ZWEIUNDDREISSIG
BUDAPEST, UNGARN
»Ach«, sagte Mónika kühl. »Auch schon wieder
da?«
Sie war gerade dabei, Attila in die Jacke zu
helfen.
»Hanna!« Der Junge strahlte übers ganze Gesicht.
»Ich hab ohne dich gefrühstückt! Ich muss jetzt los, sonst komme
ich zu spät.«
»Hallo, Attila! - Ich kann ihn in die Schule
bringen, ich …«
»Ich fahre jetzt.« Mónika musterte das
Au-pair-Mädchen kurz von oben bis unten. »Wir sprechen uns
später.«
Hanna seufzte, als ihre Gastmutter mit Nachdruck
die Tür zuschlug. Sie spähte aus dem Fenster und beobachtete, wie
Mónika den Golf rückwärts aus der Auffahrt setzte. Etwas Kleines,
Helles bewegte sich hinter der Autoscheibe; Attila winkte ihr
zu.
Sie wartete noch einen Moment, dann öffnete sie das
Tor und ließ Mattim herein.
Auch er strahlte. Hatten alle glücklichen Jungen so
ein Lächeln? Ausgelassen fasste er sie um die Taille und tanzte mit
ihr durch den Flur bis ins Wohnzimmer. Er sah tatsächlich aus wie
Attila, genauso jung, als wäre er sieben oder acht, in einem Alter,
in dem das Glück des Augenblicks sich noch nicht von Sorgen stören
ließ. Hanna sagte ihm nicht, dass die Szigethys sie jetzt
wahrscheinlich nach Hause schicken würden.
»Kommt heute die Putzfrau?«, fragte er.
Sie konnte sich nicht daran erinnern, welcher
Wochentag war. »Ist heute Dienstag? Nein, Donnerstag, oder?« Hanna
fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Es fühlte sich so fremd an
wie dieses Zimmer, wie dieses Haus. Vielleicht wohnte sie hier
schon gar nicht mehr, so abweisend wie Mónika sich verhalten
hatte.
»Ich muss duschen. Du weißt nicht zufällig, wie man
Kaffee kocht?«
»Ich könnte dir beim Duschen helfen.« Er grinste
verwegen und streckte die Hand aus, um ihr Haar zu berühren, wie er
es so gerne tat. Die rechte Hand.
Die dunkel war von getrocknetem Blut.
»Das sieht fürchterlich aus. Tut es denn gar nicht
weh?«
Sie merkte, dass Mattim den Blick nur ungern von
ihr zu seiner Verletzung hin zwang. Der Schnitt, den Atschorek ihm
beigebracht hatte, war tief. Hanna schalt sich, dass sie gar nicht
mehr daran gedacht hatte, wie oft die Rothaarige ihren Bruder mit
ihrem fürchterlichen Schwert getroffen hatte.
»Das musst du waschen. Deine Klamotten haben auch
etwas abbekommen … Und deine Arme! Was ist mit denen? Zeig mal, wie
schlimm …«
»Nein, Hanna, lass nur«, unterbrach er sie. Er trat
ein paar Schritte von ihr fort. »Ich will nicht, dass du das
siehst.«
»Aber«, begann sie, »ich kann dir helfen, ich
…«
»Nein«, widersprach er. »Nicht du. Ich muss zu
ihnen gehen.«
»So darfst du unmöglich durch die ganze Stadt
fahren! Wenn das jemandem auffällt, ruft er den Krankenwagen, oder
die Polizei. Du kannst doch hier bei mir warten. Ich besorge dir
etwas anders zum Anziehen. Es gibt bestimmt irgendwo einen
Verbandskasten.«
Mattim schüttelte den Kopf. »Ich geh rüber zu
Atschorek. Aber das hat Zeit. Ich kann nicht verbluten, und es tut
auch nicht weh. Geh du nur duschen, ich werde schon nicht
verschwinden.«
Er fragte nicht noch einmal, ob er mitkommen
durfte.
Wunden, die nicht heilen würden … Hanna schauderte, und doch
wünschte sie sich mehr als alles, dass er sie auch daran teilhaben
ließ.
Das heiße Wasser vertrieb die Müdigkeit aus ihrem
Körper. Hier, unter der Dusche, beim Genuss der Annehmlichkeiten
der Zivilisation, war es kaum zu glauben, dass die Ereignisse der
Nacht wirklich stattgefunden hatten. Kaum zu glauben, dass …
Hanna schrie unwillkürlich auf, als sie ein Gesicht
durch die beschlagene Scheibe der Duschkabine spähen sah.
»Mattim! Hast du mich erschreckt!«
»Nun ja … Tut mir leid. Mehr oder weniger.«
»Ich hatte abgeschlossen!«
»Tja, und ich kann durch Wände gehen.«
Schuldbewusst wirkte er nicht gerade. Dafür reichte
er ihr ein Handtuch. Seine Hände waren wieder sauber, doch ihr fiel
auf, dass er die Linke benutzte. Und er ließ sich hinausscheuchen,
damit sie sich in Ruhe abtrocknen und umziehen konnte.
Als Hanna wenig später in die Küche kam, fand sie
Mattim beim Kampf mit der Kaffeemaschine vor. »Hier kommt das
Wasser rein, das habe ich doch richtig gemacht? Und dort das
Pulver. Ich dachte, ich überrasche dich mit einer fertigen Tasse
Kaffee, aber irgendetwas stimmt hier nicht.«
»Der Stecker ist nicht drin, den zieht Attila immer
raus. Ach, und du hast die Filtertüte vergessen.« Sie blickte an
ihm vorbei, während sie das Kaffeepulver mit einem Löffel wieder
herausschabte.
»Ich wollte nur nachsehen, warum es so lange
dauert. Wenn du dabei gewesen wärst, in der Badewanne zu ertrinken,
hätte ich dich retten können.«
»Du hättest auch klopfen und fragen können, ob
alles in Ordnung ist!«
»Hab ich, aber du hast mich nicht gehört.« Er
grinste an ihr vorbei, zur Wand hin. »Bist du sehr böse?«
Sie kämpfte die Röte nieder, die ihr ins Gesicht
steigen wollten. Die Kaffeemaschine röchelte erschrocken, als sie
eingeschaltet wurde, was in dieser Situation wenig hilfreich war.
»Gleiches Recht für alle.«
Das Lächeln verschwand von seinen Lippen. »Das
willst du nicht.«
»Doch«, widersprach sie. »Zeig es mir,
Mattim.«
Sie dachte, er würde wieder protestieren. Doch er
sah sie nur an, mit ruhigen grauen Augen, und wieder kam er ihr
viel älter vor, alt wie das Licht selbst.
Langsam schälte der Junge sich aus seinem
Hemd.
Hanna schlug die Hand vor den Mund. »Oh
Gott.«
Mattims Lächeln wirkte gequält. »Ich bin sicher,
Atschorek hätte gerne weitergemacht.«
Die Schnitte in seinen Oberarmen waren wie tiefe
Kerben im Fleisch. Seine Schwester hatte ihn öfter getroffen, als
Hanna überhaupt mitbekommen hatte. Und die Wunde in seiner Seite
wäre vielleicht sogar tödlich gewesen, ein klaffendes Loch auf der
Höhe des Nabels.
»Ist es nicht merkwürdig«, sagte Mattim leise. »Das
zu sehen und sich daran zu erinnern, wer ich bin … Manchmal
vergesse ich es fast selbst. Vielleicht wollte ich dir die Wunden
nicht zeigen, weil ich hoffe, dass du es auch vergisst. Wenigstens
hin und wieder, zwischendurch … Aber das bin ich, Hanna. Und es
wird nicht heilen. Ein toter Körper voll blutiger Wunden.«
Sie legte die Hände auf seine Schultern und
streichelte sanft über seine Haut. Ihre Finger malten Muster um die
Schnitte und Stiche herum, als wollte sie schwarze Ornamente auf
eine weiße Wand zeichnen. Mattim schauderte unter den Berührungen,
aber er hielt still. Langsam ging sie um ihn herum. Dort hatte die
Wölfin die Spuren ihrer Krallen hinterlassen, blasse Streifen auf
seinem Rücken. Sie küsste beide Schulterblätter. Doch nur die
Kaffeemaschine stöhnte auf.
»Tu das nicht«, flüsterte er. »Du hast keine
Ahnung, wie intensiv ich das empfinde.«
»Musst du los, um Akink zu retten? Jetzt?«
»Heute Abend. Ich will die Nachtpatrouille
treffen.«
Während sie sich leise unterhielten, hörten ihre
Hände nicht auf. Jede Stelle, jeden Quadratzentimeter Haut wollte
sie anfassen, wollte sie küssen. Jede Wunde, jede Narbe, als könnte
sie diese damit heilen und schließen.
»Du bist nicht tot«, sagte Hanna. »Was immer sie
dir auch gesagt haben, was mit dir geschehen ist, tot bist du nicht
… nur verwandelt. Du musst dich an merkwürdige Regeln halten, um
gegen das Licht zu bestehen, aber nenn dich nie wieder tot. Du bist
genauso lebendig wie ich.«
»Dann hast du also gar keine Angst?«
»Vor dir?« Sie lachte leise. »Wo hat der Wolf dich
gebissen? Ich habe nichts gefunden.«
»Tiefer.«
»Ungefähr da?«
Die Kaffeemaschine hatte aufgehört zu gurgeln. Der
Duft erfüllte die Küche.
Später würde er auch noch heiß sein, der
Kaffee.
»Du hast mir immer noch nicht gesagt, wie du Akink
retten willst.«
Die beiden lagen auf dem Sofa, eng
aneinandergeschmiegt. Auf dem Tisch stapelten sich Tassen und
vollgekrümelte Teller. Das Ticken der Standuhr fiel Mattim auf
einmal auf, das unerbittliche Fortschreiten der Zeit.
»Licht heilt die Wunden«, sagte er.
»Das ist alles? Licht heilt die Wunden?«
»Das hat er mir schon damals gesagt. Als ich ihn
angegriffen habe, nach der Situation im Fahrstuhl … In Akink wird
es heilen. Daran glaubt er.«
»Glaubst du es denn auch?« Hanna stützte sich auf
einen Ellbogen und sah ihm ins Gesicht, forschend.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht kann das Licht eine
Wunde schließen, vielleicht würde es noch tiefere Wunden in mich
brennen … ich habe mitbekommen, was mit den Schatten in meiner Nähe
geschah.« Er sah Morrit vor sich. Ein Bild, das sich nicht
auslöschen ließ. Morrit, der auf ihn zugekrochen kam, um durch sein
Licht zu sterben …
»Können wir uns noch einmal anhören, was Kunun zu
Réka gesagt hat?«
Hanna blinzelte schläfrig, trotzdem rappelte sie
sich auf. Mattim folgte ihr die Treppe hinauf in ihr Zimmer
»Soll ich dir die Worte aufschreiben?«, fragte sie.
»Wenn du mir genau sagst, welche Stelle wichtig ist?«
»Nur die letzten Sätze«, sagte er. »Und nein,
schreib es nicht auf. Jemand könnte es finden … Da, das ist
es.«
Zum zweiten Mal hörten sie Kunun sagen: »Er macht
sich also Sorgen, die Pforte könnte mir eines Tages verschlossen
sein? Ein Riss in der Welt, geöffnet von der Klaue der Dunkelheit?
Der Kleine sollte sich über ganz andere Dinge Sorgen machen.«
»Die Pforte«, sagte Mattim. »Ein Riss, von der
Dunkelheit geöffnet. Eine Wunde in der Wirklichkeit. Dunkelheit
zerreißt, Licht heilt die Wunden. Als mein Bruder das sagte, heute
Nacht, da habe ich es endlich begriffen. Das Licht wird die losen
Enden wieder zusammenfügen. Die Wunde heilen oder verschmelzen - in
diesem Fall ist es dasselbe. Allein das Licht vermag die Pforte zu
schließen, nichts sonst. Kunun hat es nicht nur Réka gesagt,
sondern auch mir. Ich hatte Recht, er muss darüber reden, und er
tut es ständig. Ich hätte besser zuhören sollen.«
»Das Licht«, sagte Hanna nachdenklich. »Nur -
wie?«
»Wenn ich es bloß könnte«, murmelte Mattim, und
wieder wog es so schwer, was er nicht mehr war, vielleicht schwerer
als jemals zuvor. »Wenn mein Vater Morrit zu den Schatten geschickt
hätte, dann hätte ich nicht gehen müssen. Morrit hätte mir gesagt,
was nötig ist. Daraufhin wäre
ich losgegangen und hätte es getan. Aber manchmal geht das
Schicksal andere Wege, verschlungener und gefährlicher … Einer von
ihnen muss kommen, Hanna. Mein Vater oder meine Mutter, in die
Höhle, bis zu Kununs Pforte. Wenn die Schatten auf ihren nächsten
Jagdausflug gehen, wird keiner von ihnen zurückkehren. Denn das
Licht wird den Zugang zusammenschweißen, so dass niemand mehr
hindurchgelangen kann.«
»So einfach«, sagte Hanna verwundert.
Er lachte unfroh. »Einfach? Den König des Lichts
dazu zu bringen, Akink zu verlassen und mir in eine dunkle Höhle zu
folgen? Du kennst meinen Vater nicht. Das wird er niemals tun. Aber
vielleicht kann ich meine Mutter dazu bewegen. Nun, ich werde
sehen, was sich machen lässt.«
»Was, wenn sie dir nicht glauben …«
»Ich weiß«, sagte er und dachte wieder an Morrit.
An das Feuer, das vor seinen Augen tanzte, wild und
verzehrend.
»Du hast eine gefährliche Familie«, sagte Hanna
ernst.
»Nun ja«, erwiderte er leichthin, »wer hat die
nicht?«
»Halt still.« Atschoreks Hände auf seiner Haut.
»Du hättest gleich kommen sollen. Wo treibst du dich nur so lange
herum? Bei deiner Kleinen? Und, hat es sich wenigstens
gelohnt?«
»Au!«
»Es muss nicht wehtun, wenn du es nicht zulässt.
Stell dich nicht so an.«
Seine Schwester jagte ihm die Nadel durch die Haut.
Seine Hand hatte sie schon genäht, mit feinen Stichen, ohne mit der
Wimper zu zucken. Kaum war er zur Tür herein, hatte sie ihn ins
Badezimmer geschleift, ihm das Hemd ausgezogen und sich den Schaden
angesehen, den sie angerichtet hatte.
Mattim konnte sich eine bissige Bemerkung nicht
verkneifen.«Du hättest gerne weitergemacht, stimmt’s? Wenn Kunun
dich gelassen hätte.«
»Und du hättest mich nicht schonen dürfen.« Eine
steile Falte zwischen Atschoreks Augenbrauen verriet ihren Zorn.
»Alle haben es gemerkt.«
»Ist das denn so schlimm? Du wusstest, dass ich
ganz gut bin. Sonst wäre ich nicht in der Nachtwache.«
»Du bist nicht mehr in der Nachtwache.« Grimmig
bohrte sie die Nadel in seine Schulter.
Er lachte, ein Lachen so leicht wie eine schwebende
Feder. So leicht, wie er sich fühlte. Nicht einmal mit ihrer
spitzen Nadel und ihrer noch spitzeren Zunge konnte Atschorek ihn
von seinem Höhenflug herunterholen. »Du bist allerdings auch nicht
schlecht. Zusammen könnten wir die Brücke erobern und Akink im
Sturm einnehmen.«
»Redet man immer noch davon?« Atschorek runzelte
die Stirn, doch er merkte, dass sie geschmeichelt war, wenn auch
gegen ihren Willen.
»Wie du über die Brücke gestürmt bist?« Nur ein
alter Mann, wispernd vor den Bildern, den verbotenen, erinnerte
sich noch an die alten Geschichten. Aber er wollte sie nicht
kränken. »Ich habe mich gefragt, wie du wohl bist«, sagte er. »Ein
Mädchen, das so etwas fertigbringt … Hast du Kunun nicht gehasst
dafür, dass er dir die Wölfe auf den Hals gehetzt hat?«
»Kunun hassen? Er ist mein Bruder.« Atschoreks
Blick, unergründlich. »Er glaubt, du wärst jetzt auf seiner Seite.
Er sieht dich schon neben sich auf dem Thron. Lass dir eines gesagt
sein, Mattim, ich traue dir nicht. Da kannst du noch so oft auf die
Knie fallen.«
Der junge Prinz schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich
muss dir nichts beweisen«, sagte er. »Wenn es Kunun genügt, was ich
ihm anbiete, muss es auch dir genügen.«
»Wenn du mir einen Becher bringst, randvoll gefüllt
mit Hannas Blut, dann glaube ich dir«, sagte Atschorek. »Und
zwar nur dann.« Sie legte das Nähzeug zur Seite und betrachtete
ihn.
Mattim lächelte nicht mehr. »Niemals!«
»Dann«, Atschorek beugte sich vor, »ist deine
angebliche Kapitulation nichts wert. Gar nichts. Denn genau das
brauchen wir.«
»Hannas Blut?« Mattim stand auf. Um Atschorek nicht
anzugreifen, sie weder anzuschreien noch ihr in das kühl lächelnde
Gesicht zu schlagen, griff er betont langsam nach seinem Hemd.
Unter ihrem verächtlichen Blick knöpfte er es sorgsam zu.
»Vielleicht ist es dir tatsächlich unmöglich, Kunun
zu hassen«, sagte er, »immerhin ist er dein Bruder. Aber vergiss
nicht, ich bin auch dein Bruder.« Er stand schon an der Tür, die
Hand an der Klinke, als er sich noch einmal umwandte.
Seine Schwester saß immer noch auf dem weißen
Ledersofa, und vielleicht zum ersten Mal kam sie ihm nicht wie eine
selbstbewusste Schönheit vor, sondern wie ein verlorenes Mädchen,
ein schwacher Abglanz der Prinzessin des Lichts, die sie einmal
gewesen war.
»Zu mir hat er gesagt, dass ich an seiner Seite
herrschen werde«, sagte Mattim. »Zu mir hat er gesagt, dass ich ihm
den Sieg bringen werde. Kann es sein, dass du schlicht und
ergreifend eifersüchtig bist?«
Damit wandte der Prinz sich wieder der Tür zu, auf
welche die Lampe seinen Schatten malte, und trat durchs
Dunkel.
Zu Hause in seinem Zimmer zog Mattim sich um. Er
war versucht, sich vorsichtig zu bewegen. Die Wunden waren bereit
zu schmerzen und sich jedes Mal, wenn Stoff über die Naht rieb, in
einem Feuerwerk zu entladen. Die alte Gewohnheit eines atmenden,
schwitzenden, leidenden Körpers wollte ihn dazu bringen, sich zu
schonen, sich selbst
so behutsam zu behandeln, als wäre sein Leib ein Kind, das man
pflegen und verhätscheln musste.
Hannas Blut in einem Becher, randvoll …
Warum hatte Atschorek das verlangt? Er hatte Hanna
Kununs Willkür überstellt, für einen fürchterlichen Moment, in dem
er fürchten musste, einen schrecklichen Fehler begangen zu haben.
Was wollten seine Geschwister denn noch?
Vor dem Spiegel überzeugte Mattim sich davon, dass
er wieder respektabel aussah. So konnte er sich in Magyria zeigen.
Niemand würde schreiend wegrennen. Er kämmte sich mit den Fingern
durchs Haar und beugte sich vor, bis seine Nasenspitze fast das
Glas berührte. Dieses Gesicht, so vertraut und doch so fremd … Das
Gesicht eines Schattens. Prinz des Lichts.
Ein Klopfen an der Tür ließ ihn zusammenschrecken,
sodass er beinahe mit der Nase gegen den Spiegel stieß. Als er
aufmachte, erwartete er, Kunun vor sich zu sehen, einen wütenden
Kunun, der genau wusste, was er noch heute tun würde. Aber es war
nicht sein Bruder, sondern Goran.
»Ja?«, fragte er vorsichtig.
Sie warf die blonde Lockenpracht zurück und
grinste. »Deine Kleine geht draußen vorm Haus auf und ab. Sollen
wir sie reinlassen?«
Hanna war da? Das Glück wallte in Mattim auf, und
mit dem Glück kam die Sorge, sie könnte vorbeigekommen sein, um ihm
etwas mitzuteilen. Etwas, das es vielleicht unmöglich machte, jetzt
nach Magyria zu gehen. Noch eine andere Angst gesellte sich dazu:
Wie konnte er seine Liebste überhaupt in die Nähe der anderen
Vampire lassen, nach allem, was Atschorek gesagt hatte?
»Ich komme mit nach unten«, sagte er.
»Ich kann sie auch zu dir hochschicken«, schlug
Goran freundlich vor. »Du bist kein Türöffner hier, Prinz
Mattim.«
Was wird Kunun dazu sagen? Er unterdrückte
die Frage,
die ihm auf der Zunge lag. Bis jetzt hatte er nicht darüber
nachgedacht, was Kunun in dieser Nacht getan hatte: Er hatte ihm
Macht gegeben. In diesem Haus. Über die Schatten. Keiner würde ihn
schief ansehen, wenn er Hanna mit in seine Wohnung nahm. Jetzt nach
draußen zu stürmen, würde vielleicht genau das falsche Bild
abgeben, nicht das eines souveränen Prinzen, der seinen Platz
gefunden hatte.
»Ja«, sagte er. »Bring sie zu mir.«
Goran nickte. Wenig später kam sie mit Hanna im
Fahrstuhl herauf. »Dein Besuch, Prinz Mattim.«
Hanna lachte. »Wie in einem Schloss geht das hier
zu.«
Er nickte Goran dankend zu. Doch sobald er die Tür
hinter ihnen geschlossen hatte, wurde er ernst. »Was tust du hier?
Es wäre mir lieber, wenn du nicht hierherkommen würdest.«
Ein Becher mit Hannas Blut …
»Ich weiß, dass du heute rüberwillst«, sagte
sie. »Aber du brauchst jemanden auf dieser Seite. Jemanden, der
dafür sorgt, dass du Kunun nicht geradewegs in die Arme läufst,
wenn du zurückkehrst. Mattim, ich hab dir ein Handy besorgt. Lass
es unten im Keller, verstecke es dort irgendwo. Sobald du durch die
Pforte zurückkommst, rufst du mich hier oben an. Ich werde dir
sagen, ob die Luft rein ist, und den Fahrstuhl zu dir nach unten
schicken.«
Er schaute in ihr Gesicht. Es war ein Anblick, von
dem man trinken konnte, der ihm Kraft gab, immer wieder.
»Ich weiß genau, worum es geht«, sagte Hanna leise.
»Geh nur. Bereite alles vor. Sprich mit deinen Eltern. Wenn du
wiederkommst, werde ich hier sein.«
»Kunun hat die Eigenschaft, stets in den
unpassendsten Momenten aufzutauchen«, meinte er.
»Eben.« Sie nickte ihm zu. »Lass die Schatten
glauben, wir wären zusammen hier. Sie werden es ihm sagen, und er
wird keinen Verdacht schöpfen.«
»Aber ich kann dich unmöglich hier lassen.« Es
rührte
ihn zutiefst, dass sie sich so viele Gedanken gemacht hatte, dass
sie hergekommen war, um ihm zu helfen. »Wie könnte ich dich in
diesem Haus allein lassen?«
»Prinz Mattim«, flüsterte sie. »Gerade eben hatte
ich den Eindruck, das zählt hier etwas. Ich wurde zu dir geführt,
als wäre das hier dein Palast. Nicht nur Kununs, sondern auch
deiner. Niemand wird mir etwas antun. Nicht, solange sie glauben,
dass du auf der Seite deines Bruders stehst. Also lass mich dir
dabei helfen, sie in diesem Glauben zu lassen.«
Der Junge verzog gequält das Gesicht. Er wollte das
nicht. Das konnte er nicht zulassen. In diesem Haus wäre sie immer
in Gefahr … Aber Hanna hatte Recht. Er durfte nicht riskieren,
Kunun in die Arme zu laufen und dessen Wut zu entfesseln. Außerdem
sah Hanna ganz und gar nicht danach aus, als würde sie von ihrem
Plan abzubringen sein.
»Na gut.«
Das Mädchen strahlte und verschränkte die Hände
hinter seinem Nacken. Auf einmal kam es ihm sehr schwierig vor,
überhaupt irgendwohin zu gehen. So verlockend war die Möglichkeit,
einfach hierzubleiben. Nur noch ein Kuss … nur noch ein bisschen
mehr …
Schließlich löste sich Hanna aus seiner
Umarmung.
»Geh«, sagte sie. »Am besten jetzt gleich.« Sie
lachte leise. Aber ihren Augen sah er an, dass sie genauso gut
hätte weinen können. Sie bemühte sich, es nicht zu zeigen, und auf
einmal fürchtete er sich vor dem, was er sich vorgenommen hatte.
Sie beide wussten, es war gut möglich, dass Hanna hier umsonst
wachte. Dass das Telefon nicht läutete, um ihr seine Rückkehr
anzukündigen.
Noch einmal berührte er ganz sacht ihre Lippen.
»Bis bald. Versprochen.«
Im Flur war keiner der anderen Schatten zu sehen.
Der Prinz blickte über den Hof hinweg zu den anderen Stockwerken.
Der Fahrstuhl wartete immer noch auf ihn. So viel Glas. Man wusste
nie, von wem man beobachtet wurde. Nie konnte man sicher sein, wie
viele Augen aus verborgenen Winkeln spähten. Die Luft schien rein;
absolute Sicherheit gab es nicht.
Eins Fünf Null Zwei.
Die dunkelblauen Gitter glitten an ihm vorbei, als
der Lift hinunter in die Tiefe sank.