SECHSUNDZWANZIG
BUDAPEST, UNGARN
Rékas Zimmertür ging leise auf. Hanna hatte es wahrscheinlich nur deswegen gehört, weil sie schon die ganze Zeit mit einem Ohr nach oben gehorcht hatte, weil sie auf die Schritte im Treppenhaus wartete, leichtfüßig, leise, heimlich. Bevor das Mädchen sich in den Flur stehlen konnte, stand Hanna vor ihm. Sie konnte nicht verhindern, dass ihr Blick vorwurfsvoll wirkte, dass ihre Stimme fast so klang wie Mónikas.
»Wo willst du hin?«
»Bin ich hier eingesperrt, oder was?«, schnappte Réka.
Sie hatte ihr schwarzes Haar mit Spangen festgesteckt und trug lange, baumelnde Ohrhänger, die wie Kristalle aussahen. Verletzlich und ungeschützt war ihr Hals, und das Seidentuch verbarg kaum die Einstiche in der glatten Haut.
»Ich dachte, wir verbringen heute Abend mal etwas Zeit miteinander«, schlug Hanna vor. Dass es ständig ein neuer Kampf sein musste! Was immer sie an Freundschaft und Vertrautheit mit Réka aufbaute, hielt nie länger als einen Tag. Am nächsten war sie wieder eine Fremde, die man geduldig und liebevoll erobern musste. Ob es für Kunun wohl auch so schwer war? Nein, bestimmt nicht. Er musste bloß mit den Fingern schnippen, und schon kam sie angerannt.
Réka blickte skeptisch. »Du wartest doch nur darauf, dass ich abhaue, damit du deinen Freund anrufen und herbitten kannst.«
Mattim hatte sich den ganzen Tag nicht blicken lassen. Hanna machte sich schon Sorgen, aber darüber konnte sie mit niemandem reden. Mónika und Ferenc hatten sie gebeten, an diesem Abend bei den Kindern zu bleiben. Daher konnte sie nicht fort und Mattim suchen. Sie konnte ihn auch nicht anrufen, schließlich besaß er kein eigenes Telefon. Letztendlich hatte sie darauf gehofft, dass er irgendwann vor der Tür stand. Nur damit sie wusste, dass es ihm gutging, dass er in Sicherheit war. Dass es kein Fehler gewesen war, ihm den Code für den Aufzug zu geben. Wenn er in Magyria geblieben war … oder wenn Kunun ihn erwischt hatte …
»Was ist?«, fragte Réka und wirkte für einen Moment wie der freundliche Mensch, der sie als Kind wahrscheinlich gewesen war und in den sie sich hoffentlich irgendwann wieder verwandeln würde. »Alles in Ordnung?«
»Ja, natürlich.« Es war eine Lüge, und es hörte sich an wie eine. »Réka, deine Eltern erwarten, dass du hierbleibst, das weißt du. Wollen wir uns nicht zusammen ins Wohnzimmer setzen?«
»Was ist mit deinem Freund?«, fragte das Mädchen. Die Aussicht, mehr zu erfahren, machte sie immerhin so friedlich, dass sie sich dazu herabließ, auf einem Sessel Platz zu nehmen und ihre Aufmerksamkeit auf Hanna zu richten. »Habt ihr euch gestritten?« Leiser fügte sie hinzu: »Kunun und ich streiten uns nie. Aber so etwas ist sehr selten. Das weiß ich. Wenn man so zusammengehört wie wir … das ist etwas wirklich Außergewöhnliches.«
Réka war also in der Stimmung, über Kunun zu reden. Hanna nutzte die Gelegenheit, um von Mattim abzulenken.
»Was, wenn du vergisst, dass ihr euch gestritten habt?« Sie dachte an die Szene am Fluss, an Rékas aufflackernde Widerspenstigkeit. »Das könnte durchaus sein. Dass er Dinge von dir verlangt, die du nicht willst. Dass er dich zu irgendetwas zwingen will. Dass …«
»Kunun liebt mich«, unterbrach Réka sie empört. »Er würde mich nie zu etwas zwingen. Auf die Idee würde er gar nicht kommen. Er ist nicht so. Du kennst ihn nicht. Was wir haben … es ist vollkommen.« Mit den Füßen malte sie Kringel und Herzchen in die Luft. Hanna sah ihr dabei zu und fühlte sich unerträglich erwachsen.
Kunun hatte Réka gewählt … Sie gehört mir, hatte er gesagt. Warum gerade Réka? Was wollte er mit ihr? Sie war recht hübsch, und sie konnte sogar charmant sein, wenn sie wollte, aber warum sie? Warum nicht das nächstbeste junge Mädchen, frisch und voller Leben?
»Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?«, fragte Hanna.
»Ich dachte, Mária hat dir davon erzählt. Sie hat allen davon erzählt, was Kunun angeblich getan hat. So ein Schwachsinn.«
»Was war davor?«, hakte Hanna nach. »Hast du ihn zufällig in der Disco getroffen? Mir ist, als hätte Mária gesagt, du wolltest wegen eines Jungen dorthin. War das Kunun? Dann musst du ihn schon vorher gekannt haben. Wie willst du sonst gewusst haben, dass er dort sein würde?« Sie bemühte sich, ihre Aufregung nicht zu zeigen, während sie merkte, dass sie auf einen Punkt zusteuerte, der ihr von Anfang an suspekt vorgekommen war. »Du warst vorher schon in ihn verliebt, vor eurem ersten Tanz.«
Réka lächelte in sich hinein. Ihre Zehen schrieben »Kunun«, immer wieder »Kunun«, während sie die Beine über die Armlehne hängen ließ.
»Wir waren füreinander bestimmt«, flüsterte sie. »Ich dachte, er würde mich nie beachten … Aber irgendwie habe ich es gewusst. Irgendwie wusste ich, dass er es ist, er und kein anderer.«
»Wo ist er dir aufgefallen?«
»Überall«, sagte Réka leise, und in ihrer Stimme lag Erstaunen, »ich hab ihn gesehen, wie er an der Schule vorbeigefahren ist in seiner Wahnsinnskarre … und ich bin ihm in der Stadt begegnet. Manchmal hielt er an einer roten Ampel, vor der ich gewartet habe. Er ist mir sofort ins Auge gesprungen. Oder beim Einkaufen, da hab ich ihn auch gesehen. Einmal hatte er ein paar Freunde dabei, und sie haben ihn gerufen, seitdem wusste ich, wie er hieß.«
»Wahrscheinlich haben sie sich auch laut darüber unterhalten, wo sie abends hingehen würden?«
Réka drehte sich auf ihrem Sessel, bis sie Hanna anschauen konnte. »Ich habe es gehört, und da wusste ich, dass ich dort hinmusste. Es gab gar keine andere Möglichkeit. Ich wollte ebenfalls dort sein und ihn sehen, den ganzen Abend. Das ist Schicksal.«
Kunun hatte Réka also tatsächlich ausgewählt. Gezielt, wie es schien. Viel zu lange hatte Hanna sich mit der Erklärung zufriedengegeben, dass Rékas Alter das Mädchen für den König der Schatten attraktiv machte. Er hatte es darauf angelegt, gerade diese Vierzehnjährige zu sich zu locken - warum bloß, um alles in der Welt?
»Ich habe ihn gefunden«, murmelte Réka. »Bevor er mich geliebt hat, konnte ich ihn schon finden. Wir wurden zueinander geführt, weil wir füreinander bestimmt sind.«
Hanna fand es auf Dauer ermüdend, ihr zuzuhören. Am liebsten hätte sie Réka von einem anderen Kunun erzählt. Einem Kunun, der im Dunkeln die Arme um sie gelegt hatte, von einem Kunun, den es nach Blut dürstete …
Die Türglocke ließ sie aus den Überlegungen hochfahren, ob sie es wagen sollte, etwas gegen Kunun vorzubringen. Réka war vor ihr an der Tür, und von oben hörten sie Attilas Ruf: »Wer ist da? Mama? Ist Mama da?«
Réka starrte auf den kleinen Bildschirm, bevor sie den Toröffner betätigte. »Für dich, Hanna.«
Ihr Herz machte einen Sprung, als sie den Prinzen den Gartenweg heraufkommen sah. Mattim, die Hände in den Jackentaschen vergraben, den Kopf gesenkt gegen den wirbelnden Schnee. Weiße Flocken senkten sich auf sein blondes Haar. Durch ein paar lange Haarsträhnen hindurch blickte er nach oben, während er sich dem Haus näherte.
»Attila wird es Mama und Papa sagen«, warnte Réka. »Dass er herkommt, sobald sie ausgehen.«
»Kannst du deinen Bruder in sein Zimmer zurückbringen? Und ihm sagen, dass ich gleich komme, um ihm vorzulesen, wenn er ganz brav ins Bett geht?«
Réka grinste verschwörerisch. Wie froh und hilfsbereit sie werden konnte, wenn sie nur lange genug über ihren unvergleichlichen Kunun gesprochen hatte!
Hanna öffnete die Tür und sah Mattim entgegen. Etwas war passiert. Sie merkte es ihm an, an der Art, wie er ihrem Blick auswich, wie er ging, zögernd, als wäre er der Überbringer einer schlimmen Botschaft.
Auf der Schwelle blieb er stehen und schaute sie an, mit so viel Liebe und so viel Hunger in den Augen, dass sie schon glaubte, sich getäuscht zu haben. Aber als sie ihn umarmte, spürte sie wieder, dass irgendetwas nicht stimmte.
»Komm in die Küche«, sagte sie. »Réka ist bei Attila, ich möchte nicht, dass er dich sieht. Lass uns leise sein.«
»Du kannst nicht weg?« Sogar das Sprechen schien ihm schwerzufallen.
Auf einmal wusste sie, was er ihr sagen wollte. Er war in Magyria gewesen. Er konnte nach Hause gehen, wann immer er Lust dazu hatte. Zu ihr war er nur noch gekommen, um sich zu verabschieden.
Ihre Hände zitterten, als sie Wasser aufstellte.
»Ich mach uns einen Tee. Was Heißes gegen den Winter da draußen.«
Als wenn er das gebraucht hätte! Aber ihr tat es gut. Die heiße Tasse in den Händen zu halten. Ihn anzusehen, wie er da am Tisch saß, wie er unruhig die Finger verdrehte und sich darin vertiefte, als wäre er bloß hergekommen, um hier zu sitzen und seine Fingernägel zu betrachten. Sie beobachtete, wie er über seine Abschürfungen strich, vorsichtig, als würde es immer noch wehtun. Wartete, dass er sprach.
»Du hast die Zahl gefunden?«, fragte sie schließlich. »Es wirkt wie eine Jahreszahl. Sagt dir das was?«
Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht … er ist vor ungefähr hundert Jahren nach Budapest gekommen.«
»1902? Natürlich. In einem sechsstöckigen Gebäude gibt es keine 9 im Fahrstuhl.« Sie taten beide, als gäbe es kein größeres Rätsel als die vier Ziffern. Irgendwann hielt Hanna es nicht länger aus. »Bist du durch die Pforte gegangen?«, fragte sie bang.
»Ja.« Mattim nickte, dann riss er den Blick von seinen Händen los und wandte sich ihr zu. Wie grau seine Augen waren, grau wie der wolkenverhangene Himmel über der Stadt, der viel näher als sonst wirkte, fast so nah, als könnte man ihn anfassen. »Ja, das bin ich. Es war ganz leicht. Ich bin einfach durch die Pforte gegangen. Ich war in der Höhle. Danach war ich noch im Wald. Auch drüben liegt Schnee. Viel mehr Schnee als hier. Mehr, als ich jemals gesehen habe.« Gleich würde er es sagen. Jetzt -
»Hanna, Kunun hat gesagt, dass er Akink angreifen wird. Ich denke, es wird bald geschehen.«
»Bist du sicher?« Noch erlaubte sie sich nicht, erleichtert zu sein, über etwas, das ihm unendlich großen Kummer bereiten musste.
»Ich habe meinen Eltern eine Warnung zukommen lassen.«
»Du hast mit jemandem gesprochen? Drüben, auf der anderen Seite? Haben sie denn nicht versucht, dich anzugreifen?«
»Mirita war da.« Er zwang den Namen mit Gewalt über seine Lippen. »Wir waren früher zusammen in der Wache.«
»Sie hat dir geglaubt?«
Hanna versuchte, sich diese Mirita vorzustellen. Vielleicht eine alte, grauhaarige Soldatin mit einem strengen, wachsamen Gesicht. Oder eine schwarzhaarige Kriegerin mit Pferdeschwanz, in einer schimmernden Rüstung, die Befehle bellte. Vielleicht …
»Sie hat mich geküsst.« Sobald er es ausgesprochen hatte, wurde Mattim etwas lebendiger. Er beugte sich über den Tisch und legte seine Hände um ihre, sodass sie nun gemeinsam die Tasse hielten. Eindringlich redete er weiter. »Es hat nichts zu bedeuten. Wir hatten damals abgesprochen, ich würde ihr durch den Ruf eines Turuls Bescheid geben. So habe ich sie dazu gebracht, auf mich zu warten. Damals hatte ich ihr gesagt, wenn sie das Gefühl hat, dass ich auf die andere Seite übergewechselt bin, soll sie mich töten, und sie musste ja überprüfen, wer ich bin, und …« Seine Stimme erstarb. Bittend, geradezu flehend, schaute er Hanna an, wartete auf ihre Reaktion.
Die Gedanken fuhren Karussell in ihrem Kopf. »Dann habt ihr euch früher also ständig geküsst«, sagte sie. »Mirita wollte daran erkennen, ob du noch der Gleiche bist?«
»Nein«, beteuerte Mattim, »wir haben uns nie … Nur als ich damals aus der Höhle kam, vielleicht dachte sie deshalb … Nein. Wir sind bloß Freunde gewesen. Ich habe sie jedenfalls für meine Freundin gehalten, bevor ich wusste, dass sie alles, was ich sage, meinen Eltern zuträgt.«
Hanna musste schlucken. Sie entzog ihm ihre Hände, als könnte sie so sich selbst und ihre Gefühle in Sicherheit bringen.
»Hanna«, sagte Mattim, »ich liebe nur dich. Bitte, glaub mir. Meinst du, ich würde es dir sonst überhaupt erzählen?«
Warum hast du’s dann überhaupt getan!, wollte sie rufen. Sie wollte ihn anschreien, irgendetwas zerbrechen, aber selbst jetzt dachte sie daran, dass diese Tasse den Szigethys gehörte und sie in deren Küche nicht einfach willentlich etwas kaputtmachen durfte.
»Hanna? Attila wartet auf dich.« Réka streckte den Kopf durch die Tür und blinzelte.
»Ich komme.«
Hanna stand auf. Wenig später hörte man ihre Schritte auf der Treppe. Sie hatte nicht gesagt, ob sie damit rechnete, Mattim noch in der Küche vorzufinden, wenn sie zurückkam.
»Hm«, sagte Réka zur Begrüßung.
»Wie geht’s?«
Das Mädchen setzte sich auf Hannas Platz, spähte in die Tasse und lächelte.
»Ihr streitet euch gerade, stimmt’s?«
»Wie kommst du darauf?« Mattim war nicht gewillt, vor dieser Göre seine Gefühle auszubreiten.
»Hier herrscht dicke Luft. Glaub mir, ich merke so was. Meine Eltern streiten sich auch immer leise. Kaum kommt man ins Zimmer, tun sie so, als hätten sie sich bloß unterhalten. Man merkt es trotzdem.« Réka beobachtete den jungen Prinzen interessiert. »Hast du was ausgefressen? Dann musst du dich entschuldigen. Hanna ist der großzügigste Mensch auf dieser Erde.«
»Ich war gerade dabei«, gab Mattim zu. Schon wieder. Er hätte nicht gedacht, dass er bald jeden Tag damit beschäftigt sein würde, sich wegen irgendetwas, was Hanna betraf, schuldig zu fühlen. Wie oft würde sie noch großzügig sein müssen? Wenn das, was sie momentan fühlte, nur ungefähr dem entsprach, was er empfunden hatte, als sie mit Kunun zusammen gewesen war … Er senkte den Blick. Und beschloss das Thema zu wechseln.
»Ist deinen Eltern gestern Nacht eigentlich etwas aufgefallen - was eure Kamera aufgenommen hat?«
Verwirrt starrte Réka ihn an. »Wieso? Ist jemand hier eingebrochen?«
Anscheinend hatten sie nichts gemerkt. Wenigstens etwas. »Nein, ich war nur am Tor … Es wäre mir unangenehm, wenn sie mich beobachtet hätten.«
Réka zuckte die Achseln. »Solange nichts passiert, sehen sie sich das Band auch nicht an. Wir haben echt Besseres zu tun. Das nächste Mal achte halt darauf, wenn du vor unserem Haus herumlungerst. Nachts lässt Hanna dich sowieso nicht rein.«
»Und dein Freund?«, fragte er schließlich. »Warum sitzt er nicht hier mit uns am Tisch?«
Vielleicht würde sie vor Kunun jedes seiner Worte wiederholen. Alles, was er hier mit ihr sprach. Vielleicht sogar … Siedend heiß fiel ihm ein, dass er nicht wusste, wie viel Réka von seinem Gespräch mit Hanna mitbekommen hatte. Hatte sie gelauscht, bevor sie in die Küche gekommen war? Hatte sie etwa gehört, wie er davon sprach, dass er seine Eltern vor einem Angriff gewarnt hatte? Er zwang sich, nicht aufzuspringen und aus dem Haus zu stürzen.
»Es würde nicht zu ihm passen, auf einer Küchenbank zu sitzen«, erklärte Réka stolz.
Mattim wunderte sich ein wenig darüber, wie Recht sie hatte. Kunun in dieser Küche, Tee trinkend wie ein ganz normaler Mensch, wie ein Freund, ein gewöhnlicher Sterblicher? Sein Bruder brauchte stets das Besondere. Kein Haus wie dieses hier, auch wenn es noch so schön eingerichtet war, sondern mindestens ein Schloss. Kunun hasst das Haus am Baross tér, dachte Mattim auf einmal und wunderte sich über diese plötzliche Erkenntnis, er hasst es mehr, als er irgendjemandem gegenüber zugeben würde. »Wer braucht ein Schloss, wenn er eine Küche wie diese haben kann?«, fragte Mattim.
Auf einmal stand Hanna im Türrahmen. Sie lächelte über seine Worte, über diesen Satz, den Kunun niemals hätte aussprechen können. In ihren Augen spiegelte sich ihre Freude darüber, dass er nicht gegangen war.
»Du würdest sie nicht eintauschen gegen ein Schloss?«
Hinter dem Satz steckte eine andere, eine ernste Frage: Was würdest du tun für Akink? Mirita küssen, wieder und wieder, wann immer sie es will?
»Niemals«, antwortete Mattim.
Er schob seinen Stuhl zurück und streckte die Arme nach Hanna aus. Sie setzte sich auf seine Oberschenkel und lehnte sich an ihn.
»Verzeih mir«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»Ja«, flüsterte sie zurück.
»Ach nee«, brummte Réka und stand auf. »Das wird mir jetzt zu viel. Ich geh nach oben. Nacht, Hanna.«
»Gute Nacht, Réka.«
Als sie allein waren, sagte Hanna: »Tu das nie wieder. Auch wenn du sagst, dass du gar nichts gemacht hast. Nie wieder.«
»Nein«, sagte Mattim leise. Er hatte nicht vor, jemals wieder so etwas zuzulassen.
»Wie sieht sie aus?«
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Geht so.«
»Du lügst mich doch nicht an, oder?«
»Hanna.« Er küsste sie sanft. »Mirita war immer nur meine Kameradin. Mit ihr habe ich meine Pläne besprochen. Mehr war da wirklich nicht.«
»Auch für sie?«
Er zuckte die Achseln. »Darüber habe ich nie nachgedacht. Wir waren zusammen in der Nachtwache. Die gesamte Truppe war befreundet. Goran zum Beispiel gehörte auch dazu. Jetzt ist sie ein Schatten und wohnt in Kununs Haus. Hübsch ist sie außerdem. Wenn ich jemanden anders wollte, wäre es mit ihr viel einfacher. Aber ich will niemanden anders, Hanna. Ich will nur dich.«
Immer wieder hätte er diesen Satz aussprechen wollen. Doch Hanna kam ihm zuvor. »Du musst es ihr sagen, Mattim. Wenn du sie das nächste Mal triffst. Dass sie sich irrt. Dass du nur zu ihr gekommen bist wegen der Nachricht. Das stimmt doch, nicht wahr? Du wolltest ihr bloß die Nachricht überbringen?«
Er schrak hoch. »Pst. Bist du sicher, dass Réka nicht zuhört?«
Lautlos glitt Hanna von seinem Schoß und schlich zur Tür. Sie schüttelte den Kopf. »Du leidest schon unter Verfolgungswahn. Réka ist in ihrem Zimmer.« Sie seufzte leise. »Mattim, das nächste Mal musst du dieser Mirita irgendwie klarmachen, dass sie für dich nur eine Freundin ist. Am besten, bevor sie dich wieder küsst.«
Er nickte. »Versprochen.« Noch einmal würde Mirita ihn bestimmt nicht überrumpeln.
»Bist du denn irgendwie weitergekommen? Hast du schon eine Idee, wie du die Pforte schließen kannst?«
Mattim musste zugeben, dass sein Besuch in Magyria nicht viel gebracht hatte. »Eine Idee? Außer der, dass man das Haus zum Einsturz bringen müsste, um den Durchgang unpassierbar zu machen? Selbst das würde vermutlich nicht viel bringen. Wenn man durch Wände gehen kann, dann sicherlich auch durch Schutt und Geröll. Ich muss wissen, wie Kunun diese Pforte überhaupt aufgemacht hat.«
»Was, wenn er sie zufällig gefunden hat?«, fragte Hanna. »Wenn sie immer schon da war?«
Mattim dachte an die dunkle Höhle. Wie verzweifelt er damals, als er noch der Prinz von Akink gewesen war, versucht hatte, herauszufinden, was sich darin verbarg.
»Man stolpert nicht einfach über eine unsichtbare Schwelle und ist drüben! Man muss bewusst hinübergehen, und das ist nur möglich, wenn man weiß, wo sich der Übergang befindet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Kunun einfach in die Höhle gegangen ist, um sich zu verstecken, und dann - hoppla, wo bin ich denn hier? So funktioniert das nicht.«
»Kannst du ihn denn nicht fragen?«, schlug Hanna vor. »So verpackt, dass er nicht merkt, worum es geht?«
»Kunun lässt sich nicht so leicht belügen.« Kununs dunkle, forschende Blicke, vor denen man in die Knie gehen wollte … Und ständig zu denken, dass er einen durchschaute, dass er alles wusste, dass er das Spiel nur mitspielte, damit er später umso härter zuschlagen konnte. Auch auf der Jagd hatte sein Bruder sich nicht täuschen lassen, obwohl Mattim hätte schwören mögen, dass Kunun ihm glaubte. »Man weiß nie, was er wirklich denkt. Ich müsste mir jedenfalls eine verdammt gute Lüge ausdenken. Könnten wir nicht …«
Hanna schüttelte heftig den Kopf. »Nein, vergiss es. Niemals. Das ist viel zu gefährlich.« Sie wirkte, als wollte sie gleich auf ihn losgehen.
»Du weißt doch gar nicht, was ich sagen wollte!«, protestierte Mattim.
»Das ist nicht schwer. Du willst jemand anders für dich lügen lassen«, sagte Hanna leise. »Es muss jemand sein, dem Kunun vertraut. Es gibt nur eine, die infrage kommt.«
»Atschorek«, sagte Mattim. Konnte sie allen Ernstes seine Gedanken lesen? Es war unglaublich.
Aber Hanna sagte: »Ich dachte an Réka. Du meinst gar nicht Réka? Ich hatte schon Angst, du würdest wollen, dass wir sie dazu bringen, Kunun seine Geheimnisse zu entlocken.«
Mattim fühlte sich von dieser neuen Idee geradezu berauscht. »Das ist es! Vermutlich kann Réka alles aus ihm herausholen, was sie will. Er wird davon ausgehen, dass sie es sowieso vergisst.«
»Was auch geschehen wird«, sagte Hanna trocken.
»Nein.« Mattim war so aufgeregt, dass er aufstand und durch die Küche marschierte. So war er durch sein Zimmer gewandert, während Mirita auf dem Sofa saß und mit den Troddeln spielte. Diesmal saß Hanna am Tisch und sah ihm zu. Es war so ähnlich und dennoch ganz anders. Keine Freunde, die Pläne schmiedeten. Nicht einer, der in blindem Vertrauen über alles redete, und eine, die sich als Spitzelin seiner Eltern entpuppte. Sondern zwei, die so zusammengehörten wie nichts sonst, zwei, die sogar siegen konnten, zwei, die alles erreichen würden, was sie sich vornahmen. Er verspürte eine solche Kraft und Hoffnung in sich, dass er Hanna vom Stuhl hochriss und sie stürmisch küsste. Viel leidenschaftlicher, als Mirita ihn geküsst hatte.
»Mattim, das ist …«
»Sie wird es nicht vergessen. Wir werden die beiden beobachten. Und bevor Kunun sie beißen kann, werden wir dazwischengehen. Ich werde eingreifen und dafür sorgen, dass er es nicht tun kann. Und dann …«
»Mattim!« Hanna schlängelte sich aus seiner Umarmung. »Nein, hör mir zu. Wenn Kunun das merkt … Du weißt nicht, was er dann tun wird. Wenn er das Gefühl hat, dass sie ihn ausspioniert. Hinderst du ihn obendrein daran, sie zu beißen und ihr die Erinnerung zu nehmen, wird er ihr auflauern und es später tun - und ihr noch viel mehr nehmen, vielleicht sogar mehrere Stunden. Réka sieht schon elend genug aus.«
Erneut wirkte Hanna, als wollte sie gleich auf ihn losstürmen, um - ja, um was? Ihn zu schlagen?
»Ich habe nicht vor, deiner Réka irgendetwas zu tun«, sagte er beschwichtigend. »Du benimmst dich ja, als wollte ich sie umbringen!«
»Umbringen«, sagte Hanna. »Oder verletzen. Ihr wehtun. Nicht du. Aber Kunun könnte es tun. Versprich mir, Mattim, dass wir Réka außen vor lassen.«
Wir. Sie hatte wir gesagt. Eben noch war sie sauer gewesen, aber da war es wieder, dieses wundervolle Wir.
»Ich werde zu Atschorek gehen«, sagte er. »Wenn irgendjemand weiß, wie es mit der Pforte anfing, dann sie.«
»Ich komme mit.«
Hanna spülte ihre Tasse aus und trocknete sich die Hände ab.
»Musst du nicht hierbleiben? Wegen der Kinder?«
Er konnte sehen, wie sie mit sich rang. »Eigentlich ja. Aber wenn die Eltern nach Hause kommen, vielleicht dann?«
»Du willst mit mir zu einer bösen Vampirfrau, die mir die Haut abziehen wird, sobald sie merkt, worauf ich aus bin, und dafür deinen Schlaf opfern?«
Hanna grinste nur. »Wenn du sie nach der Pforte fragst, könnte sie das tatsächlich falsch auffassen. Wenn jedoch ich, ein armer, kleiner Mensch, sich danach erkundigt, wie die Vampire eigentlich hier nach Budapest gekommen sind, antwortet sie mir vielleicht sogar.«
Ihre Augen leuchteten. Sie war so süß, so unwiderstehlich. Mattim wollte die Hände ausstrecken und sie berühren. Er wollte sie an sich ziehen und mit sich nehmen, egal, wohin. Doch dann hörte er das Motorengeräusch des großen Wagens, den die Szigethys fuhren, auf der Auffahrt.
»Da sind sie schon. So früh!«
»Bestimmt haben sie sich gestritten«, sagte Mattim, der daran dachte, was Réka ihm erzählt hatte. »Das tun Liebende manchmal.«
»Was mache ich denn jetzt mit dir? Du musst dich verstecken! Nur wo? Sie kommen schon zur Haustür hoch!«
»Kein Problem«, sagte Mattim.
Als Mónika mit einem freundlichen »Na, bist du noch wach?« in die Küche kam, saß nur Hanna am Küchentisch. Der Prinz warf noch einen kurzen Blick durch die Fensterscheibe. Nein, verängstigt wirkte Hanna nicht, obwohl sie eben mit angesehen hatte, wie er durch die Wand verschwunden war. Ein wenig überrascht wirkte sie, und das Lächeln, mit dem sie Mónika begrüßte, war zum Dahinschmelzen, zugleich heiter und geheimnisvoll.
Magyria 01 - Das Herz des Schattens
cover.html
klas_9783641037956_oeb_cover_r1.html
klas_9783641037956_oeb_cop_r1.html
klas_9783641037956_oeb_toc_r1.html
klas_9783641037956_oeb_fm1_r1.html
klas_9783641037956_oeb_p01_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c01_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c02_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c03_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c04_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c05_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c06_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c07_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c08_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c09_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c10_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c11_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c12_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c13_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c14_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c15_r1.html
klas_9783641037956_oeb_p02_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c16_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c17_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c18_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c19_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c20_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c21_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c22_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c23_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c24_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c25_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c26_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c27_r1.html
klas_9783641037956_oeb_p03_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c28_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c29_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c30_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c31_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c32_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c33_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c34_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c35_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c36_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c37_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c38_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c39_r1.html
klas_9783641037956_oeb_c40_r1.html
cover1.html