NEUNUNDZWANZIG
BUDAPEST, UNGARN
»Er kann den Donua nicht einfrieren«, sagte
Mattim.
In der Nacht hatte er sie nach Hause gebracht, ohne
ein Wort zu sagen. Hanna hatte sich nicht einmal getraut, ihn daran
zu erinnern, dass sie am Nachmittag mit Attila und seinen
Geburtstagsgästen an der Burg Vajdahunyad Schlittschuhlaufen würde.
Aber nun stand er vor ihr. Und statt Bitterkeit behauptete sich ein
stolzes Lächeln in seinem Gesicht, als er ein Paar schwarzer
Schlittschuhe vor ihren Augen schwenkte.
»Mattim!« Attilas Augen strahlten. »Du bist da! Das
ist mein Freund!« Er steckte die anderen Jungen mit seiner
Begeisterung an, so dass sie alle um den Prinzen herumtobten. »Mein
allerbester Freund!«
»Wo hast du die nur her?«, fragte Hanna, während
sie zusah, wie er sich die Schlittschuhe anzog.
»Gekauft, was sonst?«
»Du bist einfach losgezogen und hast dir
Schlittschuhe gekauft?«
»Heute ist Attilas Geburtstag«, sagte Mattim. »Da
muss ich doch dabei sein.«
Mit wackeligen Schritten stakste er los. Hanna
konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Sie konnte kaum lange
genug wegsehen, um sich ihre eigenen Schlittschuhe anzuziehen. Es
war, als würde jede unachtsame Bewegung den Zauber zerstören, wie
ein Stein das Spiegelbild in einem Teich zerfließen ließ. Mattim
war schwarz gekleidet, wie Kunun, wie viele andere im Winter, aber
sein goldenes
Haar leuchtete, und hinter ihm erhob sich die märchenhafte Burg.
Eine Burg, in der nie jemand gewohnt hatte, die nichts war als eine
Zurschaustellung der unterschiedlichsten Stilrichtungen. Die
Szenerie hatte etwas Unwirkliches, Malerisches. Mattim, der mit
immer größerer Sicherheit über das Eis glitt, hinter sich die Horde
Kinder, die versuchten, ihn einzufangen. Woher nahm er bloß die
Selbstverständlichkeit, real zu sein in diesem Bild, die
Leichtigkeit, die Kinder zu verzaubern, so dass ihre Herzen ihm
ebenso zuflogen wie Hannas? Sie beobachtete ihn und wünschte sich,
dass dieser Augenblick nie endete. Das Lachen der kleinen Jungen,
ihre erhitzten Gesichter … Es sollte nie aufhören. Sie wünschte
sich mehr als alles andere, dass er wirklich hier war, bei ihr, bei
den Kindern, hier, hier in dieser Welt … Und wusste dennoch
beinahe, was der Prinz sagen würde, als er in einer eleganten
Schleife vor sie hinglitt, ihre Hände ergriff und sie mit sich auf
den Teich hinaus zog.
»Kunun kann den Donua nicht einfrieren. Wie sollte
er das tun? Solche Kräfte hat niemand. Einen Fluss voller Licht,
den er nicht einmal berühren kann, will er verzaubern? Das glaube
ich niemals.«
Hanna schluckte. Sie hatte eine andere Antwort für
ihn, aber sie brachte es nicht über sich, es ihm zu sagen.
»Er kann den Fluss nicht einfrieren«, beharrte
Mattim. Er blickte an ihr vorbei auf die Jungen.
Attila war hingefallen; mit wenigen raschen
Gleitschritten war der junge Mann bei ihm und half ihm hoch, dann
kam er wieder zurück zu Hanna, als wäre nichts gewesen. Er ruderte
mit den Armen, um die Balance zu halten, und lachte, aber dann war
er sofort wieder ernst. Vielleicht dachte er an Akink. Vielleicht
dachte er immer an Akink.
Sie streckte die Hand aus und berührte sein
Gesicht. »Mattim, wir werden Akink retten. Du wirst es schaffen.
Kunun wird nicht siegen.«
»Selbst wenn - wie will er seine Schatten auf die
andere
Seite bringen? Sie werden das Eis nicht betreten können. Wir
können nicht einmal in Booten auf die andere Seite!«
»Eine Armee über den gefrorenen Fluss zu führen ist
aber etwas anderes, als in Booten überzusetzen. Boote kann man zum
Kentern bringen.«
Winkend fuhr Attila vorbei. »Mattim, komm! Schau!
Schau nur, was ich kann!«
Der junge Prinz nickte ihm lächelnd zu, aber als er
sich wieder Hanna zuwandte, war sein Gesicht von einem Schmerz
verzerrt, den sie nicht von ihm nehmen konnte. »Der Donua war noch
nie gefroren«, sagte Mattim. »Noch nie, nicht in Tausenden von
Jahren. Nicht einmal eine Eisschicht hat je darauf gelegen. Die
Winter in Akink sind mild wie immerwährender Frühling. Nur die
Sterne scheinen im Winter heller als sonst, sie glitzern über dem
Wald …« Er brach ab.
»Was ist?«, fragte Hanna besorgt.
»Der Schnee«, flüsterte Mattim. »Als ich drüben
war, war alles voller Schnee … So hoch wie noch nie. Es war
deutlich kälter als hier in Budapest. Ein Winter, wie wir ihn noch
nie hatten. Wie kann das sein? Hat Kunun etwa einen Zauber über das
ganze Land gelegt, damit der Fluss einfriert? Ist er deshalb so
sicher, dass er siegen wird?«
»Die Bücher«, sagte Hanna leise, »über Wolken und
das Wetter … Du hast mir erzählt, dass es dunkel geworden ist in
Magyria. Mit deinem Weggang.«
»Dunkel«, bestätigte er. »Dunkel, aber nicht
kalt.«
»Die Kälte musste kommen«, erwiderte sie, und
während sie es endlich aussprach, kam ein solches Mitleid über sie,
dass sie es kaum ertragen konnte. Sie legte beide Arme um ihn und
hielt ihn fest, als wäre er ein Kranker, der stürzen könnte. Der
Boden schien unter ihren Füßen wegzurutschen, trotzdem blieben sie
stehen, wie zwei Liebende, die nicht aufhören konnten, miteinander
zu tanzen. »Mattim, das Licht deiner Familie ist die Sonne von
Magyria. Deswegen
war das Wetter immer so mild. Wenn sich die Sonne verdunkelt, wird
es kalt. Es muss kalt werden, so ist es in dieser Welt auch. Kunun
betreibt keine Zauberei. Es ist viel einfacher. Dein Bruder wusste,
was geschehen würde, wenn du ein Schatten wirst. Über Akink sollte
nicht nur Dunkelheit, sondern Eis und Schnee kommen. Der Fluss wird
zufrieren.«
Mattim hielt in ihrer Umarmung still. Lange Zeit,
ohne sich zu rühren, ohne zu sprechen.
»Dann bin ich also tatsächlich schuld«, flüsterte
er schließlich. »In jener Nacht, als ich über den Donua schwamm,
habe ich den Weg für die Schatten gebahnt.«
»Wir werden es verhindern!«, rief Hanna. »Wir
lassen es nicht zu! Ich lasse es nicht zu!« Sein Schmerz griff auf
sie über, als wäre es ihr eigener. Wenn Akink fiel, das wusste sie,
dann würde es sein, als ob ihre eigene Welt in tausend Stücke
zerbräche.
Der junge Prinz presste sein Gesicht in ihr Haar.
Er weinte nicht. Sie konnte fühlen, wie er sich zusammenriss, wie
er sich straffte und aufrichtete.
»Akink ist noch lange nicht verloren. Ich werde
herausfinden, wie er das Eis überwinden will. Und ich werde diese
verdammte Pforte schließen.«
Die Geburtstagsgäste johlten, als er sie küsste.
Trotz der entschlossenen Worte war es nicht der Kuss eines
rücksichtslosen Kämpfers, sondern ein Kuss voller Sehnsucht, so
verlockend und süß, dass Hanna sich wünschte, er möge nie
aufhören.
Bei Tageslicht wirkte Atschoreks Villa überhaupt
nicht unheimlich. Es war ein großes rötlich-graues Gebäude mit
vielen Winkeln, Kanten und Erkern und sogar einem kleinen Turm; die
Miniaturausgabe eines baufälligen Schlosses. Der Garten, der Hanna
in jener Nacht wild und verwachsen vorgekommen war, beherbergte
eine ganze Reihe meist
blattloser Bäume und Sträucher, aber wahrscheinlich würde es im
Frühling hier ganz anders aussehen, wenn alles grünte und
blühte.
Das Tor erwies sich diesmal als unverschlossen.
Offenbar fürchtete Atschorek sich nicht vor Einbrechern oder
begrüßte sogar jede Art von Beute, die hier ungefragt
hereinspazierte.
An der Haustür zögerte Hanna kurz. Sie wusste,
Mattim würde es ganz und gar nicht gutheißen, dass sie seine
Schwester besuchte. Allein. Sich ungeschützt in die Höhle des Löwen
zu begeben. Doch sie wollte so gerne mehr herausfinden,
irgendetwas, was ihnen wirklich weiterhelfen konnte. Deshalb stand
sie nun hier. Deshalb erwiderte sie Atschoreks Lächeln, die ihr
öffnete, bevor sie überhaupt geklingelt hatte.
»Hanna, guten Morgen. Wie schön, dass du mich
besuchst!«
»Du sagtest, du wolltest mir das Haus zeigen.« Das
musste eigentlich jedem als Erklärung für einen Besuch reichen. Wer
wäre nicht neugierig gewesen? »Ich habe gerade Attila zur Schule
gebracht und war sowieso in der Nähe. Ich hoffe, es passt …?«
»Sicher.« Atschoreks Lächeln wirkte so echt, so
ganz ohne Hintergedanken. »Für die Freundin meines Bruders, immer.
Das ist fast, als wären wir verwandt.«
Hanna fühlte sich unbehaglich bei dem Gedanken, mit
Atschorek verwandt oder verschwägert zu sein, trotzdem nickte sie.
Das Kaminzimmer, durch das die Schattenfrau sie führte, war jetzt
nur noch ein großer Partysaal. Sich vorzustellen, dass hier Vampire
tanzten - lächerlich. Auch das nächste Zimmer, ein elegantes
Wohnzimmer ganz in Weiß, war eher der Rahmen für eine reiche Dame
mit erlesenem Geschmack, als der Schauplatz brutaler
Verbrechen.
»Setz dich«, forderte Atschorek sie freundlich auf.
»Ich hole uns etwas zu trinken.« Selbst das klang, sofern es
ohne Hintergedanken ausgesprochen war, alles andere als
schrecklich.
Hanna nahm auf dem kühlen, glatten Leder Platz und
merkte erst jetzt, wie kalt es hier drinnen war. Das erinnerte sie
daran, dass dies eben doch kein normales Haus war, in dem
gewöhnliche Menschen lebten. Sie sah sich um. Filigrane schwarze
Ornamente zierten die Wände. Fotos, die eigentlich in jeder Wohnung
an die Familie oder die Freunde erinnerten, fehlten allerdings. Es
gab nicht einmal Porträts von Atschorek selbst, vielleicht in
verschiedenen Roben, dabei hätten sie gut hier reingepasst. Aber
die Rothaarige hatte es nicht nötig, ihre Jugend einzufangen. Wie
alt mochte sie sein, achtzig? Fünfzig? Es machte keinen
Unterschied.
»Hanna? Was tust du denn hier?« Wer mit einem
kleinen Tablett hereinkam, war nicht Atschorek, sondern Mattim.
Mattim, der sie einen Moment entgeistert anstarrte, bevor ein
Leuchten über sein Gesicht zog. »Hanna!« Er stellte das Tablett auf
dem Tischchen ab und schloss sie in die Arme. »Wieso bist du
hier?«
»Das frage ich mich gerade auch. Ich dachte, es
wäre eine gute Idee, mal vorbeizukommen.«
Er lachte leise. »Deine Fähigkeit, überall dort
aufzutauchen, wo ich bin, sollte mich eigentlich nicht mehr
überraschen. Bitte. Ich sollte den Gast bewirten.« Er öffnete die
Flasche Mineralwasser und goss ihr ein. »Atschorek hat mich
gebeten, herzukommen, sie wollte etwas mit mir besprechen.«
»Na, was das wohl sein mag.« Hanna senkte die
Stimme. »Sie ahnt doch nichts, oder?«
»Ich wüsste nicht, wie. An mir habe ich jedenfalls
noch keine hellseherischen Fähigkeiten bemerkt.«
Er drehte das zweite Glas in den Händen, ohne zu
trinken. Durch das Fenster schienen die Strahlen der Morgensonne
und brachen sich in der Scheibe. Es war, als wollte er
mit dem Wasserglas die Sonnenfunken einfangen, um davon zu
trinken.
Atschorek streckte den Kopf durch die Tür. »Tut mir
leid, ich muss kurz weg. Lauft nicht fort, ja? Nur eine halbe
Stunde, dann bin ich wieder da.«
»Ist ihr das Mehl ausgegangen?« Hanna konnte gut
auf die Gegenwart der Schattenfrau verzichten, auch wenn sie
hergekommen war, um mit ihr zu reden. »Ich wollte deine Schwester
noch mal befragen«, erklärte sie auf Mattims fragenden Blick hin.
»Dachte, ich finde vielleicht etwas heraus. Aber anscheinend hast
du mich hergelockt. Mein Verstand überlegt sich dann immer eine
passende Erklärung, warum ich unbedingt irgendwo hingehen
sollte.«
Der Prinz blickte hinaus in den Garten, ohne etwas
zu erwidern. Die nassen Tropfen an den Zweigen funkelten im
Sonnenlicht wie Kristalle.
»Wir könnten das Haus besichtigen, während sie weg
ist«, schlug Hanna vor. »Das ist zwar nicht gerade höflich, aber
vielleicht finden wir etwas Nützliches.«
»Hanna«, flüsterte er nur.
Sie wusste sofort, was los war. Warum fiel es ihm
nur so schwer, es auszusprechen, immer noch?
»Ist es das Licht?«, fragte sie. »Du brauchst
wieder Blut? Woran merkst du es?«
»Es tut weh«, sagte Mattim. »In den Augen.
Irgendwann fängt es an zu brennen, am ganzen Körper. Ganz langsam
nur, am Anfang ist es kaum zu spüren. Dann wird es allmählich
stärker. Ich schätze, wenn du nicht gekommen wärst, hätte ich
Atschorek fragen müssen, ob sie einen Keller hat.«
»Oder du hättest mich angerufen. Mattim, ich habe
gar nicht daran gedacht in den letzten Tagen! Komm. Komm her.« Sie
stellte ihr Glas ab und zog ihn näher zu sich heran. Eigentlich
hatten sie sich schon viel zu lange nicht mehr geküsst. Mehrere
Stunden ohne ihn waren entschieden zu
viel. Als er ihren Hals berührte, schob sie ihn sanft von sich.
»Nicht da …« Sie wollte ihm nicht sagen, dass die Wunden dort
schmerzten, und zum Glück fragte er auch nicht nach.
»Wo denn?«
»Such dir eine schöne Stelle aus.«
Mattim grinste. Er ließ sich so viel Zeit dabei,
dass Hanna schon fürchtete, er würde in ihren Armen in Flammen
aufgehen. Mühelos gelang es ihm, auch ihre Haut zum Brennen zu
bringen. Seine Lippen entfachten ein Feuer, überall … Als er
schließlich zubiss, in ihre Seite, in die zarte, empfindliche Haut,
kam der Schmerz wie eine Erlösung über sie. Das Mädchen lachte
leise.
Ein anderes Lachen antwortete ihr, ein höhnisches
Lachen, wild und böse.
Dort, an der Tür, stand Kunun.
Hanna setzte sich rasch auf und rückte ihren
Pullover zurecht. Mattim flüsterte: »Wir hätten das Haus doch
durchsuchen sollen.« Laut sagte er: »Was willst du?«
Der Schattenprinz kam durch das weiße Zimmer auf
die beiden zu. »Wie immer hast du schon getan, was ich will. Und
jetzt kommst du mit mir. Sofort und ohne Fragen zu stellen.«
»Wohin? Was hast du vor?«
»Ich sagte, stell keine Fragen. Komm
einfach.«
Durch die Tür glitt Atschorek herein. Sie setzte
sich neben Hanna, die immer noch etwas benommen dreinblickte, und
legte den Arm um ihre Schulter. »Geh, Mattim. Ich passe so lange
auf deine Freundin auf.«
Der junge Prinz sah verwirrt von einem zum anderen.
»Was ist hier eigentlich los? Ich lasse Hanna bestimmt nicht allein
hier zurück!«
»Geh und gehorche«, sagte Atschorek. Mit ihren
langen, schlanken Fingern strich sie über Hannas dunkles
Haar.
Mattim blickte von einem zum anderen. Was würden
sie
tun, wenn er die Hand des Mädchens ergriff und einfach zur Tür
hinausspazierte?
»Ich habe zehn Schatten im Haus«, sagte Kunun.
»Fünf werden hierbleiben, fünf kommen mit uns. Ich kann sie gerne
hereinbitten, aber ich möchte ungern deinem Ansehen schaden,
kleiner Bruder. Es ist für alle Beteiligten besser, wenn du mich
einfach begleitest.«
Mattim schluckte. Er wollte kämpfen, aber er war
nicht darauf vorbereitet. Womit sollte er auf Kunun losgehen, mit
bloßen Händen? Und was würde Atschorek dann tun, die Hand zärtlich
an Hannas Wange? Sie brauchten keine zehn Vampire, um ihn zu
bezwingen. Er hatte ihnen nichts entgegenzusetzen. Trotzdem bohrte
er die Füße in den Marmorboden und blickte Kunun trotzig an.
»Nicht ohne Hanna. Sie bleibt nicht alleine hier.
Ich will sehen, wie ihr sie zu Hause absetzt. Dann komme ich mit
dir.«
Kunun wechselte mit seiner Schwester einen
Blick.
»Vielleicht wäre es gar nicht so verkehrt, sie
dabeizuhaben«, sagte die Vampirin und lächelte, als sei ihr gerade
ein wundervoller Einfall gekommen.
Kunun nickte. »Das Mädchen fährt mit dir,
Atschorek. Ebenso ihr drei.« Er wählte die Schatten aus, die sie
begleiten sollten. »Du bleibst bei mir, Mattim.«
Kunun legte die Hand auf den Nacken des jungen
Prinzen und schob ihn zur Tür.
Auf der Zufahrt, hinter Atschoreks schwarzem BMW,
wartete der R8. Sie hätten halb um das Haus herumgehen müssen, um
ihn zu sehen. Weder Mattim noch Hanna waren vorsichtig genug
gewesen, um das zu tun.
Der Junge blieb an der Beifahrertür stehen. »Ich
möchte mit Hanna in einem Auto sitzen.«
Kunun lächelte nur kühl. »Du musst mit dem
zufrieden sein, was wir dir geben. Setz dich.«
Mattim gehorchte, als er beobachtete, wie Atschorek
Hanna aus dem Haus führte. Hinter ihnen kamen die Schatten, die
Kunun angekündigt hatte; bis jetzt hatte Mattim noch darauf hoffen
können, dass er nur bluffte. Lauf, Hanna, wollte er rufen,
lauf! Auch wenn er wusste, dass sie keine Chance hatte. Ihre
Blicke trafen sich, und er versuchte, alle Zuversicht in den seinen
zu legen. Es wird nichts Schlimmes passieren. Wir bleiben
zusammen.
Sie nickte leicht, und ein zaghaftes Lächeln glitt
über ihr Gesicht.
Kunun fuhr auf die Straße, ohne auf den anderen
Wagen zu warten, aber wenig später sah Mattim, dass das große
dunkle Auto ihnen folgte.
»Warum dieser ganze Aufwand?«, fragte er. »Wenn du
etwas von mir willst, wieso fragst du mich nicht einfach? Es gibt
Familien, in denen wird das so gehandhabt.«
»Manchmal bin ich dein Bruder«, sagte Kunun, »und
manchmal bin ich einfach nur dein König.« Konzentriert blickte er
nach vorne.
»Wohin bringst du mich? Aus der Stadt heraus?«
Mattim erwartete keine Antwort und erhielt auch keine. Der Ältere
fuhr schnell und rücksichtslos, mehr als einmal entging er einem
Krach nur um Haaresbreite. Der Junge verspürte keine Angst.
Merkwürdigerweise fühlte er gar nichts, nichts außer Zorn. »Wenn
ihr Hanna irgendetwas antut, werde ich dich töten«, sagte er. »Ich
finde einen Weg, glaub mir.«
Der Schattenprinz lächelte in sich hinein. Am
liebsten hätte Mattim ihn gefragt, ob er ihr Eindringen in die
Hotelsuite bemerkt hatte und ob er sich jetzt auf irgendeine
perfide Weise rächen wollte, aber vielleicht hatte das eine gar
nichts mit dem anderen zu tun, deshalb schwieg er lieber.
Sie fuhren kreuz und quer durch die Stadt. Dann
wartete Kunun an einer Ampel auf Grün, vor einer schmalen, von
einem hohen Stahlgeflecht flankierten Brücke. Sie führte
nicht über die gesamte Breite der Donau, es war nur ein kurzer,
einspuriger Übergang.
»Was soll das sein?«, fragte Mattim, als sie der
mit Schienen durchzogenen Straße folgten, an winterlich kahlen
Bäumen vorbei, und Kunun schließlich ein Verbotsschild ignorierte
und auf einen breiten Sandweg einbog. »Eine einsame Insel?« Durch
die Bäume erblickte er die Donau, stahlgrau. Lichtfunken tanzten
über die Wasseroberfläche und schienen von Welle zu Welle zu
springen.
Neben ihnen hielt der BMW. Zwei Spaziergängerinnen
mit großen braunen Hunden schlenderten vorbei, die Hände in den
Taschen vergraben, das Gesicht gegen den schneidenden Wind gesenkt.
Eine einsame Insel. Nur ein paar Menschen, die ihre Hunde
ausführten. Keine Touristen. Niemand, der sich für das, was sie
taten, interessieren würde.
»Du willst mich umbringen?«, fragte Mattim und
wunderte sich gleichzeitig, wie ruhig er blieb.
»Steig aus«, befahl Kunun.
Fast erwartete der junge Prinz, sein Bruder würde
ihm den Arm um die Schultern legen und ihn zum Wasser geleiten, so
wie er den anderen Vampir zur Hinrichtung geführt hatte.
Aber Kunun fasste ihn nicht an. Er ging neben ihm
her, auf einem weichen Waldweg, vom Wasser nur durch einen schmalen
Streifen struppiger Bäume getrennt. Mattim drehte sich um und
stellte fest, dass auch die anderen ausgestiegen waren. Hanna stand
neben Atschorek und wirkte klein und verloren auf dem großen,
leeren Gelände. Fern und blass erhob sich über ihnen die Silhouette
der Hügel von Buda.
»Ich oder sie?«, fragte Mattim leise. »Könntest du
das wirklich tun?«
»Dieser Fluss und jener Fluss«, sagte Kunun, als
hätte er ihn nicht gehört. »Manchmal frage ich mich, wie sie
miteinander
verbunden sind. Ist es das Licht aus Akink, das bis in die Donau
hinein leuchtet? Ist sie deshalb genauso gefährlich wie der Donua?
Als wären sie beide eins. Als wären die beiden Städte eins. Aber
das sind sie nicht. Du und ich kennen den Unterschied. In Budapest
zu leben, das ist niemals dasselbe, wie in Akink zu herrschen.
Komm, hier entlang.« Sie gingen die Stufen zu einem Anlegesteg
hinunter. Ein Bretterweg führte auf eine kleine Plattform. Das
Geländer schützte nur die Seiten; vor ihnen lag offen der
Fluss.
Eine Plattform auf dem Wasser. Sie konnten nicht
dort hingehen, es war unmöglich. Mattim warf Kunun einen Blick zu,
doch das verschlossene Gesicht seines Bruders verriet nichts. Der
Prinz wartete darauf, dass das Brennen begann, dass er den Tod
spürte, unter seinen Füßen. Wider Erwarten fühlte er nichts, als er
neben Kunun an die äußerste Kante des Bootsanlegers trat.
»Mattim!«, schrie Hanna irgendwo hinter ihm.
»Mattim!«
Er drehte sich um; ein letztes, ein allerletztes
Mal wollte er sie sehen. Atschorek und die drei Schatten waren
nötig, um das Mädchen dort oben am Waldweg festzuhalten, während es
verzweifelt versuchte, sie abzuschütteln.
»Mattim, nein!«
Der Junge sah ins Wasser hinunter. Die Sonne füllte
es mit Licht, gleißend, glitzernd, verlockend. Sie spielte in den
tanzenden Eisschollen. Ein Fluss, trunken von Licht. Auf der
anderen Seite nichts als eine Reihe großer grauer Wohnblocks. Der
großen Árpádbrücke, die von hier zu sehen war, fehlte die
Ausstrahlung der Kettenbrücke mit den steinernen Löwen. Sehnsucht
stieg in ihm auf, nach Akink, nach dem König, über dessen Haupt das
Leuchten begann, jeden Morgen neu. Nach der Königin, die sich über
ihn beugte. Mein Sohn, wach auf, dein Dienst … Er sehnte sich nach
dem Fluss, dem anderen Fluss, von dessen Grund ein
Leuchten hochstieg, der das Licht der Stadt spiegelte und in sich
aufnahm und aufbewahrte, Jahr um Jahr …
Er wollte nicht sterben. Wenigstens einmal wollte
er nach Akink zurück, wenigstens einmal wollte er die Burg sehen,
die sich über die Mauer erhob, und den Ruf des Nachtwächters in den
Straßen hören, und verfolgen, wie die Brückenwache ihre Runde
drehte, so langsam, dass man fast dabei einschlief, und mit den
Kameraden von der Nachtwache Patrouille gehen, und dabei die Wölfe
heulen hören, nah, so nah …
»Ich will nicht«, brachte er heraus.
»Das Blut der Menschen«, sagte Kunun leise,
»schützt uns vor dem Licht. Wir können in der Sonne leben, ohne
Furcht. Doch das Licht, das der Fluss in sich trägt, ist stärker
als alles. Du hast gesehen, wie Wondir verging. Unmittelbar vorher
hatte er getrunken, und ich dachte, vielleicht schützt es ihn. Aber
es hat ihn nicht geschützt. Wir brauchen etwas Stärkeres. Etwas,
das selbst der geballten Macht des Lichtes standhalten kann. Ich
glaube, ich weiß, was es sein muss. Blut, das etwas vom Licht
selbst in sich trägt.«
Obwohl er damit gerechnet hatte, kam der Stoß
überraschend. Mattim ruderte mit den Armen, schwankte und versuchte
sich aufzufangen, sich an Kunun festzuhalten, doch es war zu spät.
Er stürzte nach vorne, dem dunklen Wasser entgegen. Die Kälte war
ein Schock. Er tauchte ein, in die Nacht, die über ihm
zusammenschlug. Entsetzt kämpfte er gegen das Wasser, das ihn
weiter nach unten zog, gegen den Schmerz, gegen die Eiseskälte, die
ihn lähmen wollte, er rang nach Luft, Wasser füllte seine Lungen
…
Wie in einem Lichtstrahl hatte er Hannas Gesicht
vor sich. Ihre Augen, die ihn ansahen, wie ihn nie irgendjemand
angesehen hatte, bis auf den Grund seiner Seele. Gib nicht auf,
Mattim. Du musst kämpfen. Mattim …
Träumte er es? Oder rief sie dort oben tatsächlich
nach ihm, unermüdlich, immer wieder seinen Namen?
Er hörte auf, um sich zu schlagen. Er hörte auf zu
atmen. Kälte konnte diesem Leib nichts mehr anhaben.
Still war es hier, wenn man nur zuhörte.
Ich bin immer noch da, stellte er verwundert
fest, als er spürte, dass er immer noch lebte. Ein paar kräftige
Schwimmstöße trugen ihn wieder hinauf, dem Licht entgegen. Dort
stand Kunun, immer noch auf dem Anleger, mit einem wilden, gierigen
Ausdruck in den schwarzen Augen.
»Du Hund!«, schrie Mattim, als er auftauchte. »Du
bist verrückt! Du bist vollkommen verrückt! Ich hasse dich!« Nur
wenige Meter trennten ihn vom steinigen Ufer. Tropfend kletterte er
aus dem Wasser. Die anderen waren jetzt ebenfalls die Stufen
hinuntergestiegen. Ehrfürchtig starrten die Schatten zu ihm
herüber.
Es kümmerte ihn nicht. Seine Augen suchten Hanna,
fanden ihr tränenüberströmtes Gesicht, dann ging er auf Kunun los.
Mit beiden Fäusten stieß er den Schattenprinz vor die Brust. »Du
wahnsinniger Schweinehund!«
Der Ältere schien überhaupt nichts zu spüren, weder
die Schläge noch das Donauwasser, das Mattim bei jeder Bewegung
verspritzte. Fasziniert starrte er seinen Bruder an.
»Ich hatte Recht«, sagte er endlich. »Es ist genau
so, wie ich dachte. Blut, das freiwillig gegeben wurde. Es gibt
nichts Stärkeres als das. Selbst die Menschen wissen das. Blut,
freiwillig geopfert, überwindet sogar den Tod. - Ich danke dir,
kleiner Bruder. Wieder einmal hast du mir sehr geholfen.«
»Ich hätte sterben können!«, schrie Mattim. »Warum
suchst du dir nicht jemand anders für deine Experimente! Nimm deine
Schatten da! Mach es selbst! Du elender Feigling!«
Hanna fiel ihm in den Arm, sie klammerte sich an
ihn, hielt ihn fest und zog ihn von Kunun fort.
»Lass ihn, er ist es nicht wert. Mattim, sieh mich
an. Nicht ihn. Sieh mich an.«
Er zitterte und merkte, während er seine Liebste
hielt, dass auch sie am ganzen Leib bebte. Sie weinte immer noch,
dann stahl sich ein kleines Lächeln durch ihre Tränen. Er küsste
sie ihr von den Wangen. Schaute in ihre geröteten Augen, küsste sie
auf die Lider, aufs Haar.
Irgendwo in der Nähe sprach Kunun mit Atschorek.
»Es hat tatsächlich geklappt. Er lebt. War er nicht tapfer? Braver,
als ich erwartet hatte. Es war eine gute Idee, das Mädchen
mitzunehmen.«
Dann Atschoreks Stimme: »Wenn du dich genug
künstlich aufgeregt hast, Mattim, kann ich euch nach Hause
bringen.«
Der Prinz ignorierte alle Stimmen, alle Geräusche.
Allein Hanna in seinen Armen zählte, nur die Tatsache, dass sie
beide lebten. Er blendete die Schatten komplett aus, ihre Fragen,
ihr aufgeregtes Lachen. Er sah nicht zu, wie sie den Anleger
verließen, ignorierte das Aufheulen der Motoren. Schließlich
Stille. Und sie standen immer noch da, am steinigen Ufer der Donau,
Hannas wild schlagendes Herz zwischen sich wie ein wärmendes
Feuer.