ZWEIUNDDREISSIG
BUDAPEST, UNGARN
»Ach«, sagte Mónika kühl. »Auch schon wieder da?«
Sie war gerade dabei, Attila in die Jacke zu helfen.
»Hanna!« Der Junge strahlte übers ganze Gesicht. »Ich hab ohne dich gefrühstückt! Ich muss jetzt los, sonst komme ich zu spät.«
»Hallo, Attila! - Ich kann ihn in die Schule bringen, ich …«
»Ich fahre jetzt.« Mónika musterte das Au-pair-Mädchen kurz von oben bis unten. »Wir sprechen uns später.«
Hanna seufzte, als ihre Gastmutter mit Nachdruck die Tür zuschlug. Sie spähte aus dem Fenster und beobachtete, wie Mónika den Golf rückwärts aus der Auffahrt setzte. Etwas Kleines, Helles bewegte sich hinter der Autoscheibe; Attila winkte ihr zu.
Sie wartete noch einen Moment, dann öffnete sie das Tor und ließ Mattim herein.
Auch er strahlte. Hatten alle glücklichen Jungen so ein Lächeln? Ausgelassen fasste er sie um die Taille und tanzte mit ihr durch den Flur bis ins Wohnzimmer. Er sah tatsächlich aus wie Attila, genauso jung, als wäre er sieben oder acht, in einem Alter, in dem das Glück des Augenblicks sich noch nicht von Sorgen stören ließ. Hanna sagte ihm nicht, dass die Szigethys sie jetzt wahrscheinlich nach Hause schicken würden.
»Kommt heute die Putzfrau?«, fragte er.
Sie konnte sich nicht daran erinnern, welcher Wochentag war. »Ist heute Dienstag? Nein, Donnerstag, oder?« Hanna fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Es fühlte sich so fremd an wie dieses Zimmer, wie dieses Haus. Vielleicht wohnte sie hier schon gar nicht mehr, so abweisend wie Mónika sich verhalten hatte.
»Ich muss duschen. Du weißt nicht zufällig, wie man Kaffee kocht?«
»Ich könnte dir beim Duschen helfen.« Er grinste verwegen und streckte die Hand aus, um ihr Haar zu berühren, wie er es so gerne tat. Die rechte Hand.
Die dunkel war von getrocknetem Blut.
»Das sieht fürchterlich aus. Tut es denn gar nicht weh?«
Sie merkte, dass Mattim den Blick nur ungern von ihr zu seiner Verletzung hin zwang. Der Schnitt, den Atschorek ihm beigebracht hatte, war tief. Hanna schalt sich, dass sie gar nicht mehr daran gedacht hatte, wie oft die Rothaarige ihren Bruder mit ihrem fürchterlichen Schwert getroffen hatte.
»Das musst du waschen. Deine Klamotten haben auch etwas abbekommen … Und deine Arme! Was ist mit denen? Zeig mal, wie schlimm …«
»Nein, Hanna, lass nur«, unterbrach er sie. Er trat ein paar Schritte von ihr fort. »Ich will nicht, dass du das siehst.«
»Aber«, begann sie, »ich kann dir helfen, ich …«
»Nein«, widersprach er. »Nicht du. Ich muss zu ihnen gehen.«
»So darfst du unmöglich durch die ganze Stadt fahren! Wenn das jemandem auffällt, ruft er den Krankenwagen, oder die Polizei. Du kannst doch hier bei mir warten. Ich besorge dir etwas anders zum Anziehen. Es gibt bestimmt irgendwo einen Verbandskasten.«
Mattim schüttelte den Kopf. »Ich geh rüber zu Atschorek. Aber das hat Zeit. Ich kann nicht verbluten, und es tut auch nicht weh. Geh du nur duschen, ich werde schon nicht verschwinden.«
Er fragte nicht noch einmal, ob er mitkommen durfte. Wunden, die nicht heilen würden … Hanna schauderte, und doch wünschte sie sich mehr als alles, dass er sie auch daran teilhaben ließ.
Das heiße Wasser vertrieb die Müdigkeit aus ihrem Körper. Hier, unter der Dusche, beim Genuss der Annehmlichkeiten der Zivilisation, war es kaum zu glauben, dass die Ereignisse der Nacht wirklich stattgefunden hatten. Kaum zu glauben, dass …
Hanna schrie unwillkürlich auf, als sie ein Gesicht durch die beschlagene Scheibe der Duschkabine spähen sah.
»Mattim! Hast du mich erschreckt!«
»Nun ja … Tut mir leid. Mehr oder weniger.«
»Ich hatte abgeschlossen!«
»Tja, und ich kann durch Wände gehen.«
Schuldbewusst wirkte er nicht gerade. Dafür reichte er ihr ein Handtuch. Seine Hände waren wieder sauber, doch ihr fiel auf, dass er die Linke benutzte. Und er ließ sich hinausscheuchen, damit sie sich in Ruhe abtrocknen und umziehen konnte.
Als Hanna wenig später in die Küche kam, fand sie Mattim beim Kampf mit der Kaffeemaschine vor. »Hier kommt das Wasser rein, das habe ich doch richtig gemacht? Und dort das Pulver. Ich dachte, ich überrasche dich mit einer fertigen Tasse Kaffee, aber irgendetwas stimmt hier nicht.«
»Der Stecker ist nicht drin, den zieht Attila immer raus. Ach, und du hast die Filtertüte vergessen.« Sie blickte an ihm vorbei, während sie das Kaffeepulver mit einem Löffel wieder herausschabte.
»Ich wollte nur nachsehen, warum es so lange dauert. Wenn du dabei gewesen wärst, in der Badewanne zu ertrinken, hätte ich dich retten können.«
»Du hättest auch klopfen und fragen können, ob alles in Ordnung ist!«
»Hab ich, aber du hast mich nicht gehört.« Er grinste an ihr vorbei, zur Wand hin. »Bist du sehr böse?«
Sie kämpfte die Röte nieder, die ihr ins Gesicht steigen wollten. Die Kaffeemaschine röchelte erschrocken, als sie eingeschaltet wurde, was in dieser Situation wenig hilfreich war. »Gleiches Recht für alle.«
Das Lächeln verschwand von seinen Lippen. »Das willst du nicht.«
»Doch«, widersprach sie. »Zeig es mir, Mattim.«
Sie dachte, er würde wieder protestieren. Doch er sah sie nur an, mit ruhigen grauen Augen, und wieder kam er ihr viel älter vor, alt wie das Licht selbst.
Langsam schälte der Junge sich aus seinem Hemd.
Hanna schlug die Hand vor den Mund. »Oh Gott.«
Mattims Lächeln wirkte gequält. »Ich bin sicher, Atschorek hätte gerne weitergemacht.«
Die Schnitte in seinen Oberarmen waren wie tiefe Kerben im Fleisch. Seine Schwester hatte ihn öfter getroffen, als Hanna überhaupt mitbekommen hatte. Und die Wunde in seiner Seite wäre vielleicht sogar tödlich gewesen, ein klaffendes Loch auf der Höhe des Nabels.
»Ist es nicht merkwürdig«, sagte Mattim leise. »Das zu sehen und sich daran zu erinnern, wer ich bin … Manchmal vergesse ich es fast selbst. Vielleicht wollte ich dir die Wunden nicht zeigen, weil ich hoffe, dass du es auch vergisst. Wenigstens hin und wieder, zwischendurch … Aber das bin ich, Hanna. Und es wird nicht heilen. Ein toter Körper voll blutiger Wunden.«
Sie legte die Hände auf seine Schultern und streichelte sanft über seine Haut. Ihre Finger malten Muster um die Schnitte und Stiche herum, als wollte sie schwarze Ornamente auf eine weiße Wand zeichnen. Mattim schauderte unter den Berührungen, aber er hielt still. Langsam ging sie um ihn herum. Dort hatte die Wölfin die Spuren ihrer Krallen hinterlassen, blasse Streifen auf seinem Rücken. Sie küsste beide Schulterblätter. Doch nur die Kaffeemaschine stöhnte auf.
»Tu das nicht«, flüsterte er. »Du hast keine Ahnung, wie intensiv ich das empfinde.«
»Musst du los, um Akink zu retten? Jetzt?«
»Heute Abend. Ich will die Nachtpatrouille treffen.«
Während sie sich leise unterhielten, hörten ihre Hände nicht auf. Jede Stelle, jeden Quadratzentimeter Haut wollte sie anfassen, wollte sie küssen. Jede Wunde, jede Narbe, als könnte sie diese damit heilen und schließen.
»Du bist nicht tot«, sagte Hanna. »Was immer sie dir auch gesagt haben, was mit dir geschehen ist, tot bist du nicht … nur verwandelt. Du musst dich an merkwürdige Regeln halten, um gegen das Licht zu bestehen, aber nenn dich nie wieder tot. Du bist genauso lebendig wie ich.«
»Dann hast du also gar keine Angst?«
»Vor dir?« Sie lachte leise. »Wo hat der Wolf dich gebissen? Ich habe nichts gefunden.«
»Tiefer.«
»Ungefähr da?«
Die Kaffeemaschine hatte aufgehört zu gurgeln. Der Duft erfüllte die Küche.
Später würde er auch noch heiß sein, der Kaffee.
 
»Du hast mir immer noch nicht gesagt, wie du Akink retten willst.«
Die beiden lagen auf dem Sofa, eng aneinandergeschmiegt. Auf dem Tisch stapelten sich Tassen und vollgekrümelte Teller. Das Ticken der Standuhr fiel Mattim auf einmal auf, das unerbittliche Fortschreiten der Zeit.
»Licht heilt die Wunden«, sagte er.
»Das ist alles? Licht heilt die Wunden?«
»Das hat er mir schon damals gesagt. Als ich ihn angegriffen habe, nach der Situation im Fahrstuhl … In Akink wird es heilen. Daran glaubt er.«
»Glaubst du es denn auch?« Hanna stützte sich auf einen Ellbogen und sah ihm ins Gesicht, forschend.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht kann das Licht eine Wunde schließen, vielleicht würde es noch tiefere Wunden in mich brennen … ich habe mitbekommen, was mit den Schatten in meiner Nähe geschah.« Er sah Morrit vor sich. Ein Bild, das sich nicht auslöschen ließ. Morrit, der auf ihn zugekrochen kam, um durch sein Licht zu sterben …
»Können wir uns noch einmal anhören, was Kunun zu Réka gesagt hat?«
Hanna blinzelte schläfrig, trotzdem rappelte sie sich auf. Mattim folgte ihr die Treppe hinauf in ihr Zimmer
»Soll ich dir die Worte aufschreiben?«, fragte sie. »Wenn du mir genau sagst, welche Stelle wichtig ist?«
»Nur die letzten Sätze«, sagte er. »Und nein, schreib es nicht auf. Jemand könnte es finden … Da, das ist es.«
Zum zweiten Mal hörten sie Kunun sagen: »Er macht sich also Sorgen, die Pforte könnte mir eines Tages verschlossen sein? Ein Riss in der Welt, geöffnet von der Klaue der Dunkelheit? Der Kleine sollte sich über ganz andere Dinge Sorgen machen.«
»Die Pforte«, sagte Mattim. »Ein Riss, von der Dunkelheit geöffnet. Eine Wunde in der Wirklichkeit. Dunkelheit zerreißt, Licht heilt die Wunden. Als mein Bruder das sagte, heute Nacht, da habe ich es endlich begriffen. Das Licht wird die losen Enden wieder zusammenfügen. Die Wunde heilen oder verschmelzen - in diesem Fall ist es dasselbe. Allein das Licht vermag die Pforte zu schließen, nichts sonst. Kunun hat es nicht nur Réka gesagt, sondern auch mir. Ich hatte Recht, er muss darüber reden, und er tut es ständig. Ich hätte besser zuhören sollen.«
»Das Licht«, sagte Hanna nachdenklich. »Nur - wie?«
»Wenn ich es bloß könnte«, murmelte Mattim, und wieder wog es so schwer, was er nicht mehr war, vielleicht schwerer als jemals zuvor. »Wenn mein Vater Morrit zu den Schatten geschickt hätte, dann hätte ich nicht gehen müssen. Morrit hätte mir gesagt, was nötig ist. Daraufhin wäre ich losgegangen und hätte es getan. Aber manchmal geht das Schicksal andere Wege, verschlungener und gefährlicher … Einer von ihnen muss kommen, Hanna. Mein Vater oder meine Mutter, in die Höhle, bis zu Kununs Pforte. Wenn die Schatten auf ihren nächsten Jagdausflug gehen, wird keiner von ihnen zurückkehren. Denn das Licht wird den Zugang zusammenschweißen, so dass niemand mehr hindurchgelangen kann.«
»So einfach«, sagte Hanna verwundert.
Er lachte unfroh. »Einfach? Den König des Lichts dazu zu bringen, Akink zu verlassen und mir in eine dunkle Höhle zu folgen? Du kennst meinen Vater nicht. Das wird er niemals tun. Aber vielleicht kann ich meine Mutter dazu bewegen. Nun, ich werde sehen, was sich machen lässt.«
»Was, wenn sie dir nicht glauben …«
»Ich weiß«, sagte er und dachte wieder an Morrit. An das Feuer, das vor seinen Augen tanzte, wild und verzehrend.
»Du hast eine gefährliche Familie«, sagte Hanna ernst.
»Nun ja«, erwiderte er leichthin, »wer hat die nicht?«
 
»Halt still.« Atschoreks Hände auf seiner Haut. »Du hättest gleich kommen sollen. Wo treibst du dich nur so lange herum? Bei deiner Kleinen? Und, hat es sich wenigstens gelohnt?«
»Au!«
»Es muss nicht wehtun, wenn du es nicht zulässt. Stell dich nicht so an.«
Seine Schwester jagte ihm die Nadel durch die Haut. Seine Hand hatte sie schon genäht, mit feinen Stichen, ohne mit der Wimper zu zucken. Kaum war er zur Tür herein, hatte sie ihn ins Badezimmer geschleift, ihm das Hemd ausgezogen und sich den Schaden angesehen, den sie angerichtet hatte.
Mattim konnte sich eine bissige Bemerkung nicht verkneifen.«Du hättest gerne weitergemacht, stimmt’s? Wenn Kunun dich gelassen hätte.«
»Und du hättest mich nicht schonen dürfen.« Eine steile Falte zwischen Atschoreks Augenbrauen verriet ihren Zorn. »Alle haben es gemerkt.«
»Ist das denn so schlimm? Du wusstest, dass ich ganz gut bin. Sonst wäre ich nicht in der Nachtwache.«
»Du bist nicht mehr in der Nachtwache.« Grimmig bohrte sie die Nadel in seine Schulter.
Er lachte, ein Lachen so leicht wie eine schwebende Feder. So leicht, wie er sich fühlte. Nicht einmal mit ihrer spitzen Nadel und ihrer noch spitzeren Zunge konnte Atschorek ihn von seinem Höhenflug herunterholen. »Du bist allerdings auch nicht schlecht. Zusammen könnten wir die Brücke erobern und Akink im Sturm einnehmen.«
»Redet man immer noch davon?« Atschorek runzelte die Stirn, doch er merkte, dass sie geschmeichelt war, wenn auch gegen ihren Willen.
»Wie du über die Brücke gestürmt bist?« Nur ein alter Mann, wispernd vor den Bildern, den verbotenen, erinnerte sich noch an die alten Geschichten. Aber er wollte sie nicht kränken. »Ich habe mich gefragt, wie du wohl bist«, sagte er. »Ein Mädchen, das so etwas fertigbringt … Hast du Kunun nicht gehasst dafür, dass er dir die Wölfe auf den Hals gehetzt hat?«
»Kunun hassen? Er ist mein Bruder.« Atschoreks Blick, unergründlich. »Er glaubt, du wärst jetzt auf seiner Seite. Er sieht dich schon neben sich auf dem Thron. Lass dir eines gesagt sein, Mattim, ich traue dir nicht. Da kannst du noch so oft auf die Knie fallen.«
Der junge Prinz schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich muss dir nichts beweisen«, sagte er. »Wenn es Kunun genügt, was ich ihm anbiete, muss es auch dir genügen.«
»Wenn du mir einen Becher bringst, randvoll gefüllt mit Hannas Blut, dann glaube ich dir«, sagte Atschorek. »Und zwar nur dann.« Sie legte das Nähzeug zur Seite und betrachtete ihn.
Mattim lächelte nicht mehr. »Niemals!«
»Dann«, Atschorek beugte sich vor, »ist deine angebliche Kapitulation nichts wert. Gar nichts. Denn genau das brauchen wir.«
»Hannas Blut?« Mattim stand auf. Um Atschorek nicht anzugreifen, sie weder anzuschreien noch ihr in das kühl lächelnde Gesicht zu schlagen, griff er betont langsam nach seinem Hemd. Unter ihrem verächtlichen Blick knöpfte er es sorgsam zu.
»Vielleicht ist es dir tatsächlich unmöglich, Kunun zu hassen«, sagte er, »immerhin ist er dein Bruder. Aber vergiss nicht, ich bin auch dein Bruder.« Er stand schon an der Tür, die Hand an der Klinke, als er sich noch einmal umwandte.
Seine Schwester saß immer noch auf dem weißen Ledersofa, und vielleicht zum ersten Mal kam sie ihm nicht wie eine selbstbewusste Schönheit vor, sondern wie ein verlorenes Mädchen, ein schwacher Abglanz der Prinzessin des Lichts, die sie einmal gewesen war.
»Zu mir hat er gesagt, dass ich an seiner Seite herrschen werde«, sagte Mattim. »Zu mir hat er gesagt, dass ich ihm den Sieg bringen werde. Kann es sein, dass du schlicht und ergreifend eifersüchtig bist?«
Damit wandte der Prinz sich wieder der Tür zu, auf welche die Lampe seinen Schatten malte, und trat durchs Dunkel.
 
Zu Hause in seinem Zimmer zog Mattim sich um. Er war versucht, sich vorsichtig zu bewegen. Die Wunden waren bereit zu schmerzen und sich jedes Mal, wenn Stoff über die Naht rieb, in einem Feuerwerk zu entladen. Die alte Gewohnheit eines atmenden, schwitzenden, leidenden Körpers wollte ihn dazu bringen, sich zu schonen, sich selbst so behutsam zu behandeln, als wäre sein Leib ein Kind, das man pflegen und verhätscheln musste.
Hannas Blut in einem Becher, randvoll …
Warum hatte Atschorek das verlangt? Er hatte Hanna Kununs Willkür überstellt, für einen fürchterlichen Moment, in dem er fürchten musste, einen schrecklichen Fehler begangen zu haben. Was wollten seine Geschwister denn noch?
Vor dem Spiegel überzeugte Mattim sich davon, dass er wieder respektabel aussah. So konnte er sich in Magyria zeigen. Niemand würde schreiend wegrennen. Er kämmte sich mit den Fingern durchs Haar und beugte sich vor, bis seine Nasenspitze fast das Glas berührte. Dieses Gesicht, so vertraut und doch so fremd … Das Gesicht eines Schattens. Prinz des Lichts.
Ein Klopfen an der Tür ließ ihn zusammenschrecken, sodass er beinahe mit der Nase gegen den Spiegel stieß. Als er aufmachte, erwartete er, Kunun vor sich zu sehen, einen wütenden Kunun, der genau wusste, was er noch heute tun würde. Aber es war nicht sein Bruder, sondern Goran.
»Ja?«, fragte er vorsichtig.
Sie warf die blonde Lockenpracht zurück und grinste. »Deine Kleine geht draußen vorm Haus auf und ab. Sollen wir sie reinlassen?«
Hanna war da? Das Glück wallte in Mattim auf, und mit dem Glück kam die Sorge, sie könnte vorbeigekommen sein, um ihm etwas mitzuteilen. Etwas, das es vielleicht unmöglich machte, jetzt nach Magyria zu gehen. Noch eine andere Angst gesellte sich dazu: Wie konnte er seine Liebste überhaupt in die Nähe der anderen Vampire lassen, nach allem, was Atschorek gesagt hatte?
»Ich komme mit nach unten«, sagte er.
»Ich kann sie auch zu dir hochschicken«, schlug Goran freundlich vor. »Du bist kein Türöffner hier, Prinz Mattim.«
Was wird Kunun dazu sagen? Er unterdrückte die Frage, die ihm auf der Zunge lag. Bis jetzt hatte er nicht darüber nachgedacht, was Kunun in dieser Nacht getan hatte: Er hatte ihm Macht gegeben. In diesem Haus. Über die Schatten. Keiner würde ihn schief ansehen, wenn er Hanna mit in seine Wohnung nahm. Jetzt nach draußen zu stürmen, würde vielleicht genau das falsche Bild abgeben, nicht das eines souveränen Prinzen, der seinen Platz gefunden hatte.
»Ja«, sagte er. »Bring sie zu mir.«
Goran nickte. Wenig später kam sie mit Hanna im Fahrstuhl herauf. »Dein Besuch, Prinz Mattim.«
Hanna lachte. »Wie in einem Schloss geht das hier zu.«
Er nickte Goran dankend zu. Doch sobald er die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, wurde er ernst. »Was tust du hier? Es wäre mir lieber, wenn du nicht hierherkommen würdest.«
Ein Becher mit Hannas Blut …
»Ich weiß, dass du heute rüberwillst«, sagte sie. »Aber du brauchst jemanden auf dieser Seite. Jemanden, der dafür sorgt, dass du Kunun nicht geradewegs in die Arme läufst, wenn du zurückkehrst. Mattim, ich hab dir ein Handy besorgt. Lass es unten im Keller, verstecke es dort irgendwo. Sobald du durch die Pforte zurückkommst, rufst du mich hier oben an. Ich werde dir sagen, ob die Luft rein ist, und den Fahrstuhl zu dir nach unten schicken.«
Er schaute in ihr Gesicht. Es war ein Anblick, von dem man trinken konnte, der ihm Kraft gab, immer wieder.
»Ich weiß genau, worum es geht«, sagte Hanna leise. »Geh nur. Bereite alles vor. Sprich mit deinen Eltern. Wenn du wiederkommst, werde ich hier sein.«
»Kunun hat die Eigenschaft, stets in den unpassendsten Momenten aufzutauchen«, meinte er.
»Eben.« Sie nickte ihm zu. »Lass die Schatten glauben, wir wären zusammen hier. Sie werden es ihm sagen, und er wird keinen Verdacht schöpfen.«
»Aber ich kann dich unmöglich hier lassen.« Es rührte ihn zutiefst, dass sie sich so viele Gedanken gemacht hatte, dass sie hergekommen war, um ihm zu helfen. »Wie könnte ich dich in diesem Haus allein lassen?«
»Prinz Mattim«, flüsterte sie. »Gerade eben hatte ich den Eindruck, das zählt hier etwas. Ich wurde zu dir geführt, als wäre das hier dein Palast. Nicht nur Kununs, sondern auch deiner. Niemand wird mir etwas antun. Nicht, solange sie glauben, dass du auf der Seite deines Bruders stehst. Also lass mich dir dabei helfen, sie in diesem Glauben zu lassen.«
Der Junge verzog gequält das Gesicht. Er wollte das nicht. Das konnte er nicht zulassen. In diesem Haus wäre sie immer in Gefahr … Aber Hanna hatte Recht. Er durfte nicht riskieren, Kunun in die Arme zu laufen und dessen Wut zu entfesseln. Außerdem sah Hanna ganz und gar nicht danach aus, als würde sie von ihrem Plan abzubringen sein.
»Na gut.«
Das Mädchen strahlte und verschränkte die Hände hinter seinem Nacken. Auf einmal kam es ihm sehr schwierig vor, überhaupt irgendwohin zu gehen. So verlockend war die Möglichkeit, einfach hierzubleiben. Nur noch ein Kuss … nur noch ein bisschen mehr …
Schließlich löste sich Hanna aus seiner Umarmung.
»Geh«, sagte sie. »Am besten jetzt gleich.« Sie lachte leise. Aber ihren Augen sah er an, dass sie genauso gut hätte weinen können. Sie bemühte sich, es nicht zu zeigen, und auf einmal fürchtete er sich vor dem, was er sich vorgenommen hatte. Sie beide wussten, es war gut möglich, dass Hanna hier umsonst wachte. Dass das Telefon nicht läutete, um ihr seine Rückkehr anzukündigen.
Noch einmal berührte er ganz sacht ihre Lippen. »Bis bald. Versprochen.«
Im Flur war keiner der anderen Schatten zu sehen. Der Prinz blickte über den Hof hinweg zu den anderen Stockwerken. Der Fahrstuhl wartete immer noch auf ihn. So viel Glas. Man wusste nie, von wem man beobachtet wurde. Nie konnte man sicher sein, wie viele Augen aus verborgenen Winkeln spähten. Die Luft schien rein; absolute Sicherheit gab es nicht.
Eins Fünf Null Zwei.
Die dunkelblauen Gitter glitten an ihm vorbei, als der Lift hinunter in die Tiefe sank.
Magyria 01 - Das Herz des Schattens
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