Das Träumende Universum


So will ich dir heute Abend eine Geschichte erzählen, mein Sohn, wie alles entstand, und was daraus wurde. Ich werde manches singen, denn verwoben ist alles in Melodie, und ich bin der Barde des Traums. Du, mein Sohn, wirst dereinst mein Nachfolger sein. Alle Lieder will ich dich lehren, damit das Wissen nicht verloren geht. Eine große und ernste Aufgabe harrt deiner. Begegne ihr deshalb angemessen ehrfürchtig. 

Nun komm her in meinen Arm und lausche ...

(Aus der Legende des Grünen Sängers, vom Sohn des Barden selbst erzählt, aufgezeichnet von Schlangenherz, Große Bibliothek von Darkal, 3. Ausgabe der Chroniken über den Meister der Mächte)



Ishtru ist DER TRÄUMER, der Schöpfer unseres Universums.

Als der Traum einst begann, war noch nichts da außer Leere und Dunkelheit, doch bald entstanden die Ersten:

Die ERSTEN GEDANKEN – Erenatar, der Lebensbringer, und Ishtrus Feueratem, Schöpfer der Sonnen und Vulkane.

Nur wenig später entstand die EINHEIT, Harmonie und Gleichgewicht.

Dann folgten die Mächtigen: Drachen, Götter, das Erste Volk der Sterblichen, die Sternenkinder, die Unsterblichen und die Gründer der Ersten Menschheit.

Und schließlich, als das All bewohnbar war, entstand das gesamte weltliche Leben durch göttliche Schöpfung und Verbreitung des Lebenssamens: Die Zweite Menschheit, die Zwerge, vielfältige Völker, Pflanzen und Tiere.


Eine lange Zeit hindurch war der Traum beherrscht von Frieden und Harmonie. Durch das ganze All drang wundervoller Gesang, und die Weltenmelodien befanden sich im Einklang. Dies waren Töne, mein Sohn, die wir nur noch in schwacher Erinnerung hervorbringen können. Kein Vergleich zu damals, doch wir müssen uns deswegen nicht schämen, denn selbst eine schwache Erinnerung bewahrt vor dem Vergessen.

Immer neue Welten entstanden und wurden belebt, und die ersten Sternenkinder gingen auf Reisen. Die Weltentore der bewohnten Welten waren dauerhaft geöffnet und konnten jederzeit von jedem durchschritten werden. 

Erenatar überwachte als gütige Macht die Entwicklung des Lebens. Ishtrus Feueratem aber wandelte sich in seiner wahren Bestimmung zur Schlafenden Schlange, zum Wächter über den Traum.


Alles war Eins, mein Sohn, und zwar wahrhaftig. Bis zu dem unvorstellbaren Moment, an dem die EINHEIT zerbrach. Es wurde getrennt, was man für untrennbar hielt! Die GETEILTEN waren verzweifelt und wollten wieder zusammenkommen. Jeder fühlte sich ohne den anderen leer, verlassen, ängstlich. Doch als sie einander zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht erblickten, erlitten sie einen Schock, weil sie überhaupt nicht so waren, wie sie sich bisher gegenseitig empfunden hatten. Sie waren sich fremd und konnten einander nicht mehr verstehen. Voneinander abgestoßen entfernten sie sich immer weiter. Aus Harmonie wurde Regenbogen, Finsternis aus Gleichgewicht, zwei mächtige Wolkenmeere hinter der Sternensee, nahezu im Zentrum des Träumenden Universums.


Diese gewaltige Erschütterung im Gefüge schuf Dissonanzen in der Großen Melodie. Sie zerfiel in Millionen Fragmente. Die Weltenverbindungen brachen zusammen, manche Tore schlossen sich gar für immer. Von nun an konnten nur noch Mächtige die verbliebenen Tore öffnen. Die vorher so eng miteinander verbundenen Welten waren für alle Zeit voneinander abgeschnitten, und nur noch die Erinnerung blieb ihnen.

Und da regte sich die Schlafende Schlange zum ersten Mal, und einige wenige der Ersten begriffen, dass das Fortbestehen des Traums an sich gefährdet war. Sie suchten nach einem Ausweg, die Schlange aufzuhalten und den Traum zu bewahren.

Gleichzeitig wollten die übrigen Mächtigen das Gleichgewicht wiederherstellen. Die einen Mächte stellten sich auf die Seite des Regenbogens, die anderen auf die der Finsternis. Dies noch in bester Absicht, um ein Gleichgewicht bei den Verhandlungen zu bewahren und, auf beide Seiten gerecht aufgeteilt, nach Auswegen zu suchen, aus dem GETEILTEN wieder die EINHEIT zu machen.

Doch bald traten die ersten Uneinigkeiten auf. Alle wollten dasselbe, aber auf unterschiedliche Weise erreichen.

Manche Anhänger der Finsternis wandelten sich zu Dämonen und deren Schutzgötter und begannen mit einem eigenen Schöpfungswerk, um Bastionen zu schaffen, sollten die Meinungsverschiedenheiten unüberwindlich werden. Misstrauen entstand und breitete sich schnell aus. Es war die erste Seuche, die das Leben befiel, und sie konnte nie überwunden werden.


Und so begann der Ewige Krieg. Ein gewaltiger Sturm fegte durch das Träumende Universum und beschleunigte das Erwachen der Schlafenden Schlange. Das Ende schien unausweichlich.

Doch einige der Ersten, die noch nicht miteinander verfeindet waren, fanden eine Möglichkeit, ihre Kräfte zu bündeln und den Untergang abzuwenden. Der Wächter versank wieder im Schlaf.

Ja, es war knapp, mein Sohn. Doch dies ist eine andere Geschichte, die ich dir erzählen werde, wenn du älter bist. Hör zu, wie es weiterging.


Der Traum bestand weiter, doch der Preis war hoch. Einige der Ersten und Mächtigen, vor allem Götter, wurden für immer ihrer Existenz beraubt. Manche Welten, wichtige Bastionen von Regenbogen und Finsternis, waren verschwunden. Die einstmals Große Melodie hatte viele Töne verloren. An einigen Orten herrscht bis heute Schweigen. 

Die Erinnerungen an den Ersten Traum und den gerade noch abgewendeten Untergang verblassten nach dem Willen der Überlebenden, nur wenige wissen heute noch davon. 


Aber der Ewige Krieg dauert immer noch an. Es gibt eine Weissagung, dass der Zweite Traum sich deshalb seinem Ende nähert. 


Mögen wir alle rechtzeitig erkennen, wenn das Ende der Zeit naht, und den Traum bewahren.


Schlaf gut, mein Kind, und träume.