Kapitel 45

In Gandur


Zwei Tage später erreichte Rowarn Ganduria. Die Wanderung durch das weite Tal war angenehm gewesen; er fand Wasser, und auch seine Vorräte reichten noch aus. Nachts suchte er Schutz in den Felsen und blieb auch von Wildtieren unbehelligt, obwohl er sie durchaus hören konnte. Umhang und Decke waren warm genug, so konnte er auf Feuer verzichten und vermied unnötige Aufmerksamkeit. In der letzten Nacht regnete es wie aus offenen Schleusen, und Rowarn war froh über das schützende Felsendach über ihm. 

Am Morgen war auf einmal die Sonne da. Sie vergoldete das Tal mit strahlendem Schein, als wolle sie wegen der vergangenen trüben Tage alles wieder gut machen. Binnen weniger Stunden öffneten sich die ersten leuchtenden Blütenkelche. Das Tal dampfte, weithin glitzerten die Regentropfen an den kahlen Zweigen. Immer mehr Insekten erwachten, als es zusehends wärmer wurde, und schwirrten durch die Luft, verfolgt von hungrigen Vögeln, die viel Nahrung brauchten, um Kraft für den baldigen Hochzeitsgesang zu sammeln.

Im prächtigen, weichen Licht der Nachmittagssonne präsentierte sich schließlich die Residenzstadt der drei Zwergenvölker vor Rowarns staunendem Auge.

Ganduria war zwischen gewaltigen Felsen eingebettet und erstreckte sich nicht nur über eine gewaltige Bodenfläche, sondern ging auch in die Höhe, weit hinauf, teilweise mit schwindelerregenden Konstruktionen. Manche Häuser schienen wie das Nest eines Lehmvogels an die Felswände geklebt, andere Häuser standen auf Plattformen, die unten von Querverstrebungen mit langen Balken und oben mit dicken Ketten gehalten wurden. So wirkte es manchmal geradezu, als ob ein Haus über der Stadt in der Luft schwebte.

Die Häuser waren größtenteils aus verschiedenen Arten von Stein gebaut, teils schwarz, teils rötlich oder sogar grün. Manche Häuser waren trutzig, mit Mauern aus wuchtigen Quadern, andere elegant und mit zahllosen fein bearbeiteten Steinziegeln erbaut. Hier und dort gab es auch weiß verputzte Fachwerkhäuser, die besonders prächtige Dächer hatten, mit mehreren Abstufungen übereinander bis zur hoch aufragenden Spitze, an der immer die rote Fahne mit dem Wappen der Gandur wehte: der juwelenverzierte Weinpokal im schwarzen Kreis. Einige der Häuser waren vollständig mit bunten Mustern bemalt. Auch die Dächer waren unterschiedlich gestaltet, mal mit Schindeln, mal mit leuchtenden Ziegeln gedeckt. Die Form der Dächer reichte von rund bis geschwungen, nicht eines glich dem anderen. Allen Häusern war eines gemeinsam – ein prächtig gestalteter Eingang, selbst bei der kleinsten Hütte. Hoch und breit, mit kostbar geschnitzten Rahmen aus Stein oder Holz und in Stuck gearbeiteten Verzierungen, in die funkelnde Edelsteine eingearbeitet waren. Auch die Türen waren prachtvoll geschnitzt, bemalt und mit Edelsteinen besetzt. Die Fenster und Fensterläden waren nicht minder aufwändig gestaltet. Selbst die einfacheren Fenster waren edel, denn hier war das Glas der besondere Blickfang. Manche schillernd wie ein Insektenflügel, einige mit vielfarbigen Butzenscheiben, es gab unzählige Variationen. Dachrinnen, Hauskanten und Sockel waren oft nicht nur mit Kupfer eingefasst, sondern auch mit Gold und unterschiedlichen Silberlegierungen.

So viel Pracht und Reichtum auf einmal hatte der junge Mann noch nie gesehen. Allein mit dem Baumaterial dieser Stadt könnte man wahrscheinlich ganz Valia, wenn nicht noch mehr Reiche kaufen. Rowarn konnte es kaum fassen. Hier gab es sicher keine Armen; Ganduria war zweifelsohne eine der reichsten und vor allem auch schönsten Städte Valias, wenn nicht Waldsees, noch dazu an einem so wunderbaren Ort gelegen. Die bizarren Felsen ringsum erstrahlten in allen Farben, an den Hängen wuchsen Büsche, Laub- und Nadelbäume, auf vielen der Plateaus waren Felder angelegt. Und überall stürzten schmale Wasserfälle herab, deren sanftes Rauschen wie Musik in Rowarns Ohren klang. Das Wasser sammelte sich in zahllosen Bächen, die Ganduria wie ein feines Netz umgaben und durchzogen. 

Hell strahlend im späten Sonnenschein, bot sich Rowarn ein Anblick, den er so schnell nicht wieder vergessen würde. Staunend schlug er einen Trampelpfad zur dicht belebten Hauptstraße ein, die gewunden in Richtung Südosten verlief. Er wusste, dass er sofort auffallen würde, denn er sah nur Zwerge, die entweder zu Fuß oder mit stämmigen kleinen Pferden und Ochsenkarren unterwegs waren. Keiner von ihnen war besonders auffällig gekleidet, wenngleich die Stoffe von guter Qualität und farbenfroh waren. Wie bei den Zwergen üblich, trugen die Männer lange Bärte mit vielen Zöpfen und die Frauen aufwändige Frisuren. Zumeist waren sie dunkelhaarig und sehr stämmig, kleiner, aber kräftiger als die Ennish; ein knorriges Bergvolk. Vergnügt schwatzend bewegten sie sich auf der Straße entlang, grüßten höflich nach allen Seiten, Männer wie Frauen gleichermaßen. Ab und zu kam eine edel verzierte Kutsche vorüber, doch auf diese Weise wurde der Reichtum eher selten zur Schau gestellt. Rowarn fiel auf, dass so gut wie niemand Waffen trug, und es gab weder eine Stadtmauer noch ein Tor mit Wachen. Das war im übrigen Land Valia, selbst in Ennishgar, der Hauptstadt des gesamten Zwergenvolkes, völlig undenkbar, mit Ausnahme vielleicht von Madin in Inniu. Allerdings waren diese Städte auch sehr viel leichter zugänglich als Ganduria; das Land selbst bot natürlichen Schutz, schon auf dem Weg hierher, und die Stadt war bis auf die Zugangsstraße von trutzigen Felsen und Wasserläufen umringt. Selbst, wenn es ein Heer bis hierher schaffen sollte, wäre die einzige Straße nach Ganduria innerhalb weniger Stunden befestigt.

Weit voraus, bereits in den Fuß des ersten Gebirgsausläufers hineingeschlagen, sah Rowarn klotzige, finstere Gebäude, aus deren zahlreichen Kaminen schwarzer Qualm stieg.

Rowarn wusste nicht, ob ein Fremder an diesem abgeschiedenen Ort überhaupt willkommen war. Schüchtern betrat er die Straße und erwartete neugierige oder misstrauische Blicke, aber es beachtete ihn überhaupt niemand, und so ließ er sich mit dem Strom treiben.

Ehe er sich’s versah, war er schon in der Stadt, umgeben von geschwätzigem Lärm und geschäftigem Treiben. In den Straßen wimmelte das Leben, überall standen Marktschreierinnen, und Ladengeschäfte boten ihre Waren feil. Es gab unzählige Plätze mit Brunnen, wo Märkte abgehalten wurden und wo Akrobaten und Theaterleute ihre Kunst zeigten. Von den Tiermärkten drangen starke Gerüche in seine Nase; dort gab es hauptsächlich Hühner, aber auch klein gewachsene Schweine, Ziegen, Rinder und Ponys. Und Vögel, unzählige Singvögel in Drahtkäfigen.

In den Läden wurden Wein, Bier und Ushkany, Gewürze und Kräuter und nützliche Werkzeuge für Haus und Feld angeboten. Vor allem aber Glas, unglaublich viel Glas. Geschirr, aber auch Kunsthandwerk; nicht selten mit Auslagen voll glitzernder Juwelen gleich daneben. Vor einem Laden, der Bommeln und Plunder hieß, verweilte Rowarn, hier wurden feine Stoffe, Filz und Wolle feilgeboten, kunstvoll gestaltete Kleidung und viele hübsche Kleinigkeiten, kombiniert mit ausgefallenem, zierlichem Schmuck. Viele Dinge, die Arlyn gefallen könnten. »Schnickschnack«, wie Schneemond dazu zu sagen pflegte, doch meistens mit einem Leuchten in den Augen, und Rowarn, der sie nun verstehen konnte, hätte nicht zu sagen gewusst, was ihm besser gefiel. Am liebsten hätte er für Arlyn den ganzen Laden leergekauft, aber er hatte nicht einmal einen halben Drachen für einen hübschen Ohrschmuck übrig. Aber vielleicht konnte er etwas eintauschen, was er bei sich trug? Rowarn hätte seiner Königin so gern einmal ein Geschenk gemacht, nach allem, was er von ihr erhalten hatte. Auch wenn es etwas Bescheidenes sein würde, sie würde sich bestimmt darüber freuen. Doch als er die Klinke hinunterdrückte, musste er feststellen, dass der Laden geschlossen war. Dabei sah durch die gläserne Tür alles noch verlockender aus, zu gern hätte Rowarn ein wenig gestöbert ...

Traurig musste er weiterziehen. Ein Händler (einer der wenigen männlichen) rief ihm zu: »Einen honigglasierten Apfel, junger Herr?«

Rowarn wandte sich ihm zu, und sofort lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Feine kandierte oder in Honig eingelegte Früchte, vergorene Beeren, getrocknete Trauben, gebratene Darinen und dergleichen mehr. »Tut mir leid«, lehnte er bedauernd ab, »aber ich habe kein Geld.«

Der Zwerg grinste breit. »Ihr seid ein fahrender Ritter, ja?« Er deutete auf Rowarns Waffengürtel. »So jung, doch Ihr habt schon einiges gesehen. Es verirren sich nicht oft Fremde in die Abgeschiedenheit des rauen Nordens, und Ihr seid vermutlich auf einer Qestüre

»Auf einer besonderen Suche? Ja ... so kann man sagen«, antwortete Rowarn. »Und das seht Ihr nur an meinem Schwert?«

»Oh nein, Euer ganzes Erscheinungsbild lässt auf Ritterlichkeit und hohen Adel schließen. Jemand wie Ihr würde sich kaum zufällig hierher verirren.« Der Händler hielt ihm den honigduftenden Apfel hin. »Bitte, nehmt ihn an, Ihr seht hungrig aus, und ich will mir nicht nachsagen lassen, einen Edelmann auf Qestüre zum Darben verurteilt zu haben, sodass er zu schwach war, weiter seiner Fahrt nachzukommen.«

Rowarn nahm lächelnd und dankend an und biss hungrig in die süße Frucht. Eine wundervolle Abwechslung nach der eintönigen Reisekost der letzten Tage, und sie spendete ihm augenblicklich neue Energie. Immer noch kauend, wies er um sich. »Eine reiche Stadt mit goldenen Dächern. Gibt es da nicht viele Neider?«

Der Händler schmunzelte. »Es ist kein Geheimnis, wie sicher Ganduria allein schon durch seine Lage ist. Es gibt nur einen offenen Weg hierher. Keiner kann sich ungesehen nähern und überraschend einfallen, falls er überhaupt unbeschadet den Pfad ins Tal findet. Abgerichtete Wächtervögel haben zudem ständig das Land im Auge. Wir kennen diese Berge besser als unsere eigene Westentasche, die Stadt ist schnell geräumt, wenn es sein muss. Wenn jemand das Gold von den Dächern stehlen will – soll er es doch versuchen. Notfalls machen wir eben neue. Ein solcher Raub würde ohnehin keinem Glück bringen. Unser Volk steht seit Anbeginn der Welt unter dem Schutz Lugdurs des Listenreichen.« Sein faltenreiches Gesicht verfinsterte sich. »Und die Abtrünnigen werden sich davor hüten, das Schutzgebiet unseres Gottes zu betreten.«

Rowarn nickte, das konnte er sich gut vorstellen. Er erinnerte sich, wie Olrigs freundliches Gesicht sich zur Fratze des Hasses verzerrt hatte, als sie auf dem Weg nach Ardig Hall den Warinen das erste Mal begegnet waren. »Sagt, wäre es möglich, eine Audienz bei Hochkönig Jokim zu erhalten?«

»Eine Audienz?«, prustete der Händler. »Aber gewiss, edler Herr. Geht einfach weiter ins Zentrum, dort seht Ihr sein Haus – am Dach werdet Ihr es erkennen, aber auch an der Größe.« Er hob grüßend die Hand. »Lugdur sei mit Euch.«

Rowarn verspeiste genüsslich den Apfel, während er weiterging. Fast fühlte er sich an Madin erinnert; niemand hatte es hier eilig, die Stimmung war ausgeglichen und heiter. Natürlich hatte Ganduria ein Vielfaches mehr an Einwohnern, wahrscheinlich war die Stadt sogar noch größer als Ennishgar, selbst wenn man die Bebauung in die Höhe nicht mitrechnete. Und die Stadt konnte sich selbst versorgen, ohne auf die Hilfe von außen angewiesen zu sein. Das bedeutete, alles, was die Zwerge nach Valia auf die Märkte trugen, waren verzichtbare Überschüsse und förderte ihren Reichtum.

Hauptsächlich führten die Frauen die Geschäfte und betrieben die Märkte. Gleichzeitig beaufsichtigten sie ihre Kinder, die meist wie wilde Rangen zwischen den Ständen tobten und Fangen spielten. Rowarn sah rosige, lachende Gesichter mit Stupsnasen, hübsche und noch recht zierliche kleine Wesen in bunten Kittelchen und geschnürten Fellschuhen. Sie neckten die zum Verkauf stehenden Tiere und spielten den Erwachsenen Streiche, doch niemand regte sich darüber auf, die meisten lächelten gutmütig, es wurde höchstens einmal ein Klaps auf die Kehrseite ausgeteilt.

Was für ein wunderbarer, glücklicher Ort, dachte Rowarn staunend. Dann wird es wohl bei den Kúpir ganz ähnlich sein. Die Zwerge verstehen zu leben und mischen sich nicht in die Machtspiele und Ränke der anderen Völker ein. Sie bleiben für sich und gehen ihrem Tagwerk nach, ohne anderen etwas zu neiden. Sie sind märchenhaft reich, doch sie halten sich dennoch keine Sklaven, die alles für sie erledigen. Sie sind so ganz anders als jedes Volk, das ich bisher kennengelernt habe.

Schließlich erreichte er eine breite Prachtstraße, die schnurgerade zum Zentrum der Stadt verlief – auf ein großes bemaltes und juwelenverziertes Prachtgebäude zu. Das ausladende Dach war goldgedeckt, die Spitzen schwangen sich kühn nach oben. Auf einem Sockel an der Spitze des Daches war die Statue eines Zwerges zu sehen, der die Flagge der Gandur stolz in der hochgereckten Faust hielt.

Auf allen vier Seiten, an den Kanten miteinander verbunden, führte jeweils eine zehnstufige, sich nach oben verjüngende Portaltreppe zur Residenz des Zwergenherrschers hinauf. Nicht einmal hier konnte Rowarn Wachen erkennen, die Zwerge gingen einfach ein und aus oder saßen auf allen Seiten auf den Stufen verteilt, um kleine Köstlichkeiten vom Markt zu schmausen oder auf eine Verabredung zu warten.

Langsam stieg Rowarn die westliche Treppe hinauf, jeden Augenblick darauf gefasst, aufgehalten zu werden. Aber niemand kümmerte sich um ihn. Neugierig betrat er das Gebäude und fand sich in einer großen Wandelhalle mit vielen Säulen wieder. An den Seiten führten unzählige Türen tiefer hinein und Wendeltreppen in den ersten Stock hinauf. Die Halle war überaus geschickt mit Kristallleuchtern erhellt, die das von den Fenstern hoch oben einfallende Licht auffingen und vielfarbige Lichtmuster an Wände und Decke malten. Auch die Fenster oben waren bunt, sie zeigten Abbilder früherer Zwergenherrscher und höfische Szenen. Es duftete herrlich nach erlesenen Ölen, die in kleinen Schalen verdampft wurden. Leute gingen in Gespräche vertieft zwischen den Säulen umher oder ließen sich an einem der vielen Tische nieder. Dienstmägde und Knechte eilten geschäftig durch den Saal und brachten Speisen und Getränke. An manchen Tischen wurde auch gewürfelt oder Schach gespielt. Ehrwürdige weißhaarige Zwerge in der Tracht von Gelehrten führten Gruppen von staunenden Kindern herum oder unterrichteten sie in Nischen. An hellen Bogenfenstern sah Rowarn Poeten, die mit gespitzter Feder über Pergament brüteten, und Bänkelsänger übten leise ein neues Lied.

Der Boden, die Säulen, sämtliche Wände bis zur Decke hinauf waren mit kostbaren Mosaiken bedeckt, teils aus Gold und Silber und mit glitzernden Juwelen versehen. Die Geschichte der Gandur, so vermutete Rowarn aufgrund der Motive, die sich über die ganze Halle erstreckten und auf ungewöhnliche Weise ein Gesamtbild ergaben. Eine so prächtige Halle hätte er sich niemals vorstellen können. Erwärmt wurde sie durch gewaltige Kamine und große Kerzen, die entlang des Hauptgangs aufgestellt waren. 

Fast ehrfürchtig ging der junge Mann weiter, durchquerte die Halle und entdeckte schließlich am hinteren Ende, von zwei Seiten durch klare Glasfenster beleuchtet, den Thron des Hochkönigs der Zwerge. Ein kunstvoll geschnitztes Gebilde mit hoher Lehne, aus dunklem, glänzendem Holz, ruhte er auf einem dreistufigen Podest.

Davor stand eine Gruppe Zwerge in erregter Diskussion. Rowarn sah eine ungewöhnlich große und ebenso ungewöhnlich schlanke Zwergenfrau mit einer Frisur wie ein Kunstwerk, in das hunderte winziger Diamantsplitter eingearbeitet waren. Dazu trug sie ein in Gold und Purpur gehaltenes langes, figurbetontes Seidengewand und goldene Halbschuhe. Arme, Hals und Ohren der Dame waren mit kostbarem Schmuck behangen, und sie trug an jedem Finger mindestens zwei Ringe. Neben ihr stand ein gleich großer, massiger Zwerg mit bauchlangem, aufwändig geflochtenem Bart und zurückgekämmten dunklen Haaren, die an den Seiten geflochten waren. Im Nacken wurden die Haare von einem breiten goldenen Ring zusammengefasst. Er trug einen langen Überwurf aus Samt in Blau und Gold, der vor dem imposanten Bauch von einem breiten Gürtel gehalten wurde, dazu dunkelblaue Beinkleider und wadenlange weiche schwarze Lederstiefel. Zwei schwere Ringe steckten an der rechten Hand und ein großer dunkelgrüner Edelstein im linken Ohrläppchen.

Rowarn zögerte, er wusste nicht, was er tun sollte. Augenscheinlich war das Herrscherpaar beschäftigt, noch dazu mit einer bedrückenden Angelegenheit, ihren Mienen nach zu urteilen. Die Königin tupfte sich immer wieder die Augen mit einem Tuch ab. Suchend sah der junge Mann sich nach jemandem um, der ihn anmelden könnte, aber dafür schien niemand zuständig zu sein. Sollte er lieber verschwinden und ein andermal wiederkommen?

Er wollte sich gerade zum Gehen wenden, als der König ihn bemerkte.

»Ah!«, rief er und seine Miene wandelte sich augenblicklich. »Er ist angekommen! Nur herbei, junger König Rowarn von Ardig Hall! Seid willkommen in meiner Halle.«

»Es tut mir leid, Euch unterbrochen zu haben«, sagte Rowarn und verneigte sich. Er hoffte, dass man ihm seine Verblüffung über die Begrüßung nicht anmerkte. Zugleich wurde er in seiner Vermutung bestärkt, die ihn hierher geführt hatte.

Der König stapfte auf ihn zu, trotz seiner Masse mit zwergentypischer Behändigkeit, und klopfte ihm auf die Schulter; so weit reichte er tatsächlich hinauf. Er musste größer als Olrig sein. »Nicht so formell, junger Herr, Eure Herkunft ist nicht weniger edel als die meine, wahrscheinlich sogar mehr. Schließlich bin ich kein Thronerbe, sondern ein gewählter König, wenngleich wohl auf Lebenszeit, wie es aussieht. Doch wir Zwerge legen nicht allzu viel Wert auf höfisches Getue und strenge Etikette, das raubt uns zu viel von den Annehmlichkeiten des Lebens. In erster Linie sind wir Handwerker und wissen mit den Händen zu arbeiten; Müßiggang ist nicht unsere Art.«

Rowarn hustete und vermutete, dass er seine Schulter in den nächsten Tagen nicht allzu sehr in Anspruch nehmen konnte. »Ich danke Euch ...«, stieß er hervor. »Auf so einen offenen Empfang war ich nicht gefasst.«

»Warum? Ihr kennt doch wohl Kriegskönig Olrig?«

»Ja ... schon ...«

»Na, seht Ihr. Ein prächtiger Mann, der Stolz des ganzen Volkes und das beste Beispiel für Zwergenart. Nun, lasst mich Euch vorstellen: Ich bin Jokim, und diese unglaublich schöne Frau – die nur leider viel zu dünn geraten ist, was ich ihr aber immer noch nicht abgewöhnen kann – ist meine Königin Esdrella, die wahre Herrscherin des Reiches, klug und weise und die beste Geschäftsfrau, die man sich vorstellen kann. Ohne sie wäre mein Reich arm und heruntergekommen.«

»Du übertreibst, mein Lieber«, sagte die Königin mit ebenfalls völlig veränderter Miene, gefasst und freundlich. 

Das Königspaar wollte ganz offensichtlich nicht, dass Rowarn erfuhr, was sie beschäftigte, und verstanden es meisterhaft, sich zu beherrschen. Esdrella reichte Rowarn die Hand, er beugte sich artig darüber und führte sie kurz an seine Lippen. Ihre Ausstrahlung und ihr sinnlicher Duft nach Bergrosen und Nachtglöckchen machten ihn schwindlig, und er merkte, wie ihm das Luftholen schwerer fiel. Nicht einmal die Witwe Larinda war so atemberaubend gewesen.

»Es ist mir eine Ehre, Euch kennenzulernen, ehrenwerte Königin, aber ich glaube, Euer Gatte hat maßlos untertrieben, und Ihr solltet ihn dafür rügen«, bemerkte Rowarn, am Rande seiner Fassung.

»Ein wohlerzogener und sehr hübscher junger König, der sich auf Galanterie versteht, man höre und staune«, schmunzelte Esdrella, und ihre meerblauen Augen blitzten auf. »Vielleicht sollten wir unsere Kinder auch zu den Velerii in die Lehre schicken?«

»Ein Gedanke, der Jahrzehnte zu spät kommt«, lachte König Jokim. Er bedeutete den wartenden Beratern mit einer Geste, sich zurückzuziehen. »Findet einen Weg! Ich bin bald wieder bei euch, doch die Gastfreundschaft geht vor.« Kurzzeitig fiel ein Schatten über sein Gesicht, doch dann hatte er sich wieder in der Gewalt. »Nun!«, sagte er munter zu Rowarn. »Kommt an unsere Tafel, lasst Euch bedienen, und ich will Euch ein wenig von unserem Land erzählen, während Ihr Euch erholt.«

Der Aufforderung kam Rowarn gerne nach, er war überaus hungrig (der Honigapfel war längst in den Untiefen seines leeren Magens verschollen) und freute sich auf eine bequeme Sitzgelegenheit. Das Königspaar führte ihn zu einer Tafel in der Nähe eines Kamins, die reichhaltig mit Schnitzereien verziert war, genauso wie die gepolsterten Stühle. Eine Großfamilie konnte daran Platz nehmen, doch in diesem Moment waren sie nur zu dritt.

»Nicht dahin!«, gebot Jokim Einhalt, als Rowarn auf den Platz gegenüber der am Kopfende befindlichen königlichen Lehnstühle zustrebte. »Sonst muss ich so schreien, und ich kann Euch kaum sehen.«

»An meine Seite, wenn ich bitten darf«, lächelte Esdrella und wies auf den Platz zu ihrer Rechten an der Längsseite der Tafel. Jede ihrer Bewegungen war pure Anmut, die Armreifen und Ohrgehänge klimperten und klingelten dazu leise in einer süßen Musik. Sie gab der Dienerschaft gleichzeitig einen Wink, und kurz darauf bog sich der schwere Tisch unter den reichhaltigsten Genüssen.

Rowarn stürzte sich als Erstes gierig auf einen Krug Wasser, den er innerhalb kurzer Zeit fast zur Gänze leerte. Erst dann konnte er sich wieder seiner Höflichkeit besinnen und lächelte das Königspaar verlegen an. »Verzeihung, ich war sehr durstig ...«

Jokim winkte ab. »Verständlich, der Weg hierher führt durch sehr trockenes Land. Was wollt Ihr nun trinken? Wein? Bier? Ah, natürlich zuallererst einen Ushkany, um den Magen freundlich zu stimmen.« Der König übernahm es mit Vergnügen selbst, das flüssige Gold in spezielle Gläser einzuschenken und zu verteilen. Mit funkelndem Blick beobachtete er Rowarn, als dieser vorsichtig schnupperte und dann kostete, und lachte über das Aufleuchten in den Augen des jungen Mannes. »Seht Ihr: Das ist der wahre Lebenssaft! Zum Wohl!«

Forsch griff Rowarn nun beim Essen zu, er wusste, dass er bei den Zwergen nicht zurückhaltend sein musste. Sie beurteilten einen Mann auch danach, wie viel er essen konnte – und natürlich nach seiner Trinkfestigkeit. Wobei Rowarn da nicht mithalten konnte, ein Glas Ushkany würde ihm schon reichen.

»Olrig hat Euch gut in die Sitten unseres Volkes eingewiesen«, stellte die Königin anerkennend fest. »Aber sagt mir – wie schafft Ihr es, so dünn zu bleiben, bei solch einem Appetit?«

»Das liegt vermutlich an meinen Eltern«, antwortete Rowarn befangen. »Aber ich kann das Kompliment an Euch zurückgeben, Eure Majestät. Ihr seid gewiss die außergewöhnlichste Zwergin von ganz Waldsee.«

»Ja, ich bin ein wenig aus der Art geschlagen, doch es gefällt mir so. Und mein Gemahl muss notgedrungen damit leben, doch ich entschädige ihn hinreichend dafür, denke ich.« Sie legte ihre Hand auf die Jokims und lächelte ihn spitzbübisch an, während ihre Pfirsichhaut von einem rosigen Schimmer überzogen wurde.

Einmal mehr war Rowarn von ihr hingerissen. Die Zwergenfrauen verstanden es mühelos, aus Männern lallende Idioten zu machen, die ihnen aus der Hand fraßen. Kein Wunder, dass sie die Herrschaft über Haus, Hof und den Handel innehatten, wer könnte ihnen schon widerstehen? Allmählich verstand er Olrig – warum der Freund immer wieder geheiratet hatte, auch wenn es offensichtlich jedes Mal schiefging. Aber das musste wohl an Olrig selbst liegen. 

Dem Königspaar tat es offensichtlich gut, abgelenkt zu werden. Rowarn wusste aus den Lehren seiner Muhmen, dass man sich in einer verfahrenen oder aussichtslos scheinenden Situation am besten etwas ganz anderem zuwandte, um einen klaren Kopf zu bekommen. Ein paar Augenblicke wollte er ihnen noch gönnen, die er selbst brauchte, um wieder zu Kräften zu kommen. Außerdem genoss er es, dicht bei der Königin der Gandur sitzen zu dürfen. 

Und es war kein Wunder, dass Esdrella solchen Eindruck auf ihn machte. Auch der gestandene König Jokim schien seiner Frau trotz vieler Jahrzehnte Ehe nach wie vor verfallen zu sein, denn wie sie ihn so ansah und seine Hand berührte, bekam er einen ganz abwesenden, verträumten Blick. Dann räusperte er sich und blinzelte. »Nun, wie Ihr sicher nicht übersehen konntet – das Volk der Gandur ist unverschämt reich. Bei uns gibt es keine Not. Die Kúpir verstehen sich auf die Bearbeitung von Metall, die Ennish stellen die besten und kostbarsten Stoffe her, aber wir haben die Edelsteine – und das Glas.« Er wies mit dem Daumen hinter sich. »Was Ihr am Rand der Berge gesehen habt, sind unsere Glasbläsereien und die Verarbeitungswerke für Edelsteine, die wir aus dem Inneren der Berge holen. Die Erzgewinnung und Bearbeitung überlassen wir Baron Solvan von Eisenwacht, damit geben wir uns gar nicht erst ab. Die Gandur sind trotz ihrer äußerlichen Grobschlächtigkeit Künstler in der Herstellung feinsten Glases und herrlichen Schmuckes. Damit handeln wir. Alles andere behalten wir meist selbst, nur ab und zu schicken wir auch Gewürze und Kräuter nach Ennishgar und holen uns dafür Waffen, Rüstungen und Stoffe.«

»Und Euer Ushkany?«, fragte Rowarn.

»Ah!« Jokims Augenfältchen vertieften sich. »Das, mein junger Freund, ist mein ganz eigenes Geschäft, das nur ich allein betreibe – sogar ohne meine Frau. Es ist meine große Leidenschaft, schon seit meiner Jugend, und die liegt schon ein paar Jahrhunderte zurück. Ab und zu verkaufe ich ein paar Fässer, die meisten an die Kúpir und Ennish, aber durchaus auch an den einen oder anderen Hof der Alten Völker oder an die Menschen. Deswegen ist mein Ushkany auch sehr teuer, denn ich stelle von einem Jahrgang nie besonders viel her, und selbst in meiner Halle wird er nicht jeden Tag kredenzt. Nun ja, eigentlich doch, aber nicht immer der beste oder zweitbeste Tropfen.«

»Kostbarer als Gold«, lächelte Rowarn. »Wäre es sehr vermessen, wenn ich Euch um ein kleines Fläschchen für Olrig bitten würde?«

»Selbstverständlich gebe ich Euch eines für den Poeten mit, und ebenso eins für Euch und Noïrun, den geehrten Freund der Zwerge. Ich habe da ein zartes Tröpfchen, zwölf Jahre alt, das genau das Richtige für den abendlichen Ausklang nach der Schlacht ist. Dieser Ushkany ist nicht der kostbarste meiner Tropfen, aber süffig, frisch und unverbraucht. Ihr werdet es feststellen, wenn Ihr ihn auf Eurer Reise einmal probiert. Ich habe übrigens bereits viertausend kräftige Zwerge nach Dubhan vorausgeschickt, die mit Axt, Speer und Schwert umgehen können.«

Rowarn war für einen Moment über diese übergangslose Mitteilung sprachlos. »Das ... ist eine erfreuliche Überraschung, hoher König! Eure Unterstützung ist uns hochwillkommen und wird dringend benötigt.«

»Femris geht uns alle an, junger König von Ardig Hall«, winkte Jokim ab, »und niemand soll uns nachsagen, dass wir Zwerge bei der entscheidenden Schlacht nicht hilfreich zur Seite gestanden hätten. Soweit ich weiß, sind von den Kúpir auch noch einmal so viele auf dem Wege.«

Damit waren sie schon beim Thema angelangt, und es passte gut, denn Rowarn war satt und zufrieden, sein Gaumen entzückt, sein Magen glücklich und für eine Weile beschäftigt. Er wusch die Finger und trocknete sie mit einem Tuch, dann rieb er sich die Lippen sauber und lehnte sich zu einem abschließenden Schluck Ushkany zurück.

»Und was«, fing er langsam an, »bringt die herzensfrohe Königin Esdrella dazu, Tränen zu vergießen?«

Schlagartig wandelte sich die Stimmung, und die Beherrschung des Königspaars brach zusammen. Esdrellas Augen wurden sofort wieder feucht, und Jokims Gesicht verfinsterte sich.

»Nun, es ist ... eine sehr heikle Angelegenheit, für die ich noch keine rechte Lösung weiß«, brummte der Zwergenkönig. »Nichts, das Euch auch noch bekümmern müsste.«

Rowarn sah Esdrella an. »Sagt es mir. Manchmal kann ein Außenstehender helfen, weil sein Blick klarer ist.«

Die Königin nestelte nach ihrem Tuch. »Es geht um unsere Tochter Mirella«, antwortete sie leise. »Erst vor kurzem hat sie unseren Hof verlassen und ihr eigenes Geschäft eröffnet. Das war schon schwer genug für uns, das Kind aus dem Haus gehen zu sehen ...«

»Ein erwachsenes Kind, nichtsdestotrotz ...«, murmelte Jokim.

»Aber sie wurde entführt, wie wir kurz vor Eurer Ankunft erfahren haben, und jetzt werden wir erpresst«, brach es aus Esdrella hervor. »Von den Aalreitern, diesen stinkenden, verlausten ...«

»Ich habe schon von ihnen gehört«, sagte Rowarn schnell. »Sie leben hier?«

»In den Bergen«, knurrte der König verbittert. »Es besteht ein Friedensvertrag, aber nun stellen sie neue Bedingungen.« Er stand auf und ging unruhig vor dem Kamin auf und ab. »Ich kann nicht einfach meine Soldaten dorthin schicken, die Entführer würden nicht zögern, Mirella sofort zu töten! Das darf ich nicht riskieren. Versteht Ihr nun?«

»Habt Ihr Nachricht oder einen Beweis, dass sie unversehrt ist?«, fragte Rowarn.

»Der Unterhändler brachte einen Brief, der von ihrer Hand stammt«, antwortete Esdrella. »Sie werden ihr nichts tun, solange sie glauben, dass wir ihre Bedingungen erfüllen werden. Aber das können wir nicht ... also müssen wir einen anderen Ausweg finden.« Sie hob den Kopf und straffte ihre Haltung.

»Verstehe ich das richtig«, fasste Rowarn zusammen, »Ihr könnt Eure Tochter nicht mit Waffengewalt befreien, aber Ihr könnt auch nicht die Bedingung für ihre Freilassung erfüllen?«

»So ist es«, erklang Jokims Bass vom Kamin, wo er immer noch mit auf dem Rücken verschränkten Armen auf- und abtigerte.

»Und wann läuft die Frist ab?«

»Bereits morgen Mittag. Kurz vor Euch kam der Bote, und seither beraten wir.«

Rowarn rieb sich das bartlose Kinn. »Wisst Ihr, wo die Aalreiter leben?«

Jokim nickte. »Nicht weit von hier. Dort werden sie auch Mirella gefangen halten.«

»Dann lasst uns ein Geschäft vereinbaren«, sagte Rowarn und atmete tief durch. »Ich bringe Euch Eure Tochter zurück, und Ihr gebt mir dafür den Splitter des Tabernakels.«



Das Königspaar betrachtete Rowarn aufmerksam. »Was veranlasst Euch zu der Annahme, dass wir die Hüter sind?«, wollte Esdrella wissen.

Rowarn zählte an den Fingern ab. »Die Tür des Freien Hauses brachte mich hierher. Ihr habt mich ganz offensichtlich erwartet. Und Ihr habt mich sofort erkannt.«

Ein helles Lachen erklang da vom Mittelgang. »Ich sagte euch doch, dass er klug ist!«

Rowarn drehte sich um und sah einen schmalen Zwerg herantreten. Er trug einen kurzen Bart, viele Zöpfe und war reichlich mit Schmuck behangen. »Pyrfinn!«, rief er erfreut. Dann stockte er, blickte von dem jungen Zwerg zu Königin Esdrella und wieder zurück. »Das – das sind deine Eltern?«, stammelte er entgeistert.

»Und wiederum ein Treffer«, grinste Pyrfinn, ein jüngeres, männliches Ebenbild seiner Mutter, und applaudierte leicht. Er trat an den Tisch heran und legte seine Hand auf Rowarns Schulter. »Freut mich, dich gesund wiederzusehen, Freund. Wer hätte gedacht, dass aus dem mageren, schüchternen Bürschlein, das ich in Ennishgar traf, einst ein König würde!« Er setzte sich neben Rowarn, nahm sich einen Teller und griff zu.

»Du hast nie erzählt, dass du ...«

»Ich bin Pyrfinn der Läufer, was braucht’s da mehr?« Der junge Zwerg biss herzhaft in eine Schweinehāhsina und ließ sich Bier einschenken.

König Jokim kehrte auf seinen Platz zurück. »Er hat Euch angekündigt.«

»Und werdet ihr Rowarns Vorschlag annehmen?«, erkundigte sich Pyrfinn, nahm einen langen Zug aus seinem Krug und wischte sich den Schaum von den Lippen.

»Nun ...«

Pyrfinn setzte den Krug mit einem Knall auf den Tisch, dass der Rest überschwappte. »Was gibt es da zu überlegen?«, rief er und zog die buschigen Brauen zusammen. »Nicht, dass Rowarn einen derartigen Handel überhaupt nötig hätte – aber wir können seine Hilfe brauchen!«

»Nun mal langsam, junger Mann«, polterte Jokim los, und Esdrella legte hastig eine Hand auf seinen Arm.

»Genau darum geht es, Sohn«, sagte sie mit einer Schärfe in der Stimme, die Rowarn durch und durch ging. Fast hätte er sich entschuldigt, obwohl er gar nichts getan hatte. »Wir wissen nicht, ob wir diese Hilfe annehmen können, denn wir möchten nicht, dass König Rowarn sein Leben für eine Sache riskiert, die seinem eigenen Ziel hinderlich sein könnte! Wir können nicht auf ihn verzichten. Das Land Valia und ganz Waldsee blicken auf den Erben von Ardig Hall.«

»Dann verzichtet Ihr lieber auf Eure Tochter?«, fragte Rowarn fassungslos.

»Wenn wir vor die Wahl gestellt würden: ja«, antwortete Jokim schwer. »Aber wir werden eine Lösung finden, das betrifft Euch nicht ...«

»O nein.« Rowarn schüttelte heftig den Kopf. »Das kommt überhaupt nicht in Frage. Ich könnte es mir niemals verzeihen, nichts unternommen zu haben. Und ich sage Euch noch etwas: Ich bin aus der Splitterkrone entkommen, und ich habe Heriodon überwunden. Ich bin nach Dubhan gegangen und habe Femris beinahe getötet. Ich habe sogar gegen die Totengeister von Farinvin gekämpft. Denkt Ihr, ich lasse mich von ein paar Strauchdieben und Erpressern aufhalten?«

»Aber ...«, begann Esdrella, doch Rowarn war nun so in Fahrt, dass er sich nicht mehr unterbrechen ließ.

»Bin ich Euch in irgendeiner Weise Gehorsam schuldig? Habt Ihr Befehlsgewalt über mich?«

»Natürlich nicht ...«, begann nun Jokim.

»Also!«, fiel ihm Rowarn erneut ins Wort. »Dann habt Ihr mir auch nicht vorzuschreiben, was ich zu tun habe. Und ich bin immer noch ein Ritter von Ardig Hall und somit verpflichtet, denen in Not zu helfen.« Er wandte sich Pyrfinn zu. »Kennst du einen geheimen Weg zu den Aalreitern?«

»Klar. Direkt durchs Gebirge, das dauert nur wenige Stunden.«

»Gut. Wir müssen so dorthin gelangen, dass ich im Morgengrauen an dem Ort bin, wo sich das Mädchen befindet. Ich brauche das Zwielicht. Kriegst du das hin?«

Pyrfinn hob die Schultern. »Sicher. Wir brechen um Mitternacht auf. Kommst du im Dunkeln zurecht?«

»Das ist kein Problem«, erwiderte Rowarn. »Allerdings bin ich dann leider meilenweit zu sehen.«

»Wir gehen durch den Berg, da gibt es keine Posten der Aalreiter, schließlich ist es unser Reich«, winkte Pyrfinn ab.

Königin Esdrella hatte Mühe, ihre Fassung zu wahren. Auch Jokim schien überwältigt.

»Die Aalreiter werden Ausschau nach Euren Soldaten halten«, führte Rowarn aus. »Durch meine Fähigkeit des Zwielichtgehens kann ich zu Mirella gelangen, ohne dass sie mich bemerken. Aber Ihr solltet Euch überlegen, wie weiter mit den Aalreitern verfahren werden soll, wenn Ihr künftig in Sicherheit leben wollt.«

»Keine Sorge, dazu wird mir etwas einfallen. Jetzt ... hoffe ich nur, dass Euer waghalsiger Plan von Erfolg gekrönt wird. Kommt gesund wieder, und zwar alle drei! Das ist ein königlicher Befehl, der auch für junge Ritter von Ardig Hall gilt.«



Kurz vor Mitternacht wurde Rowarn von einem Diener geweckt. Er war sofort abmarschbereit und traf Pyrfinn unten auf der Treppe. Die Nacht war klar, und noch niemals hatte Rowarn einen solch überwältigenden Sternenhimmel gesehen. Nicht einmal der riesenhaft erscheinende Mond, der das Land mit silbrigem, hauchgrünem Schein übergoss, konnte das Licht der Sterne überstrahlen. Ishtrus Träne funkelte wie ein riesiger Diamant.

»Ist der Norden dem Himmel so nah?«, flüsterte Rowarn andächtig und stolperte fast über die nächste Stufe, da er den Blick gar nicht abwenden konnte.

»Jetzt verstehe ich, was du meintest«, grinste der junge Zwerg, als er Rowarn auf sich zukommen sah. »Du leuchtest wie ein Glühkäfer.«

»Ich glaube, das ist ein Erbe der Nauraka«, sagte Rowarn. »Mein Vater ist nämlich trotz seiner blauen Haut immer ziemlich finster.«

»Ich überlege gerade, ob wir überhaupt eine Fackel brauchen«, meinte Pyrfinn lachend.

»Was ist das für eine Geschichte mit dir und deinen Eltern?«, fragte Rowarn neugierig, als sie durch die Stadt gingen.

Zu dieser Zeit im frühen, noch kühlen Jahr waren die Straßen Gandurias verlassen. Laternen mit Sonnenkristallen verbreiteten ein tröstliches, warmes Licht.

»Ich bin das zehnte und – zumindest bisher – letzte Kind«, antwortete Pyrfinn. »Ich laufe gern, und es macht mir Spaß, unterwegs zu sein. Punktum.«

»Und Mirella?«

»Nummer neun, sie ist nur drei Jahre älter als ich. Die übrigen Brüder und Schwestern sind in Ennishgar bei den Kúpir oder führen in Ganduria ihre eigenen Geschäfte. Alle haben die Familie um viele weitere Köpfe vergrößert, bis auf Mirella und mich. Sie war die Letzte, die den Hof verlassen hat, deswegen hat es meine Eltern besonders tief getroffen, dass sie entführt wurde.«

Rowarn schüttelte den Kopf. »Ein wenig seltsam seid ihr schon.«

»Du hast nicht die geringste Ahnung, wie seltsam«, schmunzelte Pyrfinn. »Wie wär’s, bewegen wir uns schneller?«

Im leichten Trab liefen sie die verlassenen Straßen entlang. Hier und dort brannte ein Licht in einem Fenster, und Rowarn fragte sich, was dahinter wohl vor sich ging. Wurde der Tag beendet, oder begann bereits ein neuer? Vielleicht waren dort auch Liebende, die sich eng umschlungen hielten? Arlyn, dachte er sehnsuchtsvoll, was gäbe ich jetzt für einen Kuss von dir.

»Gefällt dir meine Mutter?«, erklang Pyrfinns Stimme in seinen Träumen.

»Äh ...«, machte Rowarn schuldbewusst, weil seine Gedanken sofort abschweiften.

Pyrfinn lachte. »Das geht allen so. Sie ist der Inbegriff der Weiblichkeit der Zwergenfrauen. Es hält sich hartnäckig das Gerücht, dass sie eine Gesandte Lugdurs ist. Denn seit sie Königin ist, lebt das gesamte Zwergenvolk in Frieden und Reichtum.«

»Hast du ... gewusst, dass sie eine Hüterin ist?«

»Bis vor kurzem nicht. Ich begriff es, als sie wissen wollte, was der König von Ardig Hall als nächstes tun wird. Da sagte ich ihr gerade heraus, dass du zu ihr kommen würdest.«

Rowarn nickte still. Es wunderte ihn nicht mehr, dass Esdrella einen Splitter hatte. Sie war eine Geheimnisträgerin und verfügte über eine urtümliche, bodenständige Macht, das hatte er schon bei der ersten Begegnung gespürt. Außerdem lebte sie sehr abgeschieden, hier war der Splitter gut geschützt. Femris würde niemals vermuten, dass ausgerechnet hier ein Bruchstück des Tabernakels zu finden war, denn jeder dachte nur an Ushkany, wenn von den Gandur die Rede war. Wahrscheinlich hatte der Unsterbliche die genussfreudigen Zwerge nie sehr ernst genommen.

»Wie ist Femris damals eigentlich an den zweiten Splitter gekommen?«, fragte er weiter. Beim Bruch des Tabernakels hatte der Unsterbliche einen der Splitter an sich nehmen können und den zweiten im Lauf der Zeit erobert. Der dritte Splitter stammte von Ylwa, Rowarns Mutter.

»Durch Verrat, wie so häufig«, antwortete Pyrfinn. »Eine weise Menschenfrau, die über ein Reich des Ostens herrschte, hatte ihn verwahrt. Femris hatte sie und ihr ganzes Volk ausgelöscht, als er endlich an den Splitter herankam, und anschließend tötete er den Verräter. Der Kerl hatte es wohl aus reiner Habgier getan und wollte selbst Herrscher werden, aber das ließ Femris natürlich nicht zu.«

»Natürlich.« Femris hatte sicher nichts gegen Verrat an sich, aber wie jeder andere vermutlich sehr wohl etwas gegen Verräter, vor allem, wenn sie nur aus Habgier oder Rachsucht handelten. Sie waren von allen Übeltätern der schlimmste Abschaum.



Etwa eine Stunde später erreichten sie das Ende der Stadt; Pyrfinn war noch munter im Laufen, während Rowarn allmählich die Puste ausging. Darauf war er einfach nicht trainiert, da er sich zumeist bequem zu Pferde fortbewegte. Trotz Rowarns Jugend und seiner langen Beine hatte der Zwergenläufer ihm eine Menge voraus. 

Das machte Pyrfinn auch deutlich und amüsierte sich über Rowarns keuchenden Atem. »Du brauchst ein wenig mehr Ausdauer, sonst wird es dir beim Liebesspiel bald ganz ähnlich ergehen«, bemerkte er breit grinsend. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Arlyn so ganz ohne Leidenschaft ist!«

»Das geht dich gar nichts an«, schnaufte Rowarn. Er atmete innerlich auf, als die Felsen immer näher rückten.

Endlich hatte Pyrfinn ein Einsehen und wurde langsamer. »Von hier aus führt ein Weg direkt in die Berge. Ich kenne das Höhlensystem genau, es gibt eine gute Verbindung zu den Aalreitern. Dort warten wir aufs Zwielicht, und ich bin äußerst gespannt, was du dann tun wirst.«

Rowarn rieb sich den Schweiß von der Stirn. »Das weiß ich offengestanden auch noch nicht, zuerst muss ich mich mit der Örtlichkeit vertraut machen. Dann sehen wir weiter. Am besten erzählst du mir jetzt, wer die Aalreiter eigentlich sind.«

»Menschen«, antwortete der Zwerg. 

»Und sie heißen Aalreiter, weil ...?«

»Das wirst du schon sehen. Meistens schwärmen sie noch vor dem Zwielicht aus, was ein großer Vorteil für uns ist. Wir werden rechtzeitig dort sein, sodass du dir einen guten Überblick verschaffen kannst.«

Erst, als sie unmittelbar davorstanden, konnte Rowarn den Eingang in die Felsen erkennen. So schmal und niedrig, dass ein massiger Zwerg wie Jokim sich gerade so gebückt hindurchquetschen könnte. »Habt ihr keine Sorge, dass die Aalreiter den Weg durch die Berge finden könnten?«

»Die Wege sind tabu«, erläuterte Pyrfinn. »Schon vor langer Zeit schufen unsere Magier unüberwindliche Barrieren, Fallen und optische Täuschungen. Niemand hat jemals auch nur einen Eingang gefunden, und wenn es so wäre, wäre er im Inneren rasch verloren.«

»Ich wusste nicht, dass Zwerge magische Geschöpfe sind«, sagte Rowarn erstaunt. »Bei den Menschen gibt es ja Magiebegabte, es ist aber eher selten.«

»Nun, wir besitzen keine eigenen magischen Kräfte. Doch Lugdur der Listenreiche hinterließ ein paar magische Artefakte, die unserem Schutz dienen. Wir haben gelernt, sie zu nutzen.«

»So erklärt sich einmal mehr, warum deine Mutter zur Hüterin wurde. Allerdings – sie kann nicht alt genug sein, ihn die ganze Zeit verwahrt zu haben. Wer besaß den Splitter vor ihr?«

Pyrfinn zog aus einer Nische einen Stab und setzte einen Sonnenkristall ein, den er kurz schüttelte und mit der Hand anwärmte. Schon nach kurzer Zeit begann er zu strahlen. »Ihre Mutter. Der Splitter hat das Leben beider verlängert. Esdrella ist bereits dreihundertfünfzig Jahre alt, aber nach zwergischem Standard körperlich höchstens hundertachtzig.« Er blickte Rowarn über den leuchtenden Stab hinweg an, sein Gesicht war ein Spiel aus Licht und Schatten. »Falls du es wissen willst: ich bin sechsunddreißig. Ein Zwerg wird mit dreißig Jahren erst volljährig. Aber ich laufe schon seit zwanzig Jahren. Du kannst dir vorstellen, dass das meinen Eltern nicht recht war, aber sie konnten sich nicht durchsetzen – ich war immer schneller als sie.« Er schmunzelte.

»Dann hängen sie deswegen so sehr an deiner Schwester?«, mutmaßte Rowarn.

»Ja, denn nachdem ich fort war, blieb nur noch sie übrig, und sie wurde am meisten verwöhnt. Erst vor kurzem verließ sie das Haus.« Pyrfinn ging mit dem Stab voran, einen schmalen Gang entlang. Der Sonnenkristall warf einen diffusen Schein an die spröden, rissigen Felswände.

Schon bald verzweigten sich weitere Gänge, ihr Weg führte sie durch ein verwirrendes System mit wechselnden Richtungen und unterschiedlichen Höhen. Es war allerdings nicht ganz dunkel, Leuchtflechten und Glimmer glitzerten an den Wänden, und grün glühende Spinnenläufer krochen wie dünne, vielfach verzweigte Fäden über das Gestein. Ab und zu blickte Rowarn sich um, seine nachtsichtigen Augen hatten keine Probleme, sich im diffusen Dämmerlicht zurechtzufinden. Allerdings bemerkte er erschrocken, dass der Weg jedes Mal anders aussah, überhaupt nicht so, wie er ihn in Erinnerung hatte.

»Hätte es irgendeinen Sinn, wenn ich versuchte, mir den Weg zu merken?«, fragte er Pyrfinn, unwillkürlich in gedämpftem Tonfall.

Der junge Zwerg antwortete munter in normaler Lautstärke: »Nein, das wird dir nicht gelingen. Nur ein Zwerg kann die Barrieren durchschauen. Wir haben sogar farbliche Kennzeichnungen an den Wegen, doch du als Außenstehender kannst sie nicht finden.«

»Dann muss ich darauf achten, dass wir nicht getrennt werden«, murmelte Rowarn, und ihn gruselte es. Am liebsten hätte er Pyrfinn bei der Hand genommen, oder noch besser, ihn an sich gekettet.

»Nur die Ruhe, es kann überhaupt nichts passieren. Wir bewegen uns auf dem Verbindungsnetz, dabei kommen wir durch keine der Minen, die in die Tiefe führen, wo Wesen leben, von denen du nichts wissen willst.« Pyrfinn bog zum zehnten Mal ab, und Rowarn gab es auf, sich den Weg merken zu wollen. Er wusste auch nicht, wie lange sie hier unten schon unterwegs waren. Es gab keine andere Wahl, er musste sich voll und ganz auf den Zwerg verlassen. Aber es würde ja nicht lange dauern, nicht einmal mehr die halbe Nacht. Das war zu schaffen, auch wenn die bedrückende Enge und die massiven Felswände nicht gerade ein anheimelnder Ort für einen halben Nauraka waren. Ob Dämonen sich hier wohlfühlten? Graum sicherlich nicht, er war ungehinderte Bewegungsfreiheit und Weite gewohnt. Und Rowarns Vater hätte es nicht leicht hier, wegen seiner Größe – von Fashirh ganz zu schweigen. Nein, wahrscheinlich würden sich auch Dämonen hier nicht gern aufhalten.

»Alles in Ordnung?«, fragte Pyrfinn nach hinten. »Du bist so still.«

»Ich bin durchaus in der Lage zu schweigen.«

»Aber dann stimmt meistens etwas nicht.« 

Rowarn seufzte daraufhin vernehmlich, und der Zwerg lachte leise. »Es ist bald überstanden. Dann gehen wir ein Stück über die Felsen und suchen uns einen sicheren Platz.«

»Haben sie dort Wachen?«

»Nicht überall. Die Aalreiter wissen nichts von diesem Weg hier. Mein Vater könnte nur von dieser Seite aus angreifen, aber nicht nachts. Du weißt ja, die Augen der Zwerge sind nicht besonders gut.«

»Menschen hätten da trotzdem keine Hemmungen.«

»Weißt du, mein Vater sieht nicht so aus, aber er ist sehr friedfertig, und das ist hier jedem bekannt. Er würde Mirellas Leben niemals aufs Spiel setzen, deswegen gehen die Aalreiter davon aus, dass er heute Mittag neu verhandeln wird. Unser Volk achtet ihn, weil er sehr klug ist, listig und geschickt in Verhandlungen, aber für den Kriegsdienst wäre er unbrauchbar. Ich weiß gar nicht, ob er je eine Axt geschwungen hat. Ich habe ihn jedenfalls nie mit einer Waffe gesehen. Wenn er ein Messer benutzt, dann nur zum Brotschneiden oder Ähnlichem.«

Rowarn lachte leise. »Schade, dass ich nur so kurz hier sein kann. Aber wie mir scheint, bin ich zumindest gerade zur rechten Zeit gekommen.«

»Es gibt keine falsche Zeit, wenn du durch die Tür eines Freien Hauses gehst«, erwiderte Pyrfinn. »Alles geschieht so, wie es muss. Du hast deine Aufgabe festgelegt, nun musst du sie bewältigen.«

»Dann waren meine Begegnungen draußen in der Steppe und vor dem Talbruch kein Zufall?«, fragte Rowarn zögerlich.

»Es gibt keinen Zufall«, versetzte Pyrfinn. »Die Wege kreuzen sich nun einmal, und so begegnen wir uns und weisen uns gegenseitig die Abzweigung zum nächsten Abschnitt unseres Lebens. Zeit spielt dabei keine Rolle, denn sie verläuft gleichzeitig in alle Richtungen.«

Darüber dachte Rowarn eine Weile nach und merkte dabei gar nicht, dass sie immer tiefer vordrangen. Das Gestein hatte sich inzwischen verändert, es wurde dunkel und feucht. Viele Linien und Maserungen durchzogen den Fels, stellenweise glitzernd oder golden glänzend.

Pyrfinn erklärte: »An diesen Adern kannst du erkennen, wieviel Reichtum in diesen Bergen noch immer schlummert, trotz unseres jahrtausendelangen Abbaus. Allerdings lohnt es sich nicht, hier den Pickel in den Felsen zu schlagen, denn es ist nur eine dünne Schicht. Die Mühsal nach einem Mondwechsel würde gerade mal ein paar Drachen einbringen.«

»Ich bin schon reich, durch das Erbe von Ardig Hall«, sagte Rowarn. »Behauptet zumindest Noïrun.«

»Selbst wenn da nichts mehr ist – du hast eine sehr reiche Frau geheiratet«, grinste Pyrfinn. »Selbst nach unseren Maßstäben, und das will was heißen.«

Dermaßen abgelenkt vergaß der junge König nach und nach die beklemmende Enge, und auf raschem Wege gelangten sie unbehelligt zu einem der vielen Ausgänge. Alle lagen laut Pyrfinn sehr geschützt, sodass nicht einmal ein Wanderer, der dicht vorbeiginge, die Bewegung bemerken würde. »Ein ausgeklügeltes System, das wir mit den Jahrhunderten perfektioniert haben.«



Es war noch dunkel draußen, als sie hinaustraten. Rowarn atmete erleichtert auf und genoss den frischen Wind; hier draußen war es zwar nicht wärmer als im Berg, aber er konnte das weite Sternenzelt über sich sehen, und die Berghänge hielten gebührenden Abstand.

»Wir müssen noch in Deckung bleiben«, stellte der Zwergenläufer nach einem kurzen Blick auf den Nauraka fest. »Auf Erkundung kann man dich nicht schicken, soviel steht fest.«

»Bin ja auch der König, da schicke ich andere«, brummte Rowarn. »Immerhin kann ich ein Schwert in der Hand halten.«

»Davon habe ich gehört.« Pyrfinn zwinkerte, bedeutete Rowarn zu warten und verschwand in der Dunkelheit. Kurz darauf kehrte er zurück und führte den Ritter ein ganzes Stück weit nach oben. Das Klettern fiel Rowarn nicht schwer, darin war er immer noch geübt, und Pyrfinn nickte anerkennend. 

Schließlich kamen sie inmitten eines Wirrwarrs von riesenhaften Felsbrocken heraus; hier musste einst ein ganzer Berghang herabgestürzt sein. Es war nicht leicht, sich zurechtzufinden, dafür gab es hinreichend Verstecke, von denen aus man ungesehen Ausschau halten konnte.

»Es dauert nicht mehr lange, dann gehen sie auf Beutezug«, wisperte Pyrfinn. »Bergschafe, Nebelhirsche, Bären und natürlich der gefleckte Schneepanther. Genau wie du nutzen sie das Zwielicht aus, wenn die einen schlafen gehen und die anderen gerade erwachen.«

»Wie weit ist es von hier aus noch zur Siedlung?«

»Nicht weit. Wir gehen los, sobald die Jäger aufgebrochen sind, dann ist die Gefahr geringer, entdeckt zu werden. Die Aalreiter leben geschützt in Felsenwohnungen. Wir können uns gut heranschleichen. Wegen der Aale wagen sich keine großen Tiere zu nah heran.«

Rowarn deutete zu der sich nach Osten ausbreitenden Gebirgskette. »Was liegt dort? Es ist so seltsam trüb und dunkel, nicht einmal die Sterne sind klar zu sehen.«

»Das Reich deines Vaters«, antwortete Pyrfinn. »Weiter in Richtung Süden liegt Warinland, dann kommen Menschenlande, die sich nach Osten und Süden ausbreiten, und irgendwo dazwischen liegt Dubhan.«

Einige Zeit verharrten sie still, bis ganz tief im düsteren Osten ein erster heller Streifen über der Horizontlinie erschien. Rowarns Körper war sofort in Alarmbereitschaft, als er einen dünnen, hohen Schrei hörte, der von keinem ihm bekannten Tier stammte. Die Nackenhaare stellten sich ihm auf, und er erschauerte. Der Schrei schien aus den tiefsten Alpträumen geboren, wo namenlose Ungeheuer seit Äonen darauf lauerten, in die Wirklichkeit zu gelangen.

Dann erklang ein Signal, ein Pfiff wie aus einer Pfeife. Ein zweiter Schrei antwortete, und dann wurden die Felsen plötzlich lebendig. Rowarn sah gleitende, schlängelnde Schatten, die sich über das Gestein wanden, durcheinander wimmelten und rasch in Richtung Boden strebten. Die Leiber waren rund, dick wie ein Baumstamm und maßen mindestens zehn Pferdelängen. Ab und zu blitzten gelbliche Augen auf. Unten sah Rowarn einen Fackelzug durch eine schmale Schlucht herannahen. Das aufkommende Licht genügte ihm, um Einzelheiten erkennen zu können. Wie Pyrfinn beschrieben hatte, trugen die Menschen Tierhäute, Felle, Hörner und Geweihe; sie wirkten äußerst unheimlich, wie finstere Fabelwesen. Doch vor ihnen brauchte der Ritter sich nicht zu fürchten – sehr wohl aber vor den Felsaalen, deren Konturen sich immer mehr aus der Dunkelheit schälten. Ihre Leiber waren glatt und silbrig glänzend, die Schnauzen stumpf und mit drei Reihen kleiner, aber sehr spitzer weißer Zähne bewaffnet. Sie besaßen große Nüstern, und unter befiederten Wülsten lagen bösartig funkelnde Augen. Hier in den steilen Felswänden konnten sie sich mühelos und in hoher Geschwindigkeit fortbewegen – das ideale Reittier im Gebirge, und dazu waren sie noch äußerst wehrhaft.

Ihren Herren gegenüber allerdings verhielten sie sich vollkommen friedfertig. Die Töne der Flöte schienen sie zu besänftigen. Rowarn musste diese Menschen bewundern, denen es gelungen war, so wilde und gefährliche Wesen zu zähmen und sich dienstbar zu machen.

Die Aalreiter steckten die Fackeln in Felsritzen und löschten sie. Als die Aale einer nach dem anderen Kopf und Nacken zu ihnen herabsenkten, zog jeder der Jäger ein buntes, mit Troddeln besetztes Geschirr hervor, das einem Pferdehalfter nicht unähnlich war. Keines sah wie das andere aus, und jeder Aalreiter schien sein Tier genau zu erkennen; woran, war Rowarn allerdings schleierhaft. Die Halfter wurden angelegt und im Nacken verzurrt und Zügel daran befestigt. Dann wurde dahinter im Nacken ein schmaler Sattel aus Holz befestigt, der vorn und hinten gut Halt gab, und die Reiter saßen auf. Es schien, als würden sie mit den Aalen verwachsen, sie bildeten eine schaurig wirkende Einheit, wahrhaftige Alptraumwesen.

Bald war die ganze Truppe zum Aufbruch bereit, und der Anführer setzte die Flöte an die Lippen und stieß einen markerschütternden Pfiff aus. Die Aale gaben keinen Laut von sich, als sie das Signal zur Jagd hörten, sondern richteten sich auf, und dann ging es über die Felsen davon wie eine Springflut. Die muskulösen glatten Leiber krochen mit wenigen Windungen schnell in die Höhe und schlugen Bögen über die Steine. Die Silhouetten der Reiter, bewaffnet mit Speer und Bogen, hoben sich vor dem zunehmenden Licht des Morgengraus ab. Binnen weniger Herzschläge war der Platz wie leergefegt.

Pyrfinn stieß Rowarn leicht an, und sie schlossen die Umhänge, schlugen die Kapuzen hoch und kletterten über die Felsen hinab. Stets auf Deckung bedacht, liefen sie durch die Schlucht. Es war hier unten noch so dunkel, dass selbst Rowarn nicht auf Anhieb alles erkennen konnte; der Zwergenläufer musste sich hervorragend auskennen, denn er konnte sich schließlich nur halb blind hindurchbewegen.

Sie kamen in einem kreisförmigen Seitental heraus, und Rowarn konnte die Umrisse von vielen in die Felsen geschlagenen Löchern erkennen, teilweise mit Überhängen versehen. Schmale Leitern führten in schwindelnde Höhen, bildeten über viele Stockwerke Stege und Verbindungen, wo es keine natürlichen Grate gab.

Aus einigen der Löcher drang Licht, und bald wurden es immer mehr, als die Menschen nach und nach erwachten, Fackeln entzündeten und den Tag begannen. Rowarn befürchtete, dass sie bald herauskommen würden, aber Pyrfinn, der die unausgesprochene Frage wohl von seinem Gesicht ablesen konnte, schüttelte den Kopf. Mit Gesten bedeutete er Rowarn: Nicht vor Sonnenaufgang.

Also gut, ihnen blieb noch ein wenig Zeit, die ersten Sterne verblassten soeben im Osten, über ihnen war noch Nacht. 

Rowarn sah oben auf den Felsgraten drei Schatten vor dem allmählich heller werdenden Himmel; die Wächter der Siedlung, auf ihren Aalen. Immerhin war es nicht mehr so dunkel, dass Rowarn auf Anhieb entdeckt werden konnte. Wenn sie dicht an den Felsen blieben, die Überhänge nutzten und auf der schmalen Kante entlang weiterkletterten, konnten sie mit ein bisschen Glück unentdeckt bleiben.

»Wie viele Wächter?«, wisperte Rowarn dem Zwerg ins Ohr.

»Nicht mehr als acht oder zehn«, gab Pyrfinn ebenso zurück. »Die anderen werden bei Tageslicht wieder zurück sein. Wir sollten uns also beeilen, jetzt ist die Gelegenheit günstig.«

Sie schlichen eng an den Felsen entlang tiefer in die Siedlung hinein. Rowarn hörte vereinzelt Säuglingsgeschrei, und ab und zu das Winseln eines Hundes. Er zählte weitere Aalreiter in den Felsen auf der anderen Seite, die nach Feinden von außen Ausschau hielten.

Pyrfinn schlug plötzlich einen Weg direkt zu den Felsen ein und begann hinaufzuklettern. Rowarn konnte Kanten und Spalten fühlen, doch ihm war nicht ganz wohl dabei, sich die senkrechte Wand nach oben zu hangeln. Jeden Moment erwartete er, dass sie entdeckt würden. Pyrfinn schien jedoch darauf zu vertrauen, dass zwei kleine Punkte in den unübersichtlichen, schroffen Felsen nicht auffielen, erst recht nicht bei diesen schlechten Lichtverhältnissen. Bei Dunkelheit waren die Augen der Menschen kaum besser als die der Zwerge.

Der Zwerg verharrte plötzlich und presste sich eng an die Felsen, und Rowarn tat es ihm augenblicklich gleich. Da hörte er es, ein feines Schaben, und winzige Kieselchen rieselten von oben herab. Rowarn sah, wie sich ein Aalschädel über den Felsgrat über ihnen schob und sich auf langem Hals herabneigte. Der Reiter wurde ebenfalls sichtbar, er spähte angestrengt nach unten.

Die beiden Eindringlinge regten sich nicht und atmeten flach. Wenn der Aal einen guten Geruchssinn besaß, war es aus.

Und tatsächlich, er blähte die Nüstern auf und witterte in ihre Richtung. Rowarn sah, wie Pyrfinn etwas aus seiner Tasche zog, es sah aus wie eine Nuss. Es gab ein knirschendes Geräusch, als der Zwerg die Schale zerdrückte – und ein süßer, nicht unbedingt angenehmer Geruch drang in Rowarns Nase.

Der Felsaal roch es auch, er klappte die Nüstern zu, stieß ein zirpendes Geräusch aus und zog sich hastig zurück. Offensichtlich wirkte der Geruch auch auf ihn abschreckend. Nachdem der Aalreiter verschwunden war, setzten die beiden jungen Männer den Weg fort.

Von einem Plateau aus bewegten sie sich oberhalb der Wohnhöhlen entlang, bis der Zwergenläufer wieder nach unten kroch. Rowarn schaute sich immer wieder um, aber die Aalreiter hielten gewohnheitsmäßig Ausschau nach Eindringlingen von außen, nur selten einmal schien einer seine Blicke durch die Siedlung schweifen zu lassen. Vermutlich langweilten sie sich dabei die meiste Zeit. Die Siedlung der Menschen lag sehr geschützt in einem einsamen Talkessel, den man nur durch Zufall entdecken konnte, da er abseits aller Wege lag. Von hier oben waren nicht einmal mehr die Leitern erkennbar.

Allmählich erkannte Rowarn, worauf Pyrfinn zuhielt – eine große, beleuchtete Höhle, die zentral auf der dritten Ebene lag. Diese wiederum war zuvor von unten nicht sichtbar gewesen. Sicher lebte hier der Dorfvorstand, oder es fanden Versammlungen statt. Vor dem Eingang hielten zwei Männer Wache.

Lautlos schlichen sich die beiden Eindringlinge von der Seite so nah heran wie nur möglich. Die Felsen boten ausreichend Deckung durch zahlreiche Nischen. Pyrfinn winkte Rowarn und wies auf einen kleinen Spalt, der von Menschenhänden künstlich erweitert worden war. Geschaffen von Neugierigen, die keinen Zutritt hatten und sich auf diese Weise informieren wollten. Rowarn grinste innerlich.

Vorsichtig spähte er durch die Ritze und erblickte in der Mitte des Raums, auf einen Stuhl gefesselt, Mirella. Sie kam mehr nach ihrem Vater, war stämmig, aber eher klein geraten, sie besaß denselben energischen Zug um die Mundwinkel wie Jokim. Sie sah ein wenig mitgenommen, aber unverletzt aus; die Kleidung war verdreckt und hatte Risse, die langen Haarzöpfe befanden sich in Auflösung. Doch ihre Augen funkelten hellwach und keineswegs freundlich. Mit dem Kopf folgte sie langsam den Bewegungen einer Person, die bisher nicht in Rowarns Blickfeld gekommen war.

»Lass mich endlich frei, bevor es zu spät ist!«, forderte die junge Zwergenfrau mit heller, klarer Stimme.

»Hör endlich auf, das ständig zu wiederholen«, antwortete eine Männerstimme ungehalten. Sie war nicht im mindesten auffällig und würde im Gewirr einer lauten Unterhaltung untergehen. »Ich weiche nicht von meinen Forderungen ab.«

»Mein Vater kann darauf nicht eingehen, und das weißt du genau.«

»Zumindest in einer Sache hat er keine Wahl.«

Rowarn zuckte zurück, als der Mann plötzlich dicht an der Ritze vorbeikam, er roch nach Tierfett und Schweiß. Er trug das Fell eines Bären und den mumifizierten Schädel auf dem Kopf. Die muskulösen Arme und Beine waren nackt und mit blauen Symbolen bemalt, zum Teil trug er Narbentätowierungen auf der Haut.

Der Mann stützte die Arme auf die Stuhllehnen und beugte sich über Mirella; es wirkte, als wäre er doppelt so groß wie sie. »Was hindert mich eigentlich daran, dich sofort zu nehmen?«

»Ich hindere dich«, zischte die Gefangene und starrte furchtlos zu ihm hoch.

»Seit wann sind Zwerginnen derart zimperlich?«

»Wir wählen sehr sorgfältig aus, mit wem wir das Lager teilen, Gomwei. Und wenn du der König von ganz Valia wärst, würde ich für dich niemals meine Decke anheben.«

»Du  hoffst wohl auf den Schutz als Königstochter«, erwiderte Gomwei abfällig lachend.

Mirellas Brust hob und senkte sich heftig über den Fesseln. »Ich sagte dir bereits, ich bin keine Königstochter! Meine Eltern sind gewählte Könige, das Volk kann sie jederzeit aus dem Amt jagen. Wenn sie abdanken oder sterben, wird ein anderer gewählt, und weder ich noch meine Geschwister werden zur Wahl antreten. Jetzt hör endlich auf mit diesem Unsinn und lass mich gehen! Ich habe ein Geschäft zu führen.«

Gomwei hob die Hand, als wolle er sie schlagen, doch dann richtete er sich auf und trat zurück. »Wir werden sehen. Ich werde dich Gehorsam lehren.«

»Davon träumst du«, prustete Mirella trocken. »Ich kenne dich, seit du mit Rotznase und barfuß im Hemdchen hinter den Hühnern hergejagt bist!« Sie riss den Mund auf, hielt den Aufschrei jedoch zurück, als Gomwei mit einem schnellen Schritt bei ihr war, in ihre Haare griff und ihren Kopf zurückriss.

»Pass auf, was du sagst!«, knurrte er. »Ich bin längst ein erwachsener Mann, und es gibt genügend Leute, die bezeugen können, dass ich ungeduldig und  wenig nachsichtig bin.«

»Zwerge sind keine Sklaven, und Zwergenfrauen kriechen vor niemandem. Glaube nicht, dass ich Tod oder Folter fürchte, nur weil ich keine Waffen trage.« Mirellas Miene zeigte Stolz.

Rowarn spürte, wie Pyrfinn neben ihm tief einatmete, und legte hastig eine Hand auf seinen Arm. »Ganz ruhig«, raunte er ihm ins Ohr. »Es ist gleich soweit.«

Der Zwergenläufer zitterte vor Zorn, doch er beherrschte sich.

Rowarn blickte sich um. Normalerweise wäre es ihm ein Leichtes gewesen, die beiden Wachen zu überwältigen, Gomwei niederzuschlagen und Mirella herauszuholen. Aber der Rückweg würde keineswegs so einfach sein. In hastigen Worten setzte er Pyrfinn seinen Plan auseinander. Er hatte unterwegs beim Umherspähen nämlich noch etwas entdeckt, das ihnen vielleicht dienlich sein konnte.



Die Morgendämmerung brach endgültig an, die Sterne über ihnen verblassten; noch wirkte die Welt farblos, solange die Sonne nicht die ersten Strahlen über den Horizont geschickt hatte. Das Zwielicht war perfekt hier im Tal, ohne lange Schatten und Konturen.

Rowarn verließ seine Deckung und tauchte ins Zwielicht ein. Unsichtbar glitt er an den Männern vorüber; er war nicht besorgt, die Sinne der meisten Menschen waren für Magie nicht empfänglich. Nur wenige konnten die Aura anderer Wesen spüren. Wenn sie überhaupt einen leichten Luftzug fühlten, so schöpfte dennoch keiner Verdacht, denn soeben wehte die Morgenbrise ins Tal herein. Unbemerkt von den Wachen betrat Rowarn die Höhle.

Der Disput zwischen Gefangener und Entführer wurde unterdessen heftig und laut fortgesetzt. Rowarn bewunderte Mirellas Mut, aber sie hörte nicht auf, Gomwei zu reizen. Daher kam er gerade zur rechten Zeit, so wie es aussah, könnte es übel für die junge Zwergenfrau ausgehen.

Als der Ritter hinter Gomwei stand, fing Mirella auf einmal zu lachen an. »Du kannst mir gar nichts anhaben!«, rief sie. »Und ab jetzt rede ich kein Wort mehr mit dir.« Und dabei sah sie Rowarn direkt in die Augen.

Natürlich, hier in der Höhle herrschte durch den Fackelschein und die Schlagschatten nicht dasselbe Zwielicht wie draußen. Rowarn war sich dessen von vornherein bewusst gewesen, deswegen hatte er einen Moment abgepasst, als Gomwei dem Eingang gerade den Rücken zukehrte.

Aber der Mann war nicht dumm und reagierte sehr schnell, fuhr augenblicklich zu Rowarn herum. Damit hatte der Ritter jedoch gerechnet, er beging keineswegs den Fehler, den Anführer der Aalreiter zu unterschätzen. Bevor Gomwei einen Laut ausstoßen oder auch nur einen Arm heben konnte, hatte Rowarn ihn mit einem Griff und einem Beinhebel zu Boden geworfen, kniete sich auf seine Brust und hielt ihm das Messer an die Kehle.

»Kein Laut, oder du bist tot«, zischte er. »Glaub nicht, dass ich irgendwelche Skrupel habe, nur weil du mir lebend vielleicht nützlicher bist.«

Die dunklen Augen des Mannes waren geweitet, verwirrt starrte er Rowarn an und versuchte zu verstehen, was hier gerade passierte und wer der seltsame Fremde sein mochte, der eindeutig kein Zwerge war. »Wer …«, begann er, verstummte aber sofort wieder, als die scharfe Schneide seine Kehle anritzte und warmes Blut über seinen Hals rann. Sein Adamsapfel hüpfte hektisch auf und ab, und sein Körper erschlaffte.

»Schon besser«, murmelte Rowarn, stopfte Gomwei ein Stoffknäuel in den Mund und drehte ihn auf den Rücken, um ihn zu fesseln. Dann riss er ihm die Kopfbedeckung und die Fellkleidung herunter, bis auf die kurze Fellhose. Auf seine Rückendeckung musste Rowarn nicht achten, weil Pyrfinn die beiden Wachen draußen übernehmen würde, sobald sie aufmerksam würden. Doch bisher war alles so schnell und still vor sich gegangen, dass sie nichts bemerkt hatten. Befehlsgemäß war ihre Aufmerksamkeit nach außen gerichtet, auf die Vorgänge im Inneren sollten sie nicht achten.

»Wer bist du denn?«, flüsterte Mirella und zappelte aufgeregt auf ihrem Stuhl, soweit es die Fesseln zuließen.

»Ich bin Rowarn«, murmelte er, überprüfte Gomweis Fesseln und stand dann auf.

»Wa- … Der König von Ardig Hall? Was machst du hier?«

»Dieselbe Frage wollte ich dir gerade stellen: was macht ein anständiges Zwergenmädchen bei diesen streng riechenden Tiermenschen?«

»Darauf warten, von einem echten Helden befreit zu werden?« Sie kicherte, während er ihre Fesseln löste, rieb sich die Gelenke und stand ein wenig wacklig auf. Dann deutete sie auf Gomwei. »Was machen wir mit dem?«

»Den nehmen wir mit«, antwortete Rowarn. »Ich denke, dass dein Vater sicher ein Wörtchen mit ihm zu reden hat. Außerdem garantiert er uns den freien Abzug, denn ich kann niemanden ins Zwielicht mitnehmen. Wir werden also gleich entdeckt werden.« Er zog das Schwert, zerrte Gomwei hoch und hielt ihn vor sich, während er sich auf den Ausgang zubewegte. »Bleib hinter mir und in Deckung.«

»Wie soll ich mich hinter dir dünnem Halm verstecken?«

Rowarn zog es vor, nichts darauf zu sagen. Als Gomwei durch den Knebel unterdrückte Laute ausstieß, versetzte er ihm einen Hieb mit dem Schwertgriff. Daraufhin verstummte der Mann erneut.

Als sie hinaustraten, herrschte immer noch Zwielicht, und Rowarn konnte den verdutzten Gesichtern der Wache ansehen, dass sie nicht begriffen, was vor sich ging. Ihr Anführer stand gefesselt und geknebelt da, und sie konnten niemanden sehen ... bis Rowarn das Zwielicht verließ und sein Schwert auf den Posten zu seiner Linken richtete. Sein rechter Arm lag nach wie vor um Gomweis Hals, die scharfe Schneide des Messer dicht an der Kehle des Mannes. Er durfte keine falsche Bewegung machen. Gleichzeitig trat Pyrfinn aus seiner Deckung und bedrohte den rechten Posten.

Blinzelnd kam nun auch Mirella aus den Schatten hervor. An den Handgelenken hatte sie stark gerötete Striemen und Abschürfungen, und sie sah im jungen Tageslicht sehr blass aus, aber der entschlossene Zug um ihren Mund hatte sich nicht verändert.

»Ein Laut, und er stirbt zuerst, und dann ihr«, warnte Rowarn, als die beiden Wachen sich zögernd ansahen. Pyrfinn ließ sie nicht zu einer Entscheidung kommen und schlug sie bewusstlos. Wie einst Morwen kannte auch der Zwerg genau die Nervenstellen, mit denen ein Gegner ohne besonderen Kraftaufwand ausgeschaltet werden konnte – wenn man denn nah genug an ihn herankam.

»Nimm ihnen die Waffen ab und wirf sie weg, bis auf die Speere«, ordnete Rowarn an.

Nun kam der kritische Moment – sie konnten nicht auf demselben Weg zurück, wie sie gekommen waren. Mirella war zu geschwächt und Gomwei gefesselt, zudem bot das Tageslicht keine Deckung. Also mussten sie auf direktem Wege ins Tal hinunter und dann durch die Schlucht, mit den Leuten der Siedlung und den Aalreitern im Genick.

»Pyrfinn, du gehst auf der Leiter voran, dann Gomwei, zuletzt Mirella. Gomwei, ich löse jetzt deine Handfesseln. Mach keine Dummheiten, ich bin schneller und besser ausgebildet als du. Ich werde dich bei der kleinsten falschen Bewegung so verletzen, dass du dir wünschst, tot zu sein – und trotzdem wirst du noch laufen können.«

Der Zwergenläufer war schon auf dem Weg nach unten, dabei ließ er den Gefangenen keinen Moment aus den Augen. Mirella hatte keine Schwierigkeiten zu folgen, obwohl ihr Gesicht schmerzverzerrt war und die Striemen an den Gelenken zu bluten anfingen.

Eine Frau, die soeben gähnend und sich streckend aus ihrer Höhle trat, entdeckte die seltsame Gesellschaft und schlug laut schreiend Alarm. Sofort waren oben die Aalreiter auf dem Posten, Rowarn zählte insgesamt acht, und wollten sich auf den Weg ins Tal machen.

»Zurück!«, brüllte Rowarn, und seine Stimme klang als vielfaches Echo bis zu ihnen hinauf. Er suchte einigermaßen Halt auf der Leiter und packte Gomwei, riss ihm den Kopf hoch und setzte ihm das Messer wieder an die Kehle. »Keine Bewegung, oder euer Anführer stirbt ... und eure Geisel ebenfalls! Ich schaffe das Mädchen hier raus, ob lebend oder tot. Wenn wir König Jokim den Leichnam seiner Tochter bringen und ihm mitteilen, dass ihr sie ermordet habt, wird er nicht erfreut sein – wie lange wird eure Siedlung dann wohl noch stehen? Und ihr seid führerlos!«

Mirella starrte Rowarn überrascht an, dann nickte sie anerkennend.

Die Wächter zögerten und hielten inne.

»Weg mit den Speeren!«, befahl Rowarn weiter. »Lasst sie fallen, alle! Sofort!« Um seiner Entschlossenheit Nachdruck zu verleihen, fügte er Gomwei eine Schnittwunde am linken Oberarm zu. Der Mann wand sich vor Schmerz und stieß unterdrückte Laute aus.

Die Wächter konnten an den Bewegungen und der Haltung des Anführers sehen, dass die Lage ernst war. Jeder musste für sich abschätzen, ob es das Risiko wert war, welche Chancen sie tatsächlich hatten. Als der erste Speer fiel, folgten die anderen rasch nach.

»Weiter!«, zischte Pyrfinn. »Ich habe dich genau im Auge, Gomwei.«

Die halbe Siedlung war bereits zusammengelaufen, als sie endlich den Talgrund erreichten. Nur wenige bewaffnete, zumeist ältere Männer waren darunter, hauptsächlich waren es Frauen, doch auch sie hatten nach Messern und Spitzstangen gegriffen. In diesem Augenblick stieg die Sonne über die Felsgrate und schickte einen strahlenden Tag herab ins Tal, vertrieb energisch die letzten Schatten und die nächtliche Kühle. 

Rowarn packte Gomwei und hielt ihn vor sich, das Messer an seiner Kehle, das Schwert in der Linken halb erhoben. »Ganz ruhig«, sprach er in die Runde.

Die Menschen umringten sie mit drohend aufgerissenen Augen, aber in nervöser und keineswegs selbstbewusster Haltung.

»Verhaltet euch ruhig«, wiederholte Rowarn und schob Gomwei weiter auf das andere Ende der Schlucht zu. »Überlegt euch gut, was ihr riskieren wollt. Ich bin Rowarn von Ardig Hall, ein ausgebildeter Ritter, der gegen Dubhan gekämpft hat. Mit euch jämmerlichem Haufen nehme ich es leicht auf, und ganz gleich, wer sich vorwagt – Gomwei wird als Erster sterben.«

Die Menschen zögerten und überlegten. Ihr Anführer blutete, also würde der fremde Krieger ernst machen mit seiner Drohung, ihn umzubringen. Und die Geisel vielleicht auch, bevor er selbst starb. Dann würde der Zwergenkönig vom Tod seiner Tochter erfahren und die ganze Siedlung auslöschen.

»Lugdurs Fluch wird euch treffen, wenn ihr nicht gehorcht!«, rief Pyrfinn und reckte warnend das Kurzschwert vor. 

»Wenn ihr vernünftig seid, braucht ihr euch keine Sorgen um euren Anführer zu machen«, fuhr Rowarn laut fort. »Ihm wird kein weiteres Leid geschehen, solange uns niemand daran hindert, zu gehen. Nach Abschluss der Verhandlungen wird er als freier Mann zu euch zurückkehren. Ob unversehrt, entscheidet allein ihr – hier und jetzt

Er wartete keine Antwort ab, sondern zwang Gomwei, weiterzugehen. Zwei ältere Männer stellten sich ihm in den Weg, aber als er das Messer an Gomweis Kehle presste und die Haut erneut anritzte, traten sie beiseite. Ein weißbärtiger Mann rief wütend irgendetwas, aber Rowarn hörte gar nicht hin. Ihn interessierten weder Drohungen noch Flüche oder auch nur Fragen. Es gab keine Verhandlung, denn sie mussten schleunigst weg, bevor die Jäger zurückkamen. Dann könnte sich das Blatt wieder wenden. Immerhin waren die Wächter oben noch vernünftig, doch auch sie würden nicht ewig untätig bleiben.

Unbehelligt, aber von etwa achtzig Augenpaaren scharf beobachtet, erreichten sie den Ausgang des Tals. Dahinter lag der Weg durch die Schlucht, den sie noch zurücklegen mussten, bevor sie ins Gebirge eintauchen konnten.

Rowarn steckte das Schwert ein und fesselte den Gefangenen wieder. »Pyrfinn, du übernimmst jetzt Gomwei. Gib mir einen Speer. Und dann rennt ihr drei, was das Zeug hält, wenn euch euer Leben lieb ist. Schaut euch nicht nach mir um und wartet auch nicht! Gomwei, auch du solltest dir meinen Befehl zu Herzen nehmen, denn wenn du zu langsam bist oder dich wehrst, lässt Pyrfinn dich zurück, und das wäre dein Tod.«

Mirella setzte zu einer Frage an, aber Pyrfinn zerrte Gomwei bereits mit sich. »Komm, Schwester, schnell, das willst du nicht sehen! Du erfährst alles, wenn wir in Sicherheit sind.« Da setzte auch sie sich in Bewegung. 

Rowarn wartete, bis die drei in der düsteren Schlucht außer Sicht waren, dann wandte er sich den heranrückenden Menschen zu, und auch die Aalreiter setzten sich wieder in Bewegung. Er hatte allerdings keinen Blick für sie übrig, sondern fixierte einen winzigen dunklen Punkt in den Felsen über ihnen, der ihm bei der Kletterpartie aufgefallen war. Keine einfache Sache, aber er hatte in Farnheim viel geübt, deshalb vertraute er seinem scharfen Auge und der Kraft seines Armes. Er zielte kurz, holte aus und schleuderte den Speer.

Die Menge blieb sofort stehen und wich zurück, bis die Menschen merkten, dass der Speer keinen von ihnen zum Ziel auserkoren hatte. Er flog hoch über ihre Köpfe hinweg, in die Felswand hinein.

Für einen Augenblick befürchtete Rowarn, zu kurz geworfen zu haben, und dann, die falsche Stelle ausgesucht zu haben. Doch da bohrte sich die Spitze ins Gestein, knapp über dem dunklen Punkt, und blieb zitternd stecken.

Die Menschen, die den Flug erstaunt beobachtet hatten, verharrten. Nur die Aalreiter kamen rasch immer näher, und die Zeit wurde für Rowarn knapp.

Ein paar Lidschläge geschah an der Einschlagstelle nichts.

Dann bewegte sich etwas unter dem Speer, der helle Klang von springendem Gestein ertönte, und das eiförmige Gebilde löste sich, fiel steil herab. Kurz vor dem Aufprall auf den Boden streifte es eine Felsspitze, wurde von der Bahn gelenkt und an der Felswand zerschmettert. Nein, vielmehr platzte es knisternd auf und offenbarte das größtenteils ausgehöhlte Innere.

Und heraus kamen wütende Winterdrohnen, es mochten Hunderte sein, die Rowarn ihrer Heimat beraubt hatte. Goldener Honig floss dick und träge über die Felsen herab, während die gestreiften Brummer mit schwirrenden, in der Sonne leuchtenden Flügeln ausschwärmten. Die einen hielten auf die Menschen im Tal zu, die anderen wandten sich gegen die Aalreiter, die gerade an ihnen vorüberglitten. Sofort brach Panik aus, die Menschen rannten in verschiedene Richtungen davon, Frauen schrien nach ihren Kindern, was die Insekten erst recht aufbrachte. Auch die Felsaale oben stießen spitze Angstschreie aus und wandten sich zur Flucht, zwei Aalreiter stürzten aus den Sätteln und fielen kreischend in die Tiefe. Die anderen hielten sich mit Mühe oben und versuchten, die Kontrolle über die panischen Tiere zurückzuerlangen.

Rowarn drehte sich um und gab Fersengeld. Bald tauchte er ins trübe Zwielicht der Schlucht ein, löste sich darin auf und hoffte, dass seine Unsichtbarkeit auch für die Winterdrohnen galt. Er rannte, so schnell ihn seine langen Beine trugen. Hinter sich hörte er das Brummen einer Handvoll Insekten, das sich bedrohlich an den Felswänden brach, doch sie flogen nicht tiefer in die düstere, kühle Schlucht, sondern kehrten wieder um in die Helligkeit und Wärme.

Erleichtert erreichte Rowarn Pyrfinn, Mirella und den Gefangenen, die kurz vor dem anderen Ende warteten, und während er keuchend in abgehackten Worten berichtete, verband Pyrfinn Gomwei die Augen und überprüfte ein letztes Mal die Fesseln. 

Kurz darauf verschwanden sie im Inneren des Berges.