter. Jetzt musste sie wirklich aufpassen, dass er ihr nicht entwischte. Doch sie war so von ihrem Glück berauscht, Kunun in dieser großen Stadt gefunden zu haben, dass sie fest daran glauben wollte, an ihm dranbleiben zu können. Sie würde ihr Foto bekommen.
Astoria. Nein, hier stiegen Kunun und seine Begleiterin nicht aus. Hanna konnte die Leute draußen sehen, der Vampir war definitiv nicht dabei.
Blaha Lujza tér. Auch nicht. Hanna wurde immer ungeduldiger. An der nächsten Station, dem Keleti pályaudvar, stiegen viele Fahrgäste aus, aber auch hier Fehlanzeige. Hanna entspannte sich schon, als sie die beiden auf einmal draußen auf dem Bahnsteig erblickte. Sie sprang aus dem Wagen, als sich die Türen bereits zu schließen begannen, und eilte dem Pärchen nach.
Auf der Rolltreppe machte sie das nächste Foto. Die beiden, nur wenige Passanten von ihr entfernt, steckten die Köpfe zusammen. Die Frau lachte leise. Finstere Wut stieg in Hanna auf. Kunun hatte eine Freundin. Mit der kleinen Réka spielte er nur, in Wirklichkeit hatte er natürlich eine Freundin, eine schöne, erwachsene Frau.
Vielleicht war die Fremde auch nur sein nächstes Opfer, eine Zufallsbekanntschaft. Oder eine alte Schulfreundin. Oder eine Kollegin. Was wusste sie schon? Selbst ein Foto von Kunun mit einer anderen Frau bewies überhaupt nichts, und Réka würde zu Recht sauer sein.
Am Baross tér ragte die gewaltige Fassade des Ostbahnhofs in den Winterhimmel. Sie würden doch nicht etwa mit dem Zug fahren, wer weiß wohin? Hanna atmete erleichtert auf, als sie die beiden an einer Fußgängerampel sah. Sie folgte ihnen bei Grün hinüber, an einem Baustellenzaun entlang. Gegenüber einer kleinen Fast-Food-Filiale blieb Hanna stehen. Kunun hatte einen Arm um die Frau gelegt, die ihren Kopf an seine Schulter lehnte. Das Paar ging an der Häuserzeile entlang.
Hanna kramte in ihrem Mantel nach einem Taschentuch, weil ihr die Nase lief, und als sie wieder aufblickte, waren die beiden verschwunden. Die dicht an dicht stehenden Fassaden der Stadthäuser verrieten nichts. Ein Bettler schlurfte an Hanna vorbei und wühlte in einer Mülltonne.
»Haben Sie sie gesehen?«, fragte sie ihn. »Ein junges Paar? Sie müssen hier irgendwo reingegangen sein.«
Wortlos zeigte der Alte auf das Haus hinter ihm. Er lächelte zahnlos. Hastig drückte Hanna ihm einen Geldschein in die ausgestreckte Hand und trat an die Haustür. Durch die gläsernen Scheiben konnte sie einen gefliesten Eingangsflur erkennen, mit hoher, gewölbter Decke, und dahinter, im Schein trüber Lampen, einen Innenhof. Neben der Tür waren die Klingelschilder angebracht. Sie überflog eine Reihe ungarischer Namen, leider war nicht bei allen der Vorname angegeben. Ein Kunun war jedenfalls nicht dabei.
Sie drückte die Klinke herunter. Die Tür war zu ihrem großen Erstaunen offen. Hanna hätte selbst nicht sagen können, was stärker war - das Gefühl des Triumphs oder die Befangenheit, die sie auf einmal überkam. Sie ging ein paar Meter zurück und fotografierte die Tür, bevor sie es wagte, unter einem lächelnden Löwenkopf die Schwelle zu überschreiten.
Ihre Schuhe quietschten leise auf dem glatten Boden. Sie warf einen Blick in den Hof. Ungewöhnlich sauber und aufgeräumt war es hier. Ein paar steinerne Löwen fielen ihr ins Auge, ein marmornes Brunnenbecken. Vier, fünf Stockwerke hoch umzäunten dunkelblaue, filigrane Balkongitter den schachtartigen Hof. Dahinter Türen und Fenster. Alles still.
Hanna machte einen Schritt zurück. Nach rechts führte der Flur zu einem Treppenhaus, den Stufen gegenüber befand sich ein Fahrstuhl. Ihr war, als ob sie aus dem Treppenhaus leise Stimmen hörte, ein Kichern. Vorsichtig huschte sie die Stufen hoch, immer den Stimmen nach, die sich nach oben entfernten.
Die steinernen Stufen waren flach und breit. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Schuhe bei jedem Schritt lauter und auffälliger quietschten und knarrten. Sie bemühte sich, noch leiser aufzutreten, und verlangsamte ihre Verfolgungsjagd auf Zeitlupentempo. Als sie endlich ganz oben ankam, war von Kunun keine Spur mehr zu sehen.
Na toll! Jetzt wusste sie natürlich gar nicht, wo er sein und wie sie ihn wiederfinden könnte. Eine Tür reihte sich an die nächste. Pro Stockwerk waren es bestimmt zehn Wohnungen. Sollte sie überall klingeln? Vielleicht wohnte gar nicht er hier, sondern die Frau. Dann ergab es auch keinen Sinn, nachzuschauen, ob an den Türschildern mehr Vornamen standen als unten an der Straße.
Sie trat ans Balkongeländer und blickte in den Hof hinunter, in dem die Löwen im Licht weiß schimmerten. Da - waren da nicht Stimmen? Ihr schräg gegenüber, zwei Stockwerke unter ihr, standen zwei Personen vor einer der Wohnungstüren. Die Frau lachte hell, dann erklang eine Männerstimme, die unzweifelhaft Kunun gehörte. »Bist du sicher?« Und danach: »Ich werde nachsehen, wenn du meinst.«
Die Frau schlug die Kapuze zurück. Es war Atschorek!
Hanna atmete scharf ein, doch sie hatte keine Zeit, sich zu fragen, was ihre alte Bekannte hier tat. Kunun verschwand aus ihrem Blickfeld, und gleich darauf hörte sie seine Schritte im Treppenhaus - die beiden kamen nach oben!
Erschrocken blickte Hanna sich um. Es gab keine Möglichkeit, sich hier zu verstecken. Sollte sie an einer der Türen klingeln? Hastig drückte sie auf den Fahrstuhlknopf. Wenn die Lifttüren sich schlossen, bevor Kunun oben war, würde er sie nicht sehen. Erleichtert registrierte sie, dass jemand aus einer der anderen Wohnungen trat. Ein junger Mann stellte sich neben sie, um auf den Fahrstuhl zu warten. Sie hob nicht den Blick, denn alle ihre Sinne waren nach hinten gerichtet, wo Kununs Stiefelabsätze auf den Treppenstufen klackten.
Der Aufzug öffnete sich. Der Mann ließ ihr den Vortritt und verdeckte weitestgehend die Sicht auf sie, bevor die Tür sich wieder schloss - gerade als Kunun oben anlangte. Atemlos vor Erleichterung lehnte sie sich gegen die hintere Fahrstuhlwand. Sie war aus Glas und gab den Blick auf den Innenhof und die Balkone frei. Hanna verfolgte, wie der Fahrstuhl langsam am dritten Stockwerk vorbeiglitt. Gleich kam das zweite …
Der Aufzug ruckte leise und blieb stehen.
Sie erwartete, dass die Türen aufgehen und der junge Mann aussteigen würde, aber weder das eine noch das andere geschah. Die Lifttüren öffneten sich nicht. Jetzt fiel ihr auch auf, dass nur der Knopf für das Erdgeschoss leuchtete. Der junge Mann hatte offenbar gar nicht vor, hier auszusteigen, sicher würde jemand zusteigen. Aber auch das geschah nicht. Es passierte gar nichts. Sie hielten einfach nur.
»Hm«, machte der Fremde.
Ihre Blicke begegneten sich, soweit das bei seinem Gesicht, das sich im Schatten einer Baseballmütze verbarg, möglich war. Er lächelte unsicher und zuckte mit den Achseln. »Geht es nicht weiter?«
»Keine Ahnung.«
Er war jung, ungefähr in ihrem Alter. Ein Fremder in Jeans und einer dunklen Jacke. Ein ungutes Gefühl überkam Hanna, denn irgendetwas war komisch an seiner Art zu reden, ein ganz leichter Akzent, eine ungewohnte Art, die Dinge auszusprechen - dabei war sein Ungarisch perfekt, soweit sie das beurteilen konnte. Ein Akzent, wie ihn auch Kunun hatte. Wie ihn Atschorek gesprochen hatte.
Hanna trat einen Schritt zurück. Sie wappnete sich innerlich gegen einen Angriff. Es konnte kein Zufall sein, dass der Fahrstuhl ausgerechnet jetzt stecken geblieben war, genau in dem Moment, da sie Kunun gefolgt war. Eigentlich war es erstaunlich leicht gewesen. Verdächtig leicht, wie ihr leider erst im Nachhinein auffiel. Für so geschickt hatte sie sich gehalten! Sie verwünschte ihre Naivität.
Der Fremde machte jedoch keinerlei Anstalten, sie anzugreifen. Er begann, sämtliche Fahrstuhlknöpfe zu drücken, erst der Reihe nach, dann wild durcheinander. Es nützte natürlich nichts. Er stieß einen leisen Fluch aus, hob den Kopf und sah sie an. »Ist das normal, dass so was passiert? Fährt das Ding gleich weiter?«
»Keine Ahnung«, gab Hanna zurück. »Wohnst du nicht hier?«
»Schon«, sagte er. »Aber noch nicht lange.« Er schien nicht die Absicht zu haben, gleich über sie herzufallen. Im künstlichen Licht der Neonröhre wirkte seine Haut blass und farblos. Plötzlich ballte er die Hand zur Faust und schlug gegen die Knöpfe und Tasten.
Hanna zuckte erschrocken zusammen. »Das hilft auch nicht weiter! Der Knopf da ist für den Notfall, glaube ich. Warum funktioniert er denn nicht? Warte, ich habe ein Handy. Ich kann jemanden anrufen. Gibt es hier einen Hausmeister?«
»Nein«, sagte er leise.
»Irgendjemand, der hier wohnt, wird sich mit dem Ding doch auskennen?«
»Ich weiß nicht.«
»Dann sollten wir die Polizei anrufen. Kennst du die Nummer?«
Wieder schüttelte der junge Mann den Kopf. Hanna versuchte sich krampfhaft daran zu erinnern, aber ihr wollte partout nicht einfallen, wie der Notruf ging. Die einzige Nummer, die sie in Budapest kannte, war die ihrer Gastfamilie. Und die von Mária.
»Ich sag jemandem Bescheid, der uns Hilfe schicken kann«, sagte sie. Während sie die Tasten drückte, beobachtete sie ihr Gegenüber, für den Fall, dass er versuchen würde, sie am Anrufen zu hindern, doch er stand nur da und starrte auf seine Füße.
»Es geht nicht! Das gibt’s ja nicht. Wieso ist hier kein Empfang? Ich kann niemanden anrufen!« Ungläubig ließ sie das Handy wieder sinken. »Wie kann das sein? Es muss funktionieren! Der Akku ist voll. Es muss gehen!«
Der Fremde hob den Kopf und sah sie an. Seine Augen lagen immer noch im Schatten.
Jetzt wird er es tun, dachte Hanna. Jetzt.
Sie fühlte, dass ihre Beine zu zittern begannen, so stark, dass sie nichts dagegen unternehmen konnte. Er wird - was wird er tun? Mich umbringen?
»Hat Kunun dich geschickt?«, fragte sie. Es war merkwürdig, wie schwer ihre Zunge sich bewegen ließ. Ihr Mund war so trocken, dass sie nicht schlucken konnte.
»Du kennst Kunun?« Die Überraschung in seiner Stimme war nicht zu überhören. Er hatte eine klare, angenehme Stimme, eine Stimme, die alles andere war als das drohende Flüstern eines Mörders. Trotzdem war die Tatsache, dass auch er Kunun kannte, die letzte Bestätigung, die Hanna brauchte.
»Bitte nicht«, flüsterte sie. »Bitte. Ich hab doch nichts gegen ihn in der Hand. Ich hab zwar gesagt, ich wüsste, was er ist - aber das glaubt mir sowieso niemand. Ich bin keine Gefahr für ihn, wirklich nicht. Ich kann nicht das Geringste gegen ihn unternehmen, selbst wenn ich wollte. Bitte, lass mich gehen.«
Der Junge hörte ihr mit unbeweglichem Gesicht zu, dann stieß er einen Laut aus, der wie ein Schluchzen klang.
»Du gemeiner Schweinehund!«, schrie er plötzlich und trat mit dem Fuß gegen die Fahrstuhlwand. »Kannst du mich hören?«
Hanna wich erschrocken zurück, aber es gab keinen Ort, an den sie sich vor diesem Zornesausbruch flüchten konnte.
»Kunun!«, schrie er. »So kriegst du mich nicht! So nicht! Atschorek! War das deine Idee? So nicht! Ganz sicher nicht!« Er hämmerte mit beiden Fäusten gegen die Wände, gegen die Tür. Die Kappe flog ihm vom Kopf und gab einen goldblonden Schopf frei. »Kunun! Lass mich raus! Kunun!«
Hanna zuckte jedes Mal zusammen, wenn er seine Wut an den Wänden und der Tür ausließ; eng in eine Ecke gepresst, wartete sie ab. Merkwürdigerweise verflog ihre Angst, während der Junge seine Wut hinausbrüllte. Er verfügte über eine erstaunliche Ausdauer im Schreien und Bearbeiten der Wände, doch schließlich ließ er sich auf den Boden hinunter und betrachtete seine blutenden Fingerknöchel. Dann hob er den Kopf, und Hanna sah zum ersten Mal sein ganzes Gesicht.
Seine Augen waren grau. Obwohl in seiner Stimme ein unverhohlenes Schluchzen gelegen hatte, waren sie trocken. In seinem Blick lag etwas Hartes, Entschlossenes. Wenn dieser entschiedene Ausdruck nicht gewesen wäre, hätte er sehr jungenhaft und fast zart gewirkt. So aber kam ihr sein Blick vor wie aus Stein gemeißelt, und die Angst kehrte zurück.
»Er will, dass du mich tötest«, sagte sie aus ihrer Ecke heraus. Sie saßen einander gegenüber. Der Fahrstuhl war so klein, dass er nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um sie zu berühren. Er tat es nicht. Stattdessen schlang er die Arme um die Knie.
»Nein«, widersprach er mit zusammengepressten Zähnen. »Nicht ganz so schlimm.«
»Dass du mich beißt?«
Auf einmal lächelte er, und er wirkte so jung und verletzlich, wie sie sich fühlte. »Du weißt Bescheid? Ich dachte, niemand wüsste das. Atschorek behauptet, sie vergessen es alle sofort.«
Hanna betrachtete das Blut an seinen Händen. Er war unzweifelhaft ein Mensch. Trotzdem fragte sie fast beiläufig: »Du bist also auch ein Vampir, wie?«
»Nein«, sagte er. »Ich bin ein Schatten.«
»Aha«, murmelte sie.
Er hielt eine Hand an den Mund und saugte an der Wunde, dann begegnete er ihrem erschrockenen Blick und ließ die Hand wieder sinken. »Hast du ein Taschentuch?«
Sie fasste in ihren Mantel, zog ein unbenutztes aus der Packung und reichte es hinüber. Als er sich vorbeugte, zuckte sie sofort zurück.
Er lachte bitter. »Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde dir nichts tun.«
»Da bin ich aber erleichtert.« Sie wusste selbst nicht, warum es so ärgerlich und sarkastisch klang. Es war ihre Aufgabe, ihn auf ihre Seite zu ziehen, und nicht, ihn zu reizen. Dennoch konnte sie nicht anders, als die Frage hinterherzuschieben: »Das wird dir tierisch schwerfallen, oder?«
Er blickte sie wieder an. Es war merkwürdig, wie unterschiedlich seine Augen wirken konnten. Nun erinnerte das Grau sie nicht mehr an Fels, sondern an das dunkle, trübe Wasser der Donau. Aber er antwortete nicht, und sie biss sich auf die Lippen.
Hanna schaute auf die Uhr. Es war bereits kurz nach zehn. Mittlerweile hatten die Szigethys sicher gemerkt, dass sie aus dem Haus gegangen war. Noch einmal versuchte sie es mit dem Handy, doch es brachte natürlich nichts.
»Damit kannst du mit jemandem sprechen?«, fragte er.
»Das könnte ich«, gab sie zurück. »Wenn der Empfang nicht gestört wäre.« Ihr fiel etwas anderes ein. »Wohnen in diesem Haus nicht noch mehr Leute? Sie werden merken, wenn der Fahrstuhl nicht funktioniert. So spät ist es nicht. Vielleicht, wenn wir laut rufen …?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, hier wohnt niemand außer uns.«
»Wer, uns? Du, Kunun und diese Atschorek?«
»Atschorek hat eine Villa in den Hügeln.«
»Ach ja, das hat sie mir erzählt.«
»Kunun wohnt hier«, sagte er. »Und ich. Die anderen Schatten benutzen das Haus ebenfalls. Von denen wird niemand uns helfen.«
»Uns?«, fragte sie zum zweiten Mal.
»Du bist nicht die Einzige, die in die Falle getappt ist«, sagte er leise. Er pustete über seine aufgeschürften Fingerknöchel.
»Eine Falle«, wiederholte sie. »Dann haben sie dich also nicht geschickt, um mit mir in den Fahrstuhl zu steigen?«
»Ich gehe immer um diese Zeit aus dem Haus. Das weiß Atschorek.«
»Du hättest die Treppe nehmen können.«
Wieder lachte er leise. »In einer der ersten Nächte bin ich pausenlos mit dem Ding hoch und runter gefahren.«
Wo kam der Typ her, wenn er fragen musste, ob man mit dem Handy Gespräche führen konnte? Wenn er eine kindliche Freude an Aufzügen hatte?
»Ich muss aufs Klo«, murmelte sie. »Mist, hätte ich nur nicht so viel Tee getrunken.« Sie funkelte ihn herausfordernd an. »Wir sollten es so schnell wie möglich hinter uns bringen.« Noch während sie den Satz aussprach, schnürte es ihr die Kehle zu.
»Ich habe gesagt, ich tu dir nichts.« Er stand auf und versuchte, die Finger in den Türspalt zu quetschen. Es nützte nichts; die Tür bewegte sich keinen Zentimeter.
»Ich hasse dich, Kunun«, flüsterte er. »Ich hasse dich! Atschorek, und dich auch! Hörst du mich? Ich hasse euch!« Er war wieder laut geworden, und Hanna befürchtete einen neuen Tobsuchtsanfall.
»Wer ist Kunun?«, fragte sie schnell, um ihn abzulenken. »Ist er so etwas wie euer Anführer? Der Meister der Vampire?«
Der Junge blieb an der Tür stehen und lehnte sich schwer atmend dagegen. »Ja«, sagte er. »Der älteste Prinz des Lichts und nun der König der Schatten. Ja, er ist ihr Anführer. Zusammen mit Atschorek. Die strahlende Prinzessin des Lichts. Sieht man es ihr nicht noch an? Dass sie in ein Schloss gehört, auf ihrem Haupt das goldene Diadem? Im Angesicht ihrer Schönheit sollte ganz Akink erstrahlen! Und was sind die beiden jetzt? Das dunkle Gespann, die Heerführer der Schatten. Das hier war Atschoreks Idee, darauf will ich wetten. Aber sie sind nicht meine Anführer. Ganz bestimmt nicht. Nicht meine. Hört ihr?«, rief er laut nach draußen, wo ihnen vielleicht jemand zuhörte und vielleicht auch nicht. »Ich werde euch nicht gehorchen! Ich lasse mich zu nichts zwingen!«
»Wenn sie die Anführer der Schatten sind«, meinte Hanna, die von seiner Rede nicht die Hälfte begriffen hatte, »dann sind sie auch deine, oder nicht? Du hast selbst gesagt, du wärst ein Schatten. Was auch immer das ist.«
»Nicht mit mir«, stieß der Junge hervor und schlug wieder gegen die Tür. »Nicht mit mir!«
»Tut es nicht langsam weh?«, fragte Hanna und wies auf seine Hand, die wieder zu bluten begonnen hatte. »Hier, du kannst meinen Schal haben.«
Er wickelte sich den Schal um die Hand, ohne sie anzusehen. »Ich gehöre nicht zu ihnen«, beharrte er. »Das werde ich nie tun. Ich werde nie sein, was sie sind.«
Hanna lehnte den Kopf gegen die harte Wand und schloss die Augen. Mittlerweile musste sie so dringend, dass alles andere an Bedeutung verlor.
»Jeden Abend gehe ich an den Fluss«, sagte er leise. Seine Stimme klang wieder näher; er musste sich auch hingesetzt haben. »Ich schreite über die Brücke, über das fließende Wasser. Ich steige zur Burg hoch und stelle mir vor, ich wäre wieder zu Hause. Es fühlt sich so vertraut an, die Steine um mich herum, der Himmel über mir. Alles ist anders, auf eine bestimmte Weise falsch, die ich nicht erklären kann … und doch ist es richtig so, und es ist kein fremder Ort für mich. Es ist fast Akink. Ich blicke über den Fluss, auf die Lichter … Kein Wald, sondern ein Meer von Häusern. Keine Flusshüter. Keine Wölfe. Nur ich und die Stadt.«
In seiner Stimme klang eine solche Zärtlichkeit mit, dass Hanna die Augen öffnete und ihn ansah. Auch er hatte sich hingesetzt und die Augen geschlossen, auf seinem eben noch vor Wut verzerrten Gesicht lag jetzt ein Ausdruck schläfrigen Friedens. Trotz des kalten, künstlichen Lichts wirkten seine Züge auf einmal weich und sanft und geradezu überirdisch schön. Er war verrückt - wie sonst hätte er solchen Unsinn von sich geben können? Und sie ebenfalls - wie sonst war zu erklären, dass sie ihn für einen Vampir hielt, der den Auftrag hatte, sie zu vernichten? Ohne nachzudenken, griff sie nach ihrem Handy und machte ein Foto von ihm. Bei dem Geräusch öffneten sich seine Lider, seine Hand schnellte vor und umfasste ihr Handgelenk. Sie schrie auf.
Sofort ließ er sie los. »Tut mir leid. Ich dachte …«
»Was dachtest du?« Hanna wich zurück in ihre Ecke und rieb sich die Haut. Sie fühlte sich ertappt, als hätte sie etwas Schlimmes getan. »Dass ich dich mit dem Handy erschlagen wollte?«
Er schüttelte mit müdem Lächeln den Kopf. »Vergiss es. Was hast du getan?«
Sie antwortete mit einer Gegenfrage: »Willst du meine Fotos sehen?«
Das Bild, das sie eben von ihm gemacht hatte, klickte sie schnell weg. Stattdessen zeigte sie ihm die Aufnahmen aus dem Zoo. Die Affen. Atilla und Réka.
»Ich kann es nicht zulassen«, sagte sie. »Réka ist zwar manchmal unerträglich, aber das hat sie nicht verdient.«
»Das ist also Réka? Kunun hat von ihr gesprochen.«
»Was hat er gesagt?«, fragte Hanna schnell. »Was hat er mit ihr vor? Warum … mein Gott, sie ist erst vierzehn! Kann er sich nicht eine andere suchen?«
»Er hat kein Interesse an ihrem Körper, falls du das meinst.« Er wich ihrem Blick aus, musterte das Bild, auf dem Réka vor dem Wolfsgehege zu sehen war, so lange, dass ihr unbehaglich zumute war. »Es ist das Alter, hat Atschorek gesagt.« Er sprach, ohne Hanna anzuschauen. »Wenn sie so jung sind. Das Leben ist so stark in ihnen, dass wenige Schlucke genügen. Kinder wären noch besser, aber an Kinder kommt man nicht so leicht heran. Mit dreizehn, vierzehn dagegen kann man sie allein erwischen. Außerdem erzählen sie nicht mehr alles ihren Eltern. Und wenn es ihnen schlechtgeht, erzählen sie das auch niemandem. Das Alter ist perfekt - wenn sie so jung sind und so hungrig auf die Zukunft.«
Hanna schluckte. »Das hat Atschorek gesagt?« Die hilflose Wut auf Kunun stieg wieder in ihr hoch. »Ich glaube nicht, dass er sich mit ein paar Schlucken zufriedengegeben hat. Es geht Réka alles andere als gut.«
Endlich hob er den Blick, und sie las so viel Bedauern darin, dass es ihr lächerlich vorkam, jemals Angst vor ihm gehabt zu haben.
»Du bist Hanna«, stellte er fest. »Das Mädchen, das versucht, ihm Réka wegzunehmen.«
»Er hat über mich gesprochen? Dann sag ihm beim nächsten Mal, dass ich niemals damit aufhören werde. So lange, bis Réka in Sicherheit ist.«
»Es wird kein nächstes Mal geben«, erwiderte er leise und vertiefte sich wieder in das Bild, als hätte er noch nie so etwas Faszinierendes in der Hand gehabt.
»Wie, kein nächstes Mal? Weil ich dann tot bin? Weil ich alles vergessen habe, nachdem du mich gebissen hast?«
»Ich habe bereits gesagt, dass ich dich nicht beißen werde«, erklärte er. Dann lehnte er den Kopf wieder gegen die Wand und schloss die Augen. »Ich werde derjenige sein, der diese Nacht nicht überlebt.« Er sagte es so ruhig, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt.
Sie brauchte eine Weile, um diesen letzten Satz zu verdauen. »Das heißt, wenn du mich nicht beißt, wirst du sterben?«
Der Junge antwortete nicht darauf. Aber sie sah, wie seine Hände leicht zitterten, während er sie um seine Knie krallte.
»Warum tust du es dann nicht einfach?«
Er blickte sie an, und diesmal waren seine grauen Augen wie der Nebel über einem stillen, runden Teich.
»Ich bin Mattim, der letzte Prinz des Lichts«, sagte er leise. »Sie haben mich zu einem Schatten gemacht, aber ich werde nicht auf die Seite des Bösen überwechseln. Ich kann mit dem Schwert kämpfen, und ich bin bereit, gegen meine Feinde in die Schlacht zu ziehen, doch ich werde gewiss nie jemanden verletzen, der wehrlos und unschuldig ist. Dazu werden sie mich nicht bringen. Sie haben mir mein Leben genommen, aber das nehmen sie mir nicht.«
»So unschuldig bin ich nun auch wieder nicht«, murmelte Hanna. Dann fügte sie hinzu: »Das verstehe ich nicht. Du bist so etwas wie ein Vampir, also hast du schon oft Leute gebissen. Und wie kannst du sterben, wenn sie dir bereits das Leben genommen haben? Stirbst du, wenn du auf Blut verzichtest?« Sie hielt sich an diesen technischen Fragen fest, um nicht darüber nachdenken zu müssen, was er sonst noch gesagt hatte. Prinz des Lichts. Wie verrückt war das erst!
»Ich bin noch nicht lange ein Schatten«, sagte er. »Das bedeutet, ich kann im Schatten existieren. In der Nacht bin ich sicher. Dieses künstliche Licht«, er wies auf die kleine Neonröhre, »macht mir nichts aus. Aber ich kann nicht hinaus an die Sonne. Ich habe mich damit abgefunden, dass ich nur im Dunkeln nach draußen gehen kann. Anfangs habe ich befürchtet, ich würde bei der Rückkehr hierher vor verschlossenen Türen stehen. Dass Kunun mich aussperrt und mich auf diese Weise zwingen will, es endlich zu tun und so zu werden wie die anderen. Deshalb bin ich immer rechtzeitig zurückgekommen. Ich dachte, wenn die Tür irgendwann zu ist, habe ich noch genug Zeit, um mir einen Unterschlupf zu suchen. Kein Opfer, nur einen Unterschlupf. Ich hätte nie mit dir in diesen verdammten Fahrstuhl steigen dürfen.«
Sie warf einen Blick durch die Glasscheibe. Unter ihnen lag der Hof, in dem die Lampen aufgehört hatten, die steinernen Löwen zu beleuchten. Das war ihr vorher gar nicht aufgefallen. Kunun hatte einfach den Strom abgestellt.
»Ein gläserner Fahrstuhl«, sagte sie.
»Ja«, erwiderte er nur.
»Und du bist wirklich ein Prinz? Wovon? Ich meine, du bist kein ungarischer Adliger oder so etwas? Du siehst überhaupt nicht aus wie ein Ungar. Wo kommst du her?«
»Du willst wissen, wo ich herkomme? Durch eine Pforte im Keller. Hilft dir das weiter? Magyria. Akink, die Stadt des Lichts.«
»Hört sich nicht an, als wäre das irgendwo in der Nähe.«
»O doch«, widersprach er. »Nur eine Handbreit von hier entfernt. Einen Atemzug. Einen Lidschlag.« Er seufzte und wischte sich die Haare aus der Stirn. Obwohl er äußerlich so ruhig war, schwitzte er. Hanna sah, wie ihm winzige Tröpfchen über die Stirn perlten. Mit einem Mal wurde ihr klar, wie sehr er sich fürchtete.
»Magyria ist ein Traum«, sagte er. »Akink ist nichts als ein Traum … Ich denke daran und weiß es. Es ist so unwirklich, eine Stadt wie aus einem Märchen. Die Flusshüter schreiten über die Brücke. Ich höre die Hörner im Nebel. Seltsam, dass ich das alles nie wieder zu Gesicht bekommen werde. Es wird sein, als hätte ich nie existiert. Ich bin nichts als ein Traum.«
»Du bist kein Traum«, widersprach sie, von einem solchen Mitleid erfüllt, dass es ihr den Atem verschlug.
»Ach nein?« Er lächelte. »Es ist seltsam, dass es mir so vorkommt, nicht? Diese Welt hier sollte mir wie ein Traum erscheinen. Ein anderes Akink, in dem nichts so ist, wie ich es kenne. Ich bin hergekommen und habe mich in einer Welt voller Wunder wiedergefunden. Aber kein einziges Mal ist mir diese Stadt, die ihr Budapest nennt, wie ein Traum vorgekommen. Sie ist so erfüllt von Leben … Ich kann es spüren, weißt du? Ich fühle das Leben in dieser Stadt, das Leben, das durch deine Adern rinnt. So lebendig, so ungeheuer real, dass alles andere dagegen zu einem farblosen Traum verblasst. Alles, was ich je geliebt habe, wird dagegen so unwirklich, als hätte ich es lediglich auf einem Bild gesehen oder in einem Buch gelesen. Das ist der Grund, warum die Schatten immer wieder herkommen, verstehst du?«
Hanna nickte.
»Sie trinken von eurem Leben, welches das unsere bei Weitem übersteigt. Sie nehmen euer Leben mit sich hinüber nach Magyria und können damit dem Sonnenlicht trotzen. Mit eurer Kraft in den Adern werden sie Akink erobern und unterwerfen. Und ihr könnt nichts dagegen unternehmen. Gar nichts. So wenig, wie ich etwas tun kann. Mir bleibt nur, ein anderes Schicksal zu wählen. Ein Traum zu sein, der endet, anstatt zum Albtraum zu werden.«
»Du bist kein Traum«, wiederholte Hanna. Sie streckte die Hand aus und berührte ihn. Es gab keinen Zweifel daran, dass er genauso echt war wie sie, weder ein Produkt ihrer Einbildungskraft noch ein nebulöses Wesen aus einer Traumwelt. Er zuckte zusammen, als sie den Schal sacht zur Seite schob und ihm über die Knöchel strich. »Du blutest. Du empfindest Schmerz. Du bist kein Schatten, der verschwindet, wenn ihn das Sonnenlicht trifft.«
»Als der Wolf mich gebissen hat, hat mein Herz aufgehört zu schlagen«, erklärte Mattim. »Ich lebe im Schatten. Kannst du dir vorstellen, was das bedeutet? Ich war der Prinz des Lichts … Es muss enden, bevor Kunun mich in seine tödliche Streitmacht einordnen kann, bevor mein Vater mich so sieht … Ich habe ihnen allen versprochen, dass das Böse mich nicht zu fassen kriegen wird. Dieses Versprechen werde ich halten.« Er zitterte immer noch.
Sie hielt seine beiden Hände fest. »Dein Herz schlägt nicht?«
»Du glaubst mir nicht? Bitte schön, überzeug dich selbst.«
Er öffnete den Reißverschluss seiner Lederjacke. Darunter trug er ein helles, dünnes Hemd.
»Horch selbst«, forderte er sie auf.
Es war komisch, einem Fremden so nahe zu kommen, und doch konnte sie nicht widerstehen. Sie musste es tun, allein deshalb, um Réka sagen zu können: »Bist du sicher, dass Kunun überhaupt ein Herz hat, das er dir schenken könnte?«
Hanna lehnte ihr Ohr gegen seine Brust. Sie hob und senkte sich, während er atmete. Fast war ihr, als könne sie seinen Herzschlag spüren, einen wilden, rasenden Trommelwirbel, die Musik seiner Angst. Aber es war nur ihr eigenes Herz, das in ihrem Leib pochte. Dort hinter seinem Hemd war nichts, war nur Stille. Er lebte nicht. Trotzdem war er nicht kalt. Und er atmete, genau wie sie. Er schwitzte, und er blutete, und er fürchtete sich. Nur sein Herz schlug nicht. Trotzdem blieb sie an ihn gelehnt sitzen, und als er zögernd den Arm um ihre Schulter legte, hielt sie ganz still.
»Du frierst«, sagte er leise. »Oder habe ich dich erschreckt? Ich habe dir ehrlich gesagt, wie es ist. Und dass ich dir nichts tun werde.«
Sie hatte nicht gemerkt, dass auch sie so sehr zitterte, dass ihre Zähne klapperten. »Mir ist nur kalt«, sagte sie. »Die haben vergessen, eine Heizung in den Fahrstuhl einzubauen.«
Er legte seine offene Jacke um sie.
»Ich muss immer noch.«
»Ich werde nicht hinsehen.« Sie hörte das kleine Lächeln in seiner Stimme. »Versprochen.«
»Und wohin …?«
»Nimm einfach meine Mütze.«
Sie schälte sich aus seiner Umarmung. Inzwischen musste sie so sehr, dass es nahezu gleichgültig war, ob sie sich hier in einem gläsernen Fahrstuhl befand, in dem Licht brannte, und vielleicht eine ganze Schar Vampire irgendwo da hinten im dunklen Hof versammelt war und zuschaute. Sie kramte alle ihre Taschentücher heraus und legte die Mütze dick damit aus. Mattim drehte das Gesicht weg, während sie pinkelte. So bemerkte er auch ihr rotes Gesicht nicht. Ihr war heiß, als sie die nasse Kappe in die Ecke schob.
»Oh Gott, ist mir das peinlich.«
Er sagte nichts, sondern breitete wieder seine Jacke aus, und als gäbe es keinen anderen Ort auf dieser Welt, an dem sie sicher sein konnte, kehrte sie in seine Umarmung zurück. Sie sah auf die Uhr. Es war drei.
Sie war so müde, dass sie tatsächlich einnickte. Irgendwann schrak sie hoch.
»Wie spät ist es?«, fragte er.
»Halb sechs.«
Er nickte.
Mit wackeligen Beinen stand Hanna auf, alles tat ihr weh. Sie war völlig durchgefroren. Es war so kalt, dass der Frost die Scheibe mit einer milchigen Schicht überzogen hatte. Sie streckte sich und bewegte ihre verspannten Schultern. Dann blickte sie auf Mattim herunter, auf sein zerzaustes blondes Haar, und ihr Herz zog sich zusammen.
»Wann geht die Sonne auf?«, fragte sie. »Ungefähr in einer Stunde? Es ist nicht dein Ernst, dass du in einer Stunde sterben wirst, oder?«
Er antwortete nicht.
Sie merkte, dass er sich auf seinen Atem konzentrierte, dass er betont ruhig ein- und ausatmete, während er sie ansah. Dann wandte er sich ab und krümmte sich in der Ecke zusammen, seine Schultern zuckten. Sie kniete sich neben ihn, streckte die Hände nach ihm aus, zögerte, dann strich sie ihm über den Rücken. »Mattim … Hör endlich mit dem Unsinn auf. Du sollst nicht sterben, hörst du? Beiß mich. Ich werde es überleben. Réka hat es auch überlebt. Mach einfach. Es wird schon nicht so schlimm sein.«
Er zuckte mit den Schultern, als versuche er, ein lästiges Insekt abzuschütteln.
»Nein«, sagte sie. »Ich lass dich nicht in Ruhe. Glaubst du, ich schau mir noch eine ganze Stunde lang an, wie du hier auf den Tod wartest? Hör auf, den Märtyrer zu spielen. Beiß mich. Bringen wir es hinter uns.«
Er hob den Kopf. »Ich werde nicht zu ihnen gehören«, flüsterte er. »Lieber sterbe ich. Ich werde nicht auf die Seite des Bösen übertreten.«
»Mattim.« Immer wieder sagte sie seinen Namen, griff nach seinen Schultern und versuchte, ihn so zu sich zu drehen, dass er sie ansehen musste. »Du bist deswegen doch nicht böse. Ich gebe dir mein Blut freiwillig. Ich tue es von mir aus, also ist es nichts, was du einer hilflosen Person antust. So wehrlos bin ich auch wieder nicht. Auch wenn ich nur ein Mädchen bin.« Sie versuchte zu lachen. »Bitte. Vergiss deine Ehre und dein Akink oder was auch immer. Tu es einfach.«
Sie griff nach seinen Händen, nach seinem Gesicht; er sträubte sich, und daran merkte sie, wie stark er wirklich war und dass sie keine Chance bei einem Kampf gegen ihn gehabt hätte. Endlich gab er den Widerstand auf, und sie sah nun, was er so verzweifelt vor ihr hatte verbergen wollen. Er weinte, sein ganzes Gesicht war tränennass, und seine Augen hatten nun die Farbe von Regenwolken.
»Es ist in Ordnung«, sagte sie, »Mattim, bitte. Es ist in Ordnung.«
»Ich hätte nie gedacht, dass ich nicht stark genug sein könnte«, flüsterte er und wischte sich über die Augen. »Wie oft habe ich dem Tod ins Gesicht geblickt … Jetzt dagegen, wenn man nur warten kann … Warten, statt kämpfen zu können …«
»Ich werde nicht zulassen, dass du stirbst.«
Nachdenklich sah er sie an. »Wenn ich das tue, was Kunun will, was wäre ich dann?«, meinte er. »Hast du dich das einmal gefragt? Ich wäre nicht mehr der Prinz des Lichts, der Sohn meines Vaters. Dann wäre ich wirklich ein Schatten, eine Kreatur der Finsternis. Ein böses Wesen, das sich selbst verachtet.«
»Ich werde dich niemals verachten«, versprach sie. »Mattim, hör mir doch endlich zu. Du bist nicht böse, wenn du etwas nimmst, was ich dir freiwillig gebe. Ein bisschen Blut! Die Welt geht davon nicht unter. Ich wollte immer schon mal zum Blutspenden gehen. Wenn ich irgendjemandes Leben damit retten könnte, warum nicht deins?«
»Es ist nicht bloß ein bisschen Blut«, widersprach er. »Es ist dein Leben. Es ist ein Teil deines Lebens, den du verlieren würdest.«
Sie dachte an Réka und verstand. »Ich würde diese Augenblicke verlieren, nicht wahr? Sie würden aus meinem Gedächtnis getilgt?«
Diese Leere in Rékas Gesicht. Die Leere im Gesicht des Mannes im Park. Bleiche, ausgezehrte, verständnislose Gesichter, denen etwas geraubt worden war. Auf einmal hatte Hanna Angst, und dennoch hörte sie nicht auf, ihm zuzureden.
»Das halte ich aus. Was sind ein paar Stunden gegen dein Leben?«
»Es ist nicht mal ein richtiges Leben«, erinnerte er sie.
»Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so echt war wie du«, sagte sie. »Noch nie. Außerdem, was glaubst du, wird Kunun tun, wenn er bei Sonnenaufgang den Fahrstuhl öffnet? Wenn du zu Staub zerfallen bist, oder was immer mit dir geschieht? Glaubst du, er wünscht mir einen guten Morgen und lässt mich nach Hause gehen?
Das hier war nicht nur eine Falle für dich, vergiss das nicht. Kunun hat sie auch mir gestellt. Er wird nicht zulassen, dass ich dieses Haus verlasse, ohne vergessen zu haben, dass ich es je betreten habe. Also wird er mich beißen. Was, um Himmels willen, werde ich dadurch gewinnen, wenn er es tut und nicht du? Wenn ich mir vorstelle, dass er auf mich zukommt, könnte ich schreien. Ich werde kämpfen und versuchen, an ihm vorbeizukommen. Vielleicht schlägt er mich nieder. Und dann - Mattim, ich werde gegen ihn kämpfen, mit aller Kraft. Dir dagegen gebe ich mein Blut freiwillig.«
»Nein«, flüsterte er.
»Hör auf, so verdammt edelmütig zu sein! Ich will nicht, dass du stirbst. Und ich werde das so oder so durchmachen müssen, was du mir hier ersparen willst. Mit Kunun wird es nur viel schlimmer sein. Viel, viel schlimmer.«
Mattim hatte sich die Wangen getrocknet. Er stand auf und blickte ihr ins Gesicht. Seine Augen waren wieder grau wie Stein. Sie erinnerten an Felsen im Mittagslicht.
»Geh in die Sonne und schau dir diese Stadt an«, sagte sie leise. »Schau sie dir an, wie sie wirklich ist. Schau in die Sonne.«
»Hanna«, sagte er nur, und da wusste sie, dass sie gewonnen hatte.
»Tu es jetzt«, flüsterte sie. »Jetzt gleich. Warten ist schrecklich.«
Er lehnte seine Stirn gegen ihre. Dann spürte sie seine Lippen an ihrem Hals. Er zögerte.
Sie versuchte zu lachen. »Hast du überhaupt die richtigen Zähne für so etwas?«
»Schau mich nicht an dabei«, sagte er. »Ich bringe es nicht über mich, wenn du mich anschaust.«
Er drehte sie an der Schulter herum, sodass sie mit dem Rücken zu ihm stand, und strich ihre Haare zur Seite. Sie merkte, wie trotz ihrer mutigen Reden ihre Knie wackelig waren und alles in ihr nach Flucht schrie, als sein Atem ihre Haut streifte. Er schlang seine kräftigen Arme um sie, ihre und seine Hände verschränkten sich. Sein Atem ging etwas schneller.
Dann spürte sie einen Schmerz, kurz und scharf, und gleich darauf schwer und dumpf. Es tat nicht so weh, wie sie befürchtet hatte. Eigentlich tat es überhaupt nicht weh. Ich werde es vergessen, dachte sie. Diesen Augenblick. Dass er mich so hält. Ich werde ihn vergessen. Alles werde ich vergessen …
Sie schob ihre Ängste beiseite.
Mattim, dachte sie. Mattim. Mattim. Ich halte alles fest, diesen Augenblick, diesen Namen, so wie du mich festhältst. Mattim. Die Welt begann sich um sie zu drehen, ihre Beine gaben nach, und langsam rutschten sie beide die kalte Glaswand des Fahrstuhls hinunter, bis sie gemeinsam auf dem Boden saßen, sie nach wie vor in seiner Umklammerung, und immer noch nahm er den Mund nicht von ihrem Hals.
»Mattim«, flüsterte Hanna. Sie dachte es in einem fort, sie wiederholte es wie ein Mantra, wie einen Zaubergesang. Mattim. Mattim, Mattim, Mattim … Sie warf seinen Namen wie einen Stein in einen dunklen Teich, und während er versank, sprang sie ihm nach in die Dunkelheit. Mattim …
Magyria 01 - Das Herz des Schattens
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