NEUNUNDZWANZIG
BUDAPEST, UNGARN
»Er kann den Donua nicht einfrieren«, sagte Mattim.
In der Nacht hatte er sie nach Hause gebracht, ohne ein Wort zu sagen. Hanna hatte sich nicht einmal getraut, ihn daran zu erinnern, dass sie am Nachmittag mit Attila und seinen Geburtstagsgästen an der Burg Vajdahunyad Schlittschuhlaufen würde. Aber nun stand er vor ihr. Und statt Bitterkeit behauptete sich ein stolzes Lächeln in seinem Gesicht, als er ein Paar schwarzer Schlittschuhe vor ihren Augen schwenkte.
»Mattim!« Attilas Augen strahlten. »Du bist da! Das ist mein Freund!« Er steckte die anderen Jungen mit seiner Begeisterung an, so dass sie alle um den Prinzen herumtobten. »Mein allerbester Freund!«
»Wo hast du die nur her?«, fragte Hanna, während sie zusah, wie er sich die Schlittschuhe anzog.
»Gekauft, was sonst?«
»Du bist einfach losgezogen und hast dir Schlittschuhe gekauft?«
»Heute ist Attilas Geburtstag«, sagte Mattim. »Da muss ich doch dabei sein.«
Mit wackeligen Schritten stakste er los. Hanna konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Sie konnte kaum lange genug wegsehen, um sich ihre eigenen Schlittschuhe anzuziehen. Es war, als würde jede unachtsame Bewegung den Zauber zerstören, wie ein Stein das Spiegelbild in einem Teich zerfließen ließ. Mattim war schwarz gekleidet, wie Kunun, wie viele andere im Winter, aber sein goldenes Haar leuchtete, und hinter ihm erhob sich die märchenhafte Burg. Eine Burg, in der nie jemand gewohnt hatte, die nichts war als eine Zurschaustellung der unterschiedlichsten Stilrichtungen. Die Szenerie hatte etwas Unwirkliches, Malerisches. Mattim, der mit immer größerer Sicherheit über das Eis glitt, hinter sich die Horde Kinder, die versuchten, ihn einzufangen. Woher nahm er bloß die Selbstverständlichkeit, real zu sein in diesem Bild, die Leichtigkeit, die Kinder zu verzaubern, so dass ihre Herzen ihm ebenso zuflogen wie Hannas? Sie beobachtete ihn und wünschte sich, dass dieser Augenblick nie endete. Das Lachen der kleinen Jungen, ihre erhitzten Gesichter … Es sollte nie aufhören. Sie wünschte sich mehr als alles andere, dass er wirklich hier war, bei ihr, bei den Kindern, hier, hier in dieser Welt … Und wusste dennoch beinahe, was der Prinz sagen würde, als er in einer eleganten Schleife vor sie hinglitt, ihre Hände ergriff und sie mit sich auf den Teich hinaus zog.
»Kunun kann den Donua nicht einfrieren. Wie sollte er das tun? Solche Kräfte hat niemand. Einen Fluss voller Licht, den er nicht einmal berühren kann, will er verzaubern? Das glaube ich niemals.«
Hanna schluckte. Sie hatte eine andere Antwort für ihn, aber sie brachte es nicht über sich, es ihm zu sagen.
»Er kann den Fluss nicht einfrieren«, beharrte Mattim. Er blickte an ihr vorbei auf die Jungen.
Attila war hingefallen; mit wenigen raschen Gleitschritten war der junge Mann bei ihm und half ihm hoch, dann kam er wieder zurück zu Hanna, als wäre nichts gewesen. Er ruderte mit den Armen, um die Balance zu halten, und lachte, aber dann war er sofort wieder ernst. Vielleicht dachte er an Akink. Vielleicht dachte er immer an Akink.
Sie streckte die Hand aus und berührte sein Gesicht. »Mattim, wir werden Akink retten. Du wirst es schaffen. Kunun wird nicht siegen.«
»Selbst wenn - wie will er seine Schatten auf die andere Seite bringen? Sie werden das Eis nicht betreten können. Wir können nicht einmal in Booten auf die andere Seite!«
»Eine Armee über den gefrorenen Fluss zu führen ist aber etwas anderes, als in Booten überzusetzen. Boote kann man zum Kentern bringen.«
Winkend fuhr Attila vorbei. »Mattim, komm! Schau! Schau nur, was ich kann!«
Der junge Prinz nickte ihm lächelnd zu, aber als er sich wieder Hanna zuwandte, war sein Gesicht von einem Schmerz verzerrt, den sie nicht von ihm nehmen konnte. »Der Donua war noch nie gefroren«, sagte Mattim. »Noch nie, nicht in Tausenden von Jahren. Nicht einmal eine Eisschicht hat je darauf gelegen. Die Winter in Akink sind mild wie immerwährender Frühling. Nur die Sterne scheinen im Winter heller als sonst, sie glitzern über dem Wald …« Er brach ab.
»Was ist?«, fragte Hanna besorgt.
»Der Schnee«, flüsterte Mattim. »Als ich drüben war, war alles voller Schnee … So hoch wie noch nie. Es war deutlich kälter als hier in Budapest. Ein Winter, wie wir ihn noch nie hatten. Wie kann das sein? Hat Kunun etwa einen Zauber über das ganze Land gelegt, damit der Fluss einfriert? Ist er deshalb so sicher, dass er siegen wird?«
»Die Bücher«, sagte Hanna leise, »über Wolken und das Wetter … Du hast mir erzählt, dass es dunkel geworden ist in Magyria. Mit deinem Weggang.«
»Dunkel«, bestätigte er. »Dunkel, aber nicht kalt.«
»Die Kälte musste kommen«, erwiderte sie, und während sie es endlich aussprach, kam ein solches Mitleid über sie, dass sie es kaum ertragen konnte. Sie legte beide Arme um ihn und hielt ihn fest, als wäre er ein Kranker, der stürzen könnte. Der Boden schien unter ihren Füßen wegzurutschen, trotzdem blieben sie stehen, wie zwei Liebende, die nicht aufhören konnten, miteinander zu tanzen. »Mattim, das Licht deiner Familie ist die Sonne von Magyria. Deswegen war das Wetter immer so mild. Wenn sich die Sonne verdunkelt, wird es kalt. Es muss kalt werden, so ist es in dieser Welt auch. Kunun betreibt keine Zauberei. Es ist viel einfacher. Dein Bruder wusste, was geschehen würde, wenn du ein Schatten wirst. Über Akink sollte nicht nur Dunkelheit, sondern Eis und Schnee kommen. Der Fluss wird zufrieren.«
Mattim hielt in ihrer Umarmung still. Lange Zeit, ohne sich zu rühren, ohne zu sprechen.
»Dann bin ich also tatsächlich schuld«, flüsterte er schließlich. »In jener Nacht, als ich über den Donua schwamm, habe ich den Weg für die Schatten gebahnt.«
»Wir werden es verhindern!«, rief Hanna. »Wir lassen es nicht zu! Ich lasse es nicht zu!« Sein Schmerz griff auf sie über, als wäre es ihr eigener. Wenn Akink fiel, das wusste sie, dann würde es sein, als ob ihre eigene Welt in tausend Stücke zerbräche.
Der junge Prinz presste sein Gesicht in ihr Haar. Er weinte nicht. Sie konnte fühlen, wie er sich zusammenriss, wie er sich straffte und aufrichtete.
»Akink ist noch lange nicht verloren. Ich werde herausfinden, wie er das Eis überwinden will. Und ich werde diese verdammte Pforte schließen.«
Die Geburtstagsgäste johlten, als er sie küsste. Trotz der entschlossenen Worte war es nicht der Kuss eines rücksichtslosen Kämpfers, sondern ein Kuss voller Sehnsucht, so verlockend und süß, dass Hanna sich wünschte, er möge nie aufhören.
 
Bei Tageslicht wirkte Atschoreks Villa überhaupt nicht unheimlich. Es war ein großes rötlich-graues Gebäude mit vielen Winkeln, Kanten und Erkern und sogar einem kleinen Turm; die Miniaturausgabe eines baufälligen Schlosses. Der Garten, der Hanna in jener Nacht wild und verwachsen vorgekommen war, beherbergte eine ganze Reihe meist blattloser Bäume und Sträucher, aber wahrscheinlich würde es im Frühling hier ganz anders aussehen, wenn alles grünte und blühte.
Das Tor erwies sich diesmal als unverschlossen. Offenbar fürchtete Atschorek sich nicht vor Einbrechern oder begrüßte sogar jede Art von Beute, die hier ungefragt hereinspazierte.
An der Haustür zögerte Hanna kurz. Sie wusste, Mattim würde es ganz und gar nicht gutheißen, dass sie seine Schwester besuchte. Allein. Sich ungeschützt in die Höhle des Löwen zu begeben. Doch sie wollte so gerne mehr herausfinden, irgendetwas, was ihnen wirklich weiterhelfen konnte. Deshalb stand sie nun hier. Deshalb erwiderte sie Atschoreks Lächeln, die ihr öffnete, bevor sie überhaupt geklingelt hatte.
»Hanna, guten Morgen. Wie schön, dass du mich besuchst!«
»Du sagtest, du wolltest mir das Haus zeigen.« Das musste eigentlich jedem als Erklärung für einen Besuch reichen. Wer wäre nicht neugierig gewesen? »Ich habe gerade Attila zur Schule gebracht und war sowieso in der Nähe. Ich hoffe, es passt …?«
»Sicher.« Atschoreks Lächeln wirkte so echt, so ganz ohne Hintergedanken. »Für die Freundin meines Bruders, immer. Das ist fast, als wären wir verwandt.«
Hanna fühlte sich unbehaglich bei dem Gedanken, mit Atschorek verwandt oder verschwägert zu sein, trotzdem nickte sie. Das Kaminzimmer, durch das die Schattenfrau sie führte, war jetzt nur noch ein großer Partysaal. Sich vorzustellen, dass hier Vampire tanzten - lächerlich. Auch das nächste Zimmer, ein elegantes Wohnzimmer ganz in Weiß, war eher der Rahmen für eine reiche Dame mit erlesenem Geschmack, als der Schauplatz brutaler Verbrechen.
»Setz dich«, forderte Atschorek sie freundlich auf. »Ich hole uns etwas zu trinken.« Selbst das klang, sofern es ohne Hintergedanken ausgesprochen war, alles andere als schrecklich.
Hanna nahm auf dem kühlen, glatten Leder Platz und merkte erst jetzt, wie kalt es hier drinnen war. Das erinnerte sie daran, dass dies eben doch kein normales Haus war, in dem gewöhnliche Menschen lebten. Sie sah sich um. Filigrane schwarze Ornamente zierten die Wände. Fotos, die eigentlich in jeder Wohnung an die Familie oder die Freunde erinnerten, fehlten allerdings. Es gab nicht einmal Porträts von Atschorek selbst, vielleicht in verschiedenen Roben, dabei hätten sie gut hier reingepasst. Aber die Rothaarige hatte es nicht nötig, ihre Jugend einzufangen. Wie alt mochte sie sein, achtzig? Fünfzig? Es machte keinen Unterschied.
»Hanna? Was tust du denn hier?« Wer mit einem kleinen Tablett hereinkam, war nicht Atschorek, sondern Mattim. Mattim, der sie einen Moment entgeistert anstarrte, bevor ein Leuchten über sein Gesicht zog. »Hanna!« Er stellte das Tablett auf dem Tischchen ab und schloss sie in die Arme. »Wieso bist du hier?«
»Das frage ich mich gerade auch. Ich dachte, es wäre eine gute Idee, mal vorbeizukommen.«
Er lachte leise. »Deine Fähigkeit, überall dort aufzutauchen, wo ich bin, sollte mich eigentlich nicht mehr überraschen. Bitte. Ich sollte den Gast bewirten.« Er öffnete die Flasche Mineralwasser und goss ihr ein. »Atschorek hat mich gebeten, herzukommen, sie wollte etwas mit mir besprechen.«
»Na, was das wohl sein mag.« Hanna senkte die Stimme. »Sie ahnt doch nichts, oder?«
»Ich wüsste nicht, wie. An mir habe ich jedenfalls noch keine hellseherischen Fähigkeiten bemerkt.«
Er drehte das zweite Glas in den Händen, ohne zu trinken. Durch das Fenster schienen die Strahlen der Morgensonne und brachen sich in der Scheibe. Es war, als wollte er mit dem Wasserglas die Sonnenfunken einfangen, um davon zu trinken.
Atschorek streckte den Kopf durch die Tür. »Tut mir leid, ich muss kurz weg. Lauft nicht fort, ja? Nur eine halbe Stunde, dann bin ich wieder da.«
»Ist ihr das Mehl ausgegangen?« Hanna konnte gut auf die Gegenwart der Schattenfrau verzichten, auch wenn sie hergekommen war, um mit ihr zu reden. »Ich wollte deine Schwester noch mal befragen«, erklärte sie auf Mattims fragenden Blick hin. »Dachte, ich finde vielleicht etwas heraus. Aber anscheinend hast du mich hergelockt. Mein Verstand überlegt sich dann immer eine passende Erklärung, warum ich unbedingt irgendwo hingehen sollte.«
Der Prinz blickte hinaus in den Garten, ohne etwas zu erwidern. Die nassen Tropfen an den Zweigen funkelten im Sonnenlicht wie Kristalle.
»Wir könnten das Haus besichtigen, während sie weg ist«, schlug Hanna vor. »Das ist zwar nicht gerade höflich, aber vielleicht finden wir etwas Nützliches.«
»Hanna«, flüsterte er nur.
Sie wusste sofort, was los war. Warum fiel es ihm nur so schwer, es auszusprechen, immer noch?
»Ist es das Licht?«, fragte sie. »Du brauchst wieder Blut? Woran merkst du es?«
»Es tut weh«, sagte Mattim. »In den Augen. Irgendwann fängt es an zu brennen, am ganzen Körper. Ganz langsam nur, am Anfang ist es kaum zu spüren. Dann wird es allmählich stärker. Ich schätze, wenn du nicht gekommen wärst, hätte ich Atschorek fragen müssen, ob sie einen Keller hat.«
»Oder du hättest mich angerufen. Mattim, ich habe gar nicht daran gedacht in den letzten Tagen! Komm. Komm her.« Sie stellte ihr Glas ab und zog ihn näher zu sich heran. Eigentlich hatten sie sich schon viel zu lange nicht mehr geküsst. Mehrere Stunden ohne ihn waren entschieden zu viel. Als er ihren Hals berührte, schob sie ihn sanft von sich. »Nicht da …« Sie wollte ihm nicht sagen, dass die Wunden dort schmerzten, und zum Glück fragte er auch nicht nach.
»Wo denn?«
»Such dir eine schöne Stelle aus.«
Mattim grinste. Er ließ sich so viel Zeit dabei, dass Hanna schon fürchtete, er würde in ihren Armen in Flammen aufgehen. Mühelos gelang es ihm, auch ihre Haut zum Brennen zu bringen. Seine Lippen entfachten ein Feuer, überall … Als er schließlich zubiss, in ihre Seite, in die zarte, empfindliche Haut, kam der Schmerz wie eine Erlösung über sie. Das Mädchen lachte leise.
Ein anderes Lachen antwortete ihr, ein höhnisches Lachen, wild und böse.
Dort, an der Tür, stand Kunun.
Hanna setzte sich rasch auf und rückte ihren Pullover zurecht. Mattim flüsterte: »Wir hätten das Haus doch durchsuchen sollen.« Laut sagte er: »Was willst du?«
Der Schattenprinz kam durch das weiße Zimmer auf die beiden zu. »Wie immer hast du schon getan, was ich will. Und jetzt kommst du mit mir. Sofort und ohne Fragen zu stellen.«
»Wohin? Was hast du vor?«
»Ich sagte, stell keine Fragen. Komm einfach.«
Durch die Tür glitt Atschorek herein. Sie setzte sich neben Hanna, die immer noch etwas benommen dreinblickte, und legte den Arm um ihre Schulter. »Geh, Mattim. Ich passe so lange auf deine Freundin auf.«
Der junge Prinz sah verwirrt von einem zum anderen. »Was ist hier eigentlich los? Ich lasse Hanna bestimmt nicht allein hier zurück!«
»Geh und gehorche«, sagte Atschorek. Mit ihren langen, schlanken Fingern strich sie über Hannas dunkles Haar.
Mattim blickte von einem zum anderen. Was würden sie tun, wenn er die Hand des Mädchens ergriff und einfach zur Tür hinausspazierte?
»Ich habe zehn Schatten im Haus«, sagte Kunun. »Fünf werden hierbleiben, fünf kommen mit uns. Ich kann sie gerne hereinbitten, aber ich möchte ungern deinem Ansehen schaden, kleiner Bruder. Es ist für alle Beteiligten besser, wenn du mich einfach begleitest.«
Mattim schluckte. Er wollte kämpfen, aber er war nicht darauf vorbereitet. Womit sollte er auf Kunun losgehen, mit bloßen Händen? Und was würde Atschorek dann tun, die Hand zärtlich an Hannas Wange? Sie brauchten keine zehn Vampire, um ihn zu bezwingen. Er hatte ihnen nichts entgegenzusetzen. Trotzdem bohrte er die Füße in den Marmorboden und blickte Kunun trotzig an.
»Nicht ohne Hanna. Sie bleibt nicht alleine hier. Ich will sehen, wie ihr sie zu Hause absetzt. Dann komme ich mit dir.«
Kunun wechselte mit seiner Schwester einen Blick.
»Vielleicht wäre es gar nicht so verkehrt, sie dabeizuhaben«, sagte die Vampirin und lächelte, als sei ihr gerade ein wundervoller Einfall gekommen.
Kunun nickte. »Das Mädchen fährt mit dir, Atschorek. Ebenso ihr drei.« Er wählte die Schatten aus, die sie begleiten sollten. »Du bleibst bei mir, Mattim.«
Kunun legte die Hand auf den Nacken des jungen Prinzen und schob ihn zur Tür.
 
Auf der Zufahrt, hinter Atschoreks schwarzem BMW, wartete der R8. Sie hätten halb um das Haus herumgehen müssen, um ihn zu sehen. Weder Mattim noch Hanna waren vorsichtig genug gewesen, um das zu tun.
Der Junge blieb an der Beifahrertür stehen. »Ich möchte mit Hanna in einem Auto sitzen.«
Kunun lächelte nur kühl. »Du musst mit dem zufrieden sein, was wir dir geben. Setz dich.«
Mattim gehorchte, als er beobachtete, wie Atschorek Hanna aus dem Haus führte. Hinter ihnen kamen die Schatten, die Kunun angekündigt hatte; bis jetzt hatte Mattim noch darauf hoffen können, dass er nur bluffte. Lauf, Hanna, wollte er rufen, lauf! Auch wenn er wusste, dass sie keine Chance hatte. Ihre Blicke trafen sich, und er versuchte, alle Zuversicht in den seinen zu legen. Es wird nichts Schlimmes passieren. Wir bleiben zusammen.
Sie nickte leicht, und ein zaghaftes Lächeln glitt über ihr Gesicht.
Kunun fuhr auf die Straße, ohne auf den anderen Wagen zu warten, aber wenig später sah Mattim, dass das große dunkle Auto ihnen folgte.
»Warum dieser ganze Aufwand?«, fragte er. »Wenn du etwas von mir willst, wieso fragst du mich nicht einfach? Es gibt Familien, in denen wird das so gehandhabt.«
»Manchmal bin ich dein Bruder«, sagte Kunun, »und manchmal bin ich einfach nur dein König.« Konzentriert blickte er nach vorne.
»Wohin bringst du mich? Aus der Stadt heraus?« Mattim erwartete keine Antwort und erhielt auch keine. Der Ältere fuhr schnell und rücksichtslos, mehr als einmal entging er einem Krach nur um Haaresbreite. Der Junge verspürte keine Angst. Merkwürdigerweise fühlte er gar nichts, nichts außer Zorn. »Wenn ihr Hanna irgendetwas antut, werde ich dich töten«, sagte er. »Ich finde einen Weg, glaub mir.«
Der Schattenprinz lächelte in sich hinein. Am liebsten hätte Mattim ihn gefragt, ob er ihr Eindringen in die Hotelsuite bemerkt hatte und ob er sich jetzt auf irgendeine perfide Weise rächen wollte, aber vielleicht hatte das eine gar nichts mit dem anderen zu tun, deshalb schwieg er lieber.
Sie fuhren kreuz und quer durch die Stadt. Dann wartete Kunun an einer Ampel auf Grün, vor einer schmalen, von einem hohen Stahlgeflecht flankierten Brücke. Sie führte nicht über die gesamte Breite der Donau, es war nur ein kurzer, einspuriger Übergang.
»Was soll das sein?«, fragte Mattim, als sie der mit Schienen durchzogenen Straße folgten, an winterlich kahlen Bäumen vorbei, und Kunun schließlich ein Verbotsschild ignorierte und auf einen breiten Sandweg einbog. »Eine einsame Insel?« Durch die Bäume erblickte er die Donau, stahlgrau. Lichtfunken tanzten über die Wasseroberfläche und schienen von Welle zu Welle zu springen.
Neben ihnen hielt der BMW. Zwei Spaziergängerinnen mit großen braunen Hunden schlenderten vorbei, die Hände in den Taschen vergraben, das Gesicht gegen den schneidenden Wind gesenkt. Eine einsame Insel. Nur ein paar Menschen, die ihre Hunde ausführten. Keine Touristen. Niemand, der sich für das, was sie taten, interessieren würde.
»Du willst mich umbringen?«, fragte Mattim und wunderte sich gleichzeitig, wie ruhig er blieb.
»Steig aus«, befahl Kunun.
Fast erwartete der junge Prinz, sein Bruder würde ihm den Arm um die Schultern legen und ihn zum Wasser geleiten, so wie er den anderen Vampir zur Hinrichtung geführt hatte.
Aber Kunun fasste ihn nicht an. Er ging neben ihm her, auf einem weichen Waldweg, vom Wasser nur durch einen schmalen Streifen struppiger Bäume getrennt. Mattim drehte sich um und stellte fest, dass auch die anderen ausgestiegen waren. Hanna stand neben Atschorek und wirkte klein und verloren auf dem großen, leeren Gelände. Fern und blass erhob sich über ihnen die Silhouette der Hügel von Buda.
»Ich oder sie?«, fragte Mattim leise. »Könntest du das wirklich tun?«
»Dieser Fluss und jener Fluss«, sagte Kunun, als hätte er ihn nicht gehört. »Manchmal frage ich mich, wie sie miteinander verbunden sind. Ist es das Licht aus Akink, das bis in die Donau hinein leuchtet? Ist sie deshalb genauso gefährlich wie der Donua? Als wären sie beide eins. Als wären die beiden Städte eins. Aber das sind sie nicht. Du und ich kennen den Unterschied. In Budapest zu leben, das ist niemals dasselbe, wie in Akink zu herrschen. Komm, hier entlang.« Sie gingen die Stufen zu einem Anlegesteg hinunter. Ein Bretterweg führte auf eine kleine Plattform. Das Geländer schützte nur die Seiten; vor ihnen lag offen der Fluss.
Eine Plattform auf dem Wasser. Sie konnten nicht dort hingehen, es war unmöglich. Mattim warf Kunun einen Blick zu, doch das verschlossene Gesicht seines Bruders verriet nichts. Der Prinz wartete darauf, dass das Brennen begann, dass er den Tod spürte, unter seinen Füßen. Wider Erwarten fühlte er nichts, als er neben Kunun an die äußerste Kante des Bootsanlegers trat.
»Mattim!«, schrie Hanna irgendwo hinter ihm. »Mattim!«
Er drehte sich um; ein letztes, ein allerletztes Mal wollte er sie sehen. Atschorek und die drei Schatten waren nötig, um das Mädchen dort oben am Waldweg festzuhalten, während es verzweifelt versuchte, sie abzuschütteln.
»Mattim, nein!«
Der Junge sah ins Wasser hinunter. Die Sonne füllte es mit Licht, gleißend, glitzernd, verlockend. Sie spielte in den tanzenden Eisschollen. Ein Fluss, trunken von Licht. Auf der anderen Seite nichts als eine Reihe großer grauer Wohnblocks. Der großen Árpádbrücke, die von hier zu sehen war, fehlte die Ausstrahlung der Kettenbrücke mit den steinernen Löwen. Sehnsucht stieg in ihm auf, nach Akink, nach dem König, über dessen Haupt das Leuchten begann, jeden Morgen neu. Nach der Königin, die sich über ihn beugte. Mein Sohn, wach auf, dein Dienst … Er sehnte sich nach dem Fluss, dem anderen Fluss, von dessen Grund ein Leuchten hochstieg, der das Licht der Stadt spiegelte und in sich aufnahm und aufbewahrte, Jahr um Jahr …
Er wollte nicht sterben. Wenigstens einmal wollte er nach Akink zurück, wenigstens einmal wollte er die Burg sehen, die sich über die Mauer erhob, und den Ruf des Nachtwächters in den Straßen hören, und verfolgen, wie die Brückenwache ihre Runde drehte, so langsam, dass man fast dabei einschlief, und mit den Kameraden von der Nachtwache Patrouille gehen, und dabei die Wölfe heulen hören, nah, so nah …
»Ich will nicht«, brachte er heraus.
»Das Blut der Menschen«, sagte Kunun leise, »schützt uns vor dem Licht. Wir können in der Sonne leben, ohne Furcht. Doch das Licht, das der Fluss in sich trägt, ist stärker als alles. Du hast gesehen, wie Wondir verging. Unmittelbar vorher hatte er getrunken, und ich dachte, vielleicht schützt es ihn. Aber es hat ihn nicht geschützt. Wir brauchen etwas Stärkeres. Etwas, das selbst der geballten Macht des Lichtes standhalten kann. Ich glaube, ich weiß, was es sein muss. Blut, das etwas vom Licht selbst in sich trägt.«
Obwohl er damit gerechnet hatte, kam der Stoß überraschend. Mattim ruderte mit den Armen, schwankte und versuchte sich aufzufangen, sich an Kunun festzuhalten, doch es war zu spät. Er stürzte nach vorne, dem dunklen Wasser entgegen. Die Kälte war ein Schock. Er tauchte ein, in die Nacht, die über ihm zusammenschlug. Entsetzt kämpfte er gegen das Wasser, das ihn weiter nach unten zog, gegen den Schmerz, gegen die Eiseskälte, die ihn lähmen wollte, er rang nach Luft, Wasser füllte seine Lungen …
Wie in einem Lichtstrahl hatte er Hannas Gesicht vor sich. Ihre Augen, die ihn ansahen, wie ihn nie irgendjemand angesehen hatte, bis auf den Grund seiner Seele. Gib nicht auf, Mattim. Du musst kämpfen. Mattim …
Träumte er es? Oder rief sie dort oben tatsächlich nach ihm, unermüdlich, immer wieder seinen Namen?
Er hörte auf, um sich zu schlagen. Er hörte auf zu atmen. Kälte konnte diesem Leib nichts mehr anhaben.
Still war es hier, wenn man nur zuhörte.
Ich bin immer noch da, stellte er verwundert fest, als er spürte, dass er immer noch lebte. Ein paar kräftige Schwimmstöße trugen ihn wieder hinauf, dem Licht entgegen. Dort stand Kunun, immer noch auf dem Anleger, mit einem wilden, gierigen Ausdruck in den schwarzen Augen.
»Du Hund!«, schrie Mattim, als er auftauchte. »Du bist verrückt! Du bist vollkommen verrückt! Ich hasse dich!« Nur wenige Meter trennten ihn vom steinigen Ufer. Tropfend kletterte er aus dem Wasser. Die anderen waren jetzt ebenfalls die Stufen hinuntergestiegen. Ehrfürchtig starrten die Schatten zu ihm herüber.
Es kümmerte ihn nicht. Seine Augen suchten Hanna, fanden ihr tränenüberströmtes Gesicht, dann ging er auf Kunun los. Mit beiden Fäusten stieß er den Schattenprinz vor die Brust. »Du wahnsinniger Schweinehund!«
Der Ältere schien überhaupt nichts zu spüren, weder die Schläge noch das Donauwasser, das Mattim bei jeder Bewegung verspritzte. Fasziniert starrte er seinen Bruder an.
»Ich hatte Recht«, sagte er endlich. »Es ist genau so, wie ich dachte. Blut, das freiwillig gegeben wurde. Es gibt nichts Stärkeres als das. Selbst die Menschen wissen das. Blut, freiwillig geopfert, überwindet sogar den Tod. - Ich danke dir, kleiner Bruder. Wieder einmal hast du mir sehr geholfen.«
»Ich hätte sterben können!«, schrie Mattim. »Warum suchst du dir nicht jemand anders für deine Experimente! Nimm deine Schatten da! Mach es selbst! Du elender Feigling!«
Hanna fiel ihm in den Arm, sie klammerte sich an ihn, hielt ihn fest und zog ihn von Kunun fort.
»Lass ihn, er ist es nicht wert. Mattim, sieh mich an. Nicht ihn. Sieh mich an.«
Er zitterte und merkte, während er seine Liebste hielt, dass auch sie am ganzen Leib bebte. Sie weinte immer noch, dann stahl sich ein kleines Lächeln durch ihre Tränen. Er küsste sie ihr von den Wangen. Schaute in ihre geröteten Augen, küsste sie auf die Lider, aufs Haar.
Irgendwo in der Nähe sprach Kunun mit Atschorek. »Es hat tatsächlich geklappt. Er lebt. War er nicht tapfer? Braver, als ich erwartet hatte. Es war eine gute Idee, das Mädchen mitzunehmen.«
Dann Atschoreks Stimme: »Wenn du dich genug künstlich aufgeregt hast, Mattim, kann ich euch nach Hause bringen.«
Der Prinz ignorierte alle Stimmen, alle Geräusche. Allein Hanna in seinen Armen zählte, nur die Tatsache, dass sie beide lebten. Er blendete die Schatten komplett aus, ihre Fragen, ihr aufgeregtes Lachen. Er sah nicht zu, wie sie den Anleger verließen, ignorierte das Aufheulen der Motoren. Schließlich Stille. Und sie standen immer noch da, am steinigen Ufer der Donau, Hannas wild schlagendes Herz zwischen sich wie ein wärmendes Feuer.
Magyria 01 - Das Herz des Schattens
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