Kapitel 16

Tag des Zorns


Wir werden angreifen, und zwar morgen bei Tagesanbruch.« Fürst Noïrun hatte alle im Besprechungszelt zusammengerufen: Fashirh von den Dämonen, Kriegskönig Olrig von den Zwergen, Tamron, Fabor, Ragon, Felhir und einige weitere Befehlshaber ersten Ranges, ferner Morwen und Rowarn.

Der Fürst entrollte einen Plan, der Ardig Hall und die beiden verfeindeten Heerlager zeigte. Er platzierte einige farbige Steine – Blau für Ardig Hall, Rot für Dubhan; und dazu farbliche Markierungen für einfache Soldaten, die Befehlshaber, freie Verbündete wie die Zwerge, und den Heermeister. »Die Verbindungen nach außen sind abgebrochen«, fuhr er fort. »Ich habe keine Nachricht von den Gandur und den Kúpir. In den letzten Tagen ist noch einmal Verstärkung für uns eingetroffen, doch mehr können wir nicht erwarten. Wir sind jetzt insgesamt zwanzigtausend Mann. Femris hat fünfundzwanzigtausend. Aber er ist ebenso abgeschnitten wie wir. In letzter Zeit konnten wir jeden Versorgungstross, der zu ihm wollte, aufhalten. Die wenigen, die uns durchgeschlüpft sein mögen, können keinesfalls dieses Heer ausreichend versorgen. Das bedeutet, er ist unruhig, und seine Leute sind es noch mehr. Ihre Wut wird sich steigern. Das verleitet sie zu Fehlern im Kampf, zu unüberlegtem Vorstürmen, um uns niederzumachen. Wenn wir kühl bleiben, können wir einen Vorteil erringen. Morgen

Der Rote Dämon nickte und sprach mit gedämpfter Stimme, die die Zeltplanen dennoch um Erbeben brachte: »Dem stimme ich zu. Wir sollten geballt zuschlagen und bis zum Äußersten gehen.«

»Ganz recht, Fashirh. Du und deine Dämonen, ihr werdet euch um die Dämonen in Femris' Heer kümmern. Der Rest von euch wird sich folgendermaßen platzieren ...«

Rowarn sah sehr aufmerksam zu und merkte sich jedes Wort. Er war fasziniert, wie genau Noïrun jedes Detail einplante; mochte es auch noch so viele Hindernisse und unvorsehbare Zwischenfälle geben – er schien an alles gedacht zu haben.

Die Beratung dauerte viele Stunden, immer wieder gab es Einwände und Fragen, und der Fürst wusste auf alles Antwort. Dies also hatte er in all den Tagen getan, in denen man ihn kaum erblickt hatte: Sehr genau die Stellungen des Feindes beobachtet, sein Verhalten, seine Stärke studiert, und abgeschätzt, wann der beste Zeitpunkt zum Zuschlagen war. Nicht einmal der um Jahrtausende ältere, erfahrene Unsterbliche hatte diesen Überblick, diese Ideen zur Strategie, die klare Einschätzung der eigenen Stärke.

»Morwen«, sagte Noïrun und blickte seine Tochter an, »wie weit ist deine Einheit?«

»Für alles gerüstet, Herr«, sagte sie förmlich und in aufrechter Haltung. Ihr Gesicht zeigte Stolz. »Es sind die Besten, ausgebildet zu Pferde und zu Boden, in Schwert, Bogen, Armbrust und Speer. Und einige Zwerge mit der Axt, von Olrig persönlich unterrichtet.« Sie griff in eine Schale, in der viele weitere bunte Steine lagen, und ordnete sie neben der Karte an. »So ist meine Aufteilung: Die Speere vorn, die Bogen an den Seiten, in der Mitte, flankiert von der Axt, das Schwert, und dann die Armbrust. Die Axt- und Schwertkämpfer werden nicht beritten kämpfen, damit bieten sie während des Voranschreitens zunächst kein Ziel.«

Der Fürst machte ein zufriedenes Gesicht. »Fabor, deine Bogenschützen werden den Fußsoldaten den Weg ebnen. Diese stürmen als erste vor. Fashirh, du greifst von hier an«, er setzte einen Symbolstein auf die Karte, »und du, Morwen, gehst rein, sobald die Unseren aufgehalten werden und kommst von dieser Seite. Olrig, Tamron und Rowarn, ihr geht mit mir zusammen beritten durch die Schneise, die Morwen schlägt. Wir arbeiten uns so schnell wie möglich zu dem Heermeister und Femris vor; einen von beiden müssen wir morgen erwischen. Noch eins: Das Heer von Femris besteht hauptsächlich aus Warinen, der Rest wird von menschlichen Söldnern gestellt, hinzu kommen einige Dämonen und Bestien. Ich kann ihre Anzahl nicht nennen, und auch nicht, welcher Art sie sind, denn Femris hält sie verborgen, so wie sich selbst. Allerdings sollte auch Nachtfeuer dabei sein, der Mörder unserer Königin, denn er konnte Ardig Halls Boden nach Ylwas Tod ebenso wenig verlassen wie Femris selbst. Auch seine Macht als Zwielichtgänger kann ihm da nicht helfen. Den lege ich dir also besonders ans Herz, Fashirh.«

Tamron warf Rowarn einen kurzen, warnenden Blick zu, und der junge Ritter nickte beruhigend. Dem Ziel so nahe, wollte er jetzt nicht mehr den Kopf verlieren.

Schließlich war alles gesagt, und die Befehlshaber verließen das Zelt, um ihre Leute einzuweisen und alles für den morgigen Tag vorzubereiten. Die Aufstellung würde zwei Stunden vor Sonnenaufgang beginnen, es musste schnell und so still wie möglich geschehen, um den Feind möglichst lange im Ungewissen zu lassen.

Tamron entschuldigte sich ebenfalls, um die Ausrüstung zu überprüfen, und Olrig wollte sich mit seinem Volk absprechen. Rowarn blieb noch im Zelt.

»Du solltest nicht reingehen und kämpfen«, sagte er fast flehend zu Noïrun, der die Steine zurück in die Schale warf und die Pläne zusammenrollte. »Du bist unser Heermeister, der wichtigste Mann von Ardig Hall. Mit dir steht und fällt alles. Wir können jeden einzelnen Mann entbehren, niemals aber dich.«

»Seit Tagen redet Olrig auf mich ein«, meinte Noïrun lächelnd, während er alles in der Truhe verstaute. »Was sage ich da: seit Jahren. Hat es ihm etwas genützt?«

Rowarn machte ein verzweifeltes Gesicht. »Aber warum tust du das? Keiner von uns hätte so eine Schlacht vorbereiten können wie du! Es ist doch nicht notwendig, dass du dich in Gefahr bringst! Uns allen würde der Kampf leichter fallen, wenn wir dich in Sicherheit wüssten.«

»Ich verstehe das«, sagte der Fürst. »Und ihr habt recht in allem, auch das weiß ich.« Er ging zu Rowarn und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Aber es ist meine Art, zu kämpfen. Ich bin als Krieger ausgebildet, in vielen Jahren harten Studiums. Ich kann nicht danebenstehen und zusehen. Und ich will diesem verdammten Mistkerl Femris auch noch die andere Schulter durchbohren, für all das Leid, das er uns beschert hat. Für das, was er meiner Königin angetan hat, die das Sinnbild des Friedens war. Es war mir nie vergönnt, sie kennenzulernen, doch es ist mir, als wäre ich ihr nahe gewesen. Ich werde nicht tatenlos dastehen und zusehen, wie gute Frauen und Männer erschlagen werden, weil sie dem Feind unterlegen sind. Ich werde nicht verlieren, Rowarn. Diesmal nicht.«

»So hat jeder auf seine Weise einen besonderen Grund, für Ardig Hall einzutreten, nicht wahr?«, fragte Rowarn leise.

»O ja, selbst Tamron.« Noïrun ließ seine Schulter los. »Jeder von uns. Und deshalb habt ihr genauso auch unrecht: Denn jeder ist ersetzbar, solange nur einer bereit ist, die Verantwortung zu übernehmen.« Er machte sich auf den Weg zum Ausgang. »Ich habe euch übrigens beobachtet, dich und Tamron. Ihr ergänzt euch perfekt: Zusammen seid ihr unschlagbar. Die meiste Hoffnung setze ich daher in euch. Das ist mein Ernst.« Er winkte Rowarn. »Komm jetzt, verschließen wir das Zelt und bereiten uns auf morgen vor.« 

Als Rowarn neben ihm war, schien es, als wolle er noch etwas sagen. Aber stattdessen ging er hinaus, den jungen Mann vor sich herschiebend, und verschloss das Zelt von außen. Ohne seinen ehemaligen Knappen weiter zu beachten, betrat der Fürst seine Unterkunft.



In aller Frühe, noch vor Sonnenaufgang, begannen sie mit der Aufstellung. Das war nicht einfach, denn in der Nacht hatte sich der Himmel zugezogen, und es war entsprechend finster. Die Luft roch nach Regen, und ein Wind kam von Westen auf.

Die Pferde waren still, nachdem Rowarn einige eindringlich »ins Gebet« genommen hatte, wie er flüsternd erklärte. Er wollte sich allerdings nicht dazu herablassen, Genaueres preiszugeben. Er erteilte lediglich die Auskunft, dass er diesen Trick von seinen Muhmen gelernt habe.

Im Schutz der späten Dunkelheit, um die zweite Kalte Stunde, rückten sie langsam gegen die magische Mauer vor. Auf der Seite des Feindes war alles still, aber das musste nichts besagen. Möglicherweise wurde das Heer von Ardig Hall schon erwartet.

Rowarn hörte sein Herz in der Kehle klopfen, als er auf Windstürmer stieg, voll gerüstet mit Lanze, Bogen und Schwert. Olrig und er nahmen den Fürsten in die Mitte, hinter ihnen reihte sich Tamron ein. Er ritt einen isabellfarbenen Wallach, der in den vergangenen Tagen im Lager seinem Herrn auf Schritt und Tritt gefolgt war und es jetzt anscheinend kaum erwarten konnte, so temperamentvoll schritt er aus. 

Als sie auf den weißlich schimmernden Wall zuritten, zeigte sich das erste fahle Licht am Himmel, ein Schattenriss geballter Wolken, die vom Wind gejagt immer schneller dahinzogen, ab und zu Blitze verschießend. War dies nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Seit langem hatte es nicht mehr geregnet, und ausgerechnet heute würde es wohl dazu kommen. Rowarn erinnerte sich, dass es bei der Schlacht mit den Warinen ganz ähnlich gewesen war – zuerst Regen, dann Nebel. Als ob Lúvenor selbst die Sonne schützend verdeckte, damit sie dem Blutbad nicht zusehen musste.

»Sie sind bereit«, flüsterte Tamron hinter ihnen, der noch schärfere und ebenso nachtsichtige Augen hatte wie Rowarn. »Eine dunkle, leicht schwankende Woge, die sich nicht entscheiden kann, ob sie Flut oder Ebbe ist.«

Fürst Noïrun, Heermeister von Ardig Hall, gab das erste Zeichen, und das Heer schwärmte an den Flanken aus, zerfloss wie Butter in der Sonne, nicht mehr als eine formlose Masse im anbrechenden Tag.

Allmählich schälten sich für Rowarns Augen erkennbar finstere Gestalten aus der weichenden Dunkelheit. Der Wind von Westen nahm zu und zauste Windstürmers Mähne, bevor er weiter zum Feind blies. Nun konnten die Dubhani ihre heranrückenden Gegner zusätzlich wittern, und bestimmt gab es den einen oder anderen empfindlichen Geruchssinn, der genau herausfiltern konnte, wie viel Angst in so mancher Rüstung verdunstete. 

Rowarn war allerdings nicht undankbar, dass der Wind mit ihm kam, denn er wollte den Gestank der Feinde nicht noch einmal aufnehmen; er hatte vom letzten Mal genug, als er die Grenze erkundet hatte. Femris führte einige Bestien in seinem Heer, die schlimmer als brünstige Raubtiere rochen. Und da die Dubhani bereitstanden und Ardig Halls Truppen erwarteten, war ohnehin kein Überraschungsangriff mehr möglich, der ein Anschleichen gegen den Wind erforderlich gemacht hätte.

Auf beiden Seiten fiel kein einziges Wort, die Befehle wurden stumm, mit Gesten und Zeichen gegeben. Vor dem Heermeister von Ardig Hall ritt ein Träger mit hochgehaltener, stolz wehender Fahne. Rowarn sah Fashirh und die drei Söldner-Dämonen ganz vorne, schon kurz vor dem Wall.

Das Heer hielt an. Die Sicht wurde immer besser, je weiter der Morgen voranschritt. In der Ferne war ein dumpfes Gewittergrollen zu hören.

Über die magische Grenze hinweg musterten sich die Krieger und Söldner, Getreuen und Soldaten. Rowarn war so aufgeregt, dass er nicht wusste, ob er Angst empfand, und ob er sich des möglicherweise nahenden Todes bewusst war; ob er überhaupt irgendetwas dachte. Er starrte mit brennenden Augen auf die anderen drüben, jenseits des Milchschleiers, in ihren schweren Rüstungen, mit geschlossenen Visieren, fantasievollen Helmen und erstaunlichen Waffen. Zum ersten Mal war er dem Feind so unmittelbar nahe. Er versuchte, das Heer zu überschauen, irgendwo einen Blick auf den legendären Unsterblichen zu erhaschen, der nach der Macht des Tabernakels gierte und dafür seit Jahrhunderten Tausende von Lebewesen opferte. Auf beiden Seiten.

Er entdeckte Menschen, ein paar Zwerge, einige unbekannte Geschöpfe und vor allem Warinen, und plötzlich sprudelte sein Verstand über vor Gedanken, die sich gegenseitig an Wichtigkeit zu verdrängen suchten.

Die Warinen waren größer als Zwerge und grobschlächtig, mit überlangen Armen. Sie bevorzugten Morgensterne und doppelschneidige Äxte als Waffen, sowie schwere Säbel. Ihre Rüstungen waren besonders auffällig gestaltet, teilweise mit Menschen- oder Zwergenhaar und getrockneten Daumen erschlagener Gegner verziert. Sie waren ein Kriegervolk, das keine anderen Interessen außer dem Kampf kannte. Nur deshalb waren die Warinen überhaupt entstanden, dafür hatte eine große Zwergensippe den Bund mit den Dämonen geschlossen und »Dämonenblut«, die Lebensessenz, erhalten. Sie hatten sich für diesen Weg als den einzig wahren entschieden und waren ihn konsequent bis zum Ende gegangen. Im Lauf der Zeit hatten sich weitere Zwerge verschiedener Stämme angeschlossen, und so entstand schließlich das Volk der Warinen. Und die Frauen, hieß es, waren nicht weniger kriegerisch und von nahezu derselben Gestalt und Stärke wie die Männer, sodass sie in der Rüstung nicht voneinander zu unterscheiden waren. 

Sie lebten in der Nähe des Dämonenreiches und standen ihren »Blutsbrüdern« zur Seite, wann immer sie zum Dienst gerufen wurden. In den Bergen des Ostens, bis zum Norden, gab es immer noch viele Gefahren aus der Altvorderenzeit, denen sich auch Dämonen nicht so leicht stellen konnten. 

Als besondere Delikatesse bei den Warinen sollten die Augen der gefallenen Gegner gelten, aber das konnte auch ein Schauermärchen für Kinder sein. Rowarn fragte sich dennoch, was diese Wesen wohl für Gedanken hatten. Gab es noch irgendetwas in ihrem Bewusstsein, das zwergischem Denken ähnelte? Besaßen sie Gefühle? Dachte der eine oder andere von ihnen an die Familie, die er zurückgelassen hatte? Unterstützten sie Femris wegen des Tabernakels, oder weil sie dafür Sold erhielten? Das fand Rowarn besonders wichtig, denn davon hing es ab, wie weit sie gehen würden. Im Glauben an eine Sache ergaben sich die einen keinem Feind, höchstens dem Tod. Aber wenn es nur um die Bezahlung ging, achteten die anderen sicherlich darauf, so lange wie möglich am Leben zu bleiben. Wie entschlossen würden sie also sein?

Plötzlich einsetzender Platzregen rauschte in Rowarns Gedanken und spülte sie fort. O nein, nicht jetzt, dachte er. Es wird eine Schlammschlacht geben, die keinem zum Vorteil gereicht, und dann endet wieder alles unentschieden. So langsam konnte er verstehen, weshalb dieser Krieg nun schon über ein Jahr dauerte.

Die zuvor stolz wehende Fahne hing schwer und nass herunter, nicht einmal der kräftige Wind konnte sie mehr hochhalten. Die Sicht wurde wieder schlechter, alles verschwand hinter grauen Schleiern. Im Nu weichte der Boden auf, und die Pferde stampften unwillig.

Alles wartete.

Der Heermeister öffnete schließlich den Mund und sprach nur ein einziges Wort, das vom Wind aufgenommen und fortgerissen wurde, herumgewirbelt und zerfetzt. Doch es erreichte zuvor den Fahnenträger, und nur für ihn war es bestimmt: »Jetzt.«

Die Fahne ging nach unten.

»Angriff«, flüsterte Rowarn, und er hatte das Gefühl, er müsse gleich in tausend Stücke zerspringen.

In diesem Augenblick donnerten die Ritter an vorderster Front mit lautem Kriegsgeschrei voran, gefolgt von den Fußleuten, die sich den Schreien anschlossen, und dann fegten die Dämonen los, und Morwens hundertköpfige Einheit, und dann war es auch für Rowarn so weit, und er hatte keine Zeit mehr nachzudenken oder gar aufgeregt zu sein.

Der Kupferhengst hatte den Fahnenträger längst überholt, selbst durch den strömenden Regen konnte man die Anspannung seiner mächtigen Muskeln sehen, als er mit schmetterndem Gewieher auf die Feinde zustürmte.

Tamron war der nächste, der an Rowarn und Olrig vorbeischoss, und sie schlossen sich ihm an. Den Pferden war klar, dass es kein Zögern geben durfte, und sie flogen über den Boden, um den Kupferhengst einzuholen. Die Schlacht war bereits in vollem Gange, Schreie und Klirren, Befehle und tierische Laute vermischten sich zur unverwechselbaren Melodie.

Rowarn zog an dem Fürsten vorbei, die Lanze stoßbereit, und nahm den ersten Reiter, der ihnen entgegenkam, zum Ziel. Mit dem heruntergelassenen Visier konnte er nur schlecht sehen, und der Regen machte das Zielen noch schwieriger, aber Windstürmer wusste, wie er seinen Herrn in die richtige Position bringen musste. Der feindliche Reiter hatte noch kaum beschleunigt, geschweige denn die Lanze richtig angesetzt, da fegte Rowarn ihn bereits vom Ross. Der andere stürzte mit einem lauten Schrei, blieb jedoch im Steigbügel hängen und wurde von dem durchgehenden Pferd mitgeschleift. Rowarn hatte gerade noch Zeit, seine intakte Lanze erneut hochzunehmen, als er schon den nächsten entdeckte, der den Kupferhengst ansteuerte. 

Der Fürst, Tamron und Olrig ließen Schwerter und Äxte kreisen, und Regen mischte sich mit Blut. Rowarn jagte quer an ihnen vorbei, rammte dem heranstürmenden Reiter die Lanze durch das geschlossene Visier ins Auge und war bereits in der Wendung, noch ehe der tödlich Verwundete aus dem Sattel stürzte. Wieder quer zurück, mitten hinein in eine ankommende Gruppe von fünf Warinen, die soeben Speere werfen wollten, doch nie mehr dazu kamen. Die Lanze in der rechten, das Schwert in der linken Hand, ließ Rowarn Windstürmer direkt in sie hineinrasen. Das Pferd brachte schon zwei durch seine Körpermasse zu Fall und zertrampelte sie unter den mit schweren und scharfen Eisen beschlagenen Hufen. Die anderen drei fielen innerhalb weniger Augenblicke durch das Schwert.

Rowarn wunderte sich, wie schnell und stark er war. Wie es aussah, befand er sich in seiner gefürchteten Raserei – aber diesmal blieb er bei Sinnen und wütete nicht blind. Er wusste nicht, woher diese Stärke in ihm kam, sie durchströmte ihn wie ein brennender Fluss. Aber auch Windstürmer schien davon befallen zu sein, denn er bewegte sich schnell wie ein Pfeil, seine Wendungen und Biegungen glichen einem Tanz. Er bewegte sich selbstständig, brauchte so gut wie keine Anweisung, wusste, was von ihm erwartet wurde.

Rowarn schob die Lanze in die seitliche Halterung; sie hatten beide, Pferd und Reiter, gelernt, dieses Ungleichgewicht zu tragen, ohne in der Bewegung beeinträchtigt zu werden. Dann griff der junge Nauraka zum Bogen, lenkte Windstürmer direkt vor den vorgaloppierenden Fürsten, ließ ihn auf wenige Pferdelängen Abstand vor ihm Kreise ziehen und schickte den gefährlichsten Angreifern gezielt tödliche Pfeile entgegen. Als der Köcher leer war, holte Rowarn sich von einem Gefallenen ein zweites Schwert und stürmte in die feindlichen Reihen hinein.

Obwohl er sich zuvor einen Überblick verschaffen wollte, oder wenigstens eine kurze Absprache mit dem Fürsten halten, konnte Rowarn sich nicht bremsen. Die Raserei trieb ihn an. Er schlug eine Bresche in die Reihen der Warinen und nahm erst nach einer Weile wahr, dass Tamron neben ihm auftauchte.

»Mir nach!«, schrie der Unsterbliche. »Der Weg ist fast frei, jetzt stürmen wir den Hügel!«

Von Hügel zu sprechen, war ein wenig übertrieben. Es war nicht mehr als eine Anhöhe, auf der die Befehlshaber der Dubhani standen. Trotzdem war genau das ihr Ziel, denn irgendwo dort musste sich auch Femris befinden. Fashirh war bereits ganz nahe, er und die drei Söldner-Dämonen schlugen eine gewaltige Schlacht gegen die Dubhani-Dämonen. War Nachtfeuer unter ihnen? Für Rowarn sahen sie alle gleich riesig und unbesiegbar aus.

»Was ist mit ...«, begann Rowarn, aber Tamron winkte ab.

»Der Heermeister hat uns den Befehl erteilt, und wir müssen ihn befolgen! Komm schon, wir schaffen es, du und ich!«

Ja, das glaubte Rowarn auch. Obwohl Tamron nicht in Raserei geriet, kämpfte er nicht weniger schnell und mächtig wie der junge Ritter. Sie hatten eine lebende Mauer von mindestens vierhundert Warinen, Bestien und Menschen vor sich. Von »der Weg ist fast frei« zu sprechen, war daher äußerst kühn. Doch irgendwie gab es keinen Zweifel, dass sie genau jetzt, in diesem heiligen Moment, den Durchbruch schaffen würden. Sie waren eine Einheit, jeder wusste genau, was der andere im nächsten Moment tun würde.

Auch die Pferde bewegten sich im selben Takt. Der Regen wusch Schweiß und Schaumflocken ab, und sie liefen unvermindert kraftvoll. Kopf an Kopf brachen sie sich ihre Bahn durch die Feinde, Tamron schlug nach links, Rowarn nach rechts.

»Bereite dich darauf vor, die Lanze im rechten Moment einzusetzen!«, brüllte Tamron. »Unmittelbar wirst du nicht an ihn herankommen. Ich werde dir Deckung geben!«

»Aber wie erkenne ich ihn?«, rief Rowarn zurück.

»Du wirst es wissen! Andernfalls zeige ich ihn dir.«

Die Anhöhe rückte immer näher. Auch Fashirh stand kurz vor dem Durchbruch. Und da, genau wie von Noïrun geplant, kam Morwen mit ihren Rittern angaloppiert, während der Rest der Einheit ihr Deckung gab.

»Wir ... wir schaffen es ...«, stammelte Rowarn. Dann brüllte er: »Wir schaffen es! Wir brechen durch! Wir werden es beenden, hier und jetzt!«

Dass er vor Nässe triefte, dass nicht einmal mehr seine Füße trocken waren, dass der Regen ihm ins Gesicht peitschte, weil er mit dem geschlossenen Visier nicht mehr genug sehen und atmen konnte, dass Windstürmer schon bis zu den Fesseln im Schlamm versank und sich mühsam die normalerweise leichte Steigung hinaufkämpfen musste – all das nahm er nicht mehr wahr. Seine Augen brannten, er sah nur noch das Ziel vor sich, während er um sich schlug. Kein Feind konnte ihm auch nur annähernd nahe genug kommen, um gefährlich zu werden. Rowarns Arm- und Beinschienen, auch der Harnisch hatten ihn bisher vor Verletzungen bewahrt. An der Wange hatte er einen Kratzer von einem vorbeisausenden Pfeil erhalten, aber ansonsten war er unversehrt, was an sich schon ein Wunder darstellte.

Er grinste Tamron zu, fletschte dabei mehr die Zähne, als dass er wirklich lächelte, und erhielt eine ähnliche Grimasse als Antwort.

Noïrun hatte gewusst, wovon er sprach. Er hatte genau dies vorausgesehen. Der Unsterbliche und der Nauraka waren nicht aufzuhalten. Rowarn befand sich im Rausch, sein Körper handelte schon, noch bevor es ihm bewusst wurde.

Nun waren sie fast vereint, Morwen befand sich bereits in Rufweite. Fashirh hatte einen Dämon zu Boden geschlagen und riss ihm soeben die Brust auf, aus der grell leuchtend die Lebensessenz hervorströmte, funkensprühend aufstieg und schließlich zerbarst. Der Leib des Toten wurde schwarz und sank in sich zusammen.

Die Dubhani befanden sich nahezu in Auflösung. Die einen versuchten, sich zum Heermeister von Ardig Hall durchzuschlagen. Die anderen wandten sich der Anhöhe zu, um sie zu verteidigen, doch zu spät, wie es schien. Obwohl sie gerüstet gewesen waren und in Ruhe den Angriff abgewartet hatten, hatten sie mit diesem Vorstoß nicht gerechnet. Zumindest diese Überraschung war den Getreuen von Ardig Hall gelungen.

Rowarn sah Rayem, der sich das Pferd eines Feindes geschnappt hatte und schwertschwingend an Morwens Seite kam, als sie in Bedrängnis durch einige Warinen und Menschen geriet. Bald war der Weg wieder frei.

»Die Dubhani schaffen es nicht!«, rief er. »Sie können uns nicht aufhalten! Wir haben das Heer bereits hinter uns gelassen! Diese wenigen hier können uns nicht abwehren, und die anderen kehren zu spät um!«

»Ja«, sagte Tamron grimmig. »Ja, mein junger Freund, diesmal haben wir sie. Und das verdanken wir nur einem Heermeister, wie Ardig Hall nie zuvor einen hatte! Vor achthundert Jahren hätten wir ihn gebraucht, als das Schloss zum ersten Mal gestürmt wurde, dann würde es immer noch stehen in stolzer Pracht und nicht versinken im Schmerz der Feuersglut.«

»Jetzt ist auch noch Zeit genug«, gab Rowarn zurück. »Wir können das Schloss wieder aufbauen, wenn die Zeit des Schreckens geendet hat!« Angestrengt hielt er Ausschau nach Femris. Dessen Befehlshaber waren völlig außer sich, verließen ihre Posten oder brüllten die Soldaten an, griffen gar zur Peitsche, um sie voranzutreiben. Die Anhöhe war fast leer, und doch ... Rowarn hatte das Gefühl, einen sich bewegenden Schatten zu sehen, schmal und groß, und ... das Aufblitzen eines Augenpaars, das ihn ähnlich zutiefst erschreckte wie der Blick der Eliaha. Nein, der noch tiefer ging, bis auf den Grund seiner Seele. In sie hineinblickte und die Hand ausstreckte, um in seine Seele zu greifen, herauszuholen, was ...

»Nein!«, schrie Rowarn auf.

Sein Schrei ging in einem donnernden Gebrüll unter, das alle, Verteidiger wie Angreifer, zutiefst erschauern ließ und für einen Augenblick den Kampf unterbrach. Selbst die Krieger im Kampf Mann gegen Mann fuhren auseinander und verharrten.

Windstürmer rammte die Hufe in den Boden, grub zwei tiefe Furchen und stoppte abrupt.

Geisterhafte Stille legte sich plötzlich über die Heere, die völlig erstarrt waren. Selbst der Regen schien für einen Moment innezuhalten.

Über die Anhöhe, mit wenigen Schritten hinab, kam ein riesiges Geschöpf, doppelt so groß wie Fashirh, wenn nicht mehr. Ein langer, in einem Dorn endender Peitschenschwanz schlug um starke Bocksfüße. Der haarlose Rumpf war einem menschlichen Mann ähnlich, ebenso die langen, mit gewaltigen Muskeln besetzten Arme, und die Hände, groß wie Fässer, mit handspannenlangen Krallen. Auf einem nackten menschlichen Hals saß der gewaltige Schädel eines Widders, mit mehreren Speerlängen großen, leicht gebogenen Bockshörnern. Aus den Nüstern schlugen Flammen, das zähnestarrende Maul war das eines Raubtiers, und die Augen mit der länglichen Ziegenpupille glühten erbarmungslos in wilder Mordlust. Speichel troff von den Lefzen herab, und seine Nase legte sich in Falten, als er seinen schrecklichen Blick über die Heere schweifen ließ.

»Was ...«, flüsterte Rowarn.

»Das«, erklärte Tamron, und selbst er war bleich geworden, »ist der Bepheron. Der Schrecken der Alten Welt.«

In seiner linken Hand trug der Heermeister von Dubhan, der Bluttrinker, eine goldglänzende, mit Stacheln besetzte Keule, die mehr als eine Pferdelänge maß. In der Rechten lag ein Speer.

»Lúvenor steh uns bei!«, stieß der Unsterbliche in panischem Schrecken hervor. »Das ist Noïruns Speer!«



Noch immer herrschten Stille und Reglosigkeit, als der Bepheron den vergleichsweise winzigen Speer in seiner Hand wog und dann warf, scheinbar ungezielt, denn seine glühenden Augen hatten keinen bestimmten Punkt fixiert. Unwillkürlich folgte jedermann dem Flug des Speeres.

Und für Rowarn versank alles um ihn herum. Er sah Tamron nicht mehr, nicht den Feind, sah nur noch einen einzigen Punkt in der Ferne, einen Mann auf einem Pferd, der gerade sein Schwert aus einem fallenden Gegner zog und dem die Stille jetzt erst aufzufallen schien (obwohl sie bisher ohnehin nicht länger als zehn Herzschläge andauern konnte). Dann blickte er nach oben. Genau zu dem Speer, der mit scharfer Spitze auf ihn zuflog.

Rowarn öffnete den Mund.

Alles hielt den Atem an.

Der Fürst blickte erstaunt, doch ohne Furcht, verharrte reglos.

Der Speer hatte den Bogen vollendet und senkte sich auf seinen ehemaligen Herrn herab, der ihn einst gegen Femris geführt hatte.

»N...«, fing Rowarn an.

Der Kupferhengst stieg, stieß sich mit den Hinterbeinen ab und flog dem Speer entgegen.

»...ei...«

Der Speer bohrte sich tief in die Brust des Pferdes, bis über die Metallspitze hinaus. Der Hengst riss das Maul auf, Schaum spritzte heraus, und der erste Ton seines schrillen Schmerzensschreis erklang.

»...n ...«, vollendete Rowarn.

Das schmetternde Wiehern des Kupferhengstes übertönte die gelähmte Stille. Noch im Sturz, im Sterben versuchte er, seinen Herrn zu beschützen. Er wollte auf den Beinen landen, um den Reiter nicht zu gefährden. Doch die Wucht war zu stark, der Körper zu schwer. Er knickte ein, fiel um und begrub den Heermeister unter sich.

Dann geschah alles gleichzeitig.



Rowarn sah, wie Olrig zu dem gestürzten Pferd rannte, und er hörte Morwens gellenden Schrei: »Tod dem Bluttrinker!«

Ihr Schrei wurde schallend aufgenommen, und in Wut und Hass stürmten die Truppen Ardig Halls auf den Bepheron zu, schleuderten Speere und verschossen Pfeile und achteten nicht darauf, dass er alles mit gleichgültigen Gesten wegwischte, ebenso die Kämpfer, die ihm zu nahe kamen.

Morwen donnerte heran. »Rowarn!«, schrie sie. »Was stehst du hier herum, beschütze meinen Vater!«

»Ich ... ich kann nicht«, stieß er hervor. »Ich muss dir helfen, wenn du den Bepheron angreifst! Aber was du vorhast, ist Wahnsinn!«

»Du bist an deinen Eid gebunden!«, brüllte sie ihn an. Ihre Augen loderten wie unkontrollierte Brände, die langen, nassen Haare umpeitschten ihr Gesicht. »Geh, oder ich töte dich!« Sie hob das Schwert, und er sah ihr an, dass es ihr ernst war.

»Geh!«, sagte auch Tamron. »Vielleicht lebt Noïrun noch, dann bring ihn in Sicherheit! Er ist wichtiger als alles andere! Wichtiger selbst als der Splitter in diesem Moment, denn der ist uns jetzt ferner denn je! Rowarn, geh! Ich werde doppelt kämpfen, für uns beide, denn auch unser Bund gilt! Ich schwöre dir, noch bevor sich der Tag dem Ende zuneigt, ist der Bepheron vernichtet!«

»Wir töten ihn, Rowarn! Für meinen Vater, für dich, für uns alle!« Morwen hob ihr Schwert und schrie aus Leibeskräften. »Ardig Hall! Ardig Hall!«

Von allen Seiten strömten die Krieger auf sie zu, und die letzten Ritter schlossen sich zusammen und folgten ihr, wobei sie riefen: »Für Morwen! Für den Sieg! Für den Heermeister! Für Ardig Hall! Tod dem Bluttrinker!«

Rowarn sah, wie sie zu Rayem aufschlossen, der bereits auf den Bluttrinker zusteuerte. Der junge Ritter riss Windstürmer herum und galoppierte schluchzend zurück. Seine Tränen vermischten sich mit dem Regen, der soeben wieder strömend einsetzte.

Obwohl der Heermeister von Ardig Hall gefallen schien, verloren wohl eher die Truppen von Femris den Mut, denn die nunmehr zu allem entschlossenen, vor Rachedurst rasend gewordenen Soldaten Ardig Halls drängten sie mehr und mehr zurück. Rowarn hatte bald freien Durchlass zu dem toten Kupferhengst, der in einer riesigen Blutlache im Schlamm lag. Um ihn herum hatten Ritter und Soldaten einen schützenden Ring gebildet. Olrig lag im Schlamm, stützte sich mit den Armen ab und stemmte die Füße gegen den schweren Pferdeleib, um ihn wegzuschieben. Rowarn sprang von seinem Pferd, noch bevor es anhielt, und rannte zum Kriegskönig.

»Er lebt!«, schrie Olrig. »Aber er ist bewusstlos.«

Gemeinsam gelang es ihnen, den Kadaver ein Stück zu verschieben, und sie zogen den Fürsten darunter hervor. Olrig öffnete den Harnisch und tastete Noïrun hastig ab. »Ein Wunder«, keuchte er. »Der Schlamm hat nachgegeben, das hat die Wucht des Aufpralls gedämpft. Er hat nichts gebrochen, soweit ich jetzt feststellen kann.«

»Auf mein Pferd!«, sagte Rowarn. »Wir müssen schnell hinter die Grenze.«

Olrig hob den Fürsten auf und legte ihn mit Rowarns Hilfe auf Windstürmer. Dann hielten sie inne. Der Kampf gegen den Bepheron war in vollem Gange, und der Lärm übertönte alles. Das riesige Geschöpf hielt ein furchtbares Blutgericht, doch inzwischen blutete es selbst aus zahlreichen Wunden. Rowarn stockte der Atem, als er Morwen erkannte, die den Bepheron ansprang und ihm das Schwert bis zum Heft in die Seite trieb. Tamron und Rayem waren an ihrer Seite, stießen ebenfalls ihre Schwerter tief in den Schrecken der Alten Welt. 

»Lugdurs Kraft sei mit ihnen«, stieß Olrig entsetzt hervor, als der Bepheron mit der Keule ausholte. Rowarn schloss die Augen, als er zuschlug. »Morwen ...«, hörte er Olrig heiser krächzen, mit tiefem Grauen in der Stimme. Rowarn schluckte den Aufschrei hinunter und drehte sich um, ohne einen Blick zurückzuwerfen, er wagte es nicht. Er schwang sich hinter den Fürsten auf Windstürmers Kruppe, hielt den Bewusstlosen fest und trieb den Falben an.

Die Schlacht befand sich auf dem Höhepunkt, während der gewaltige Bepheron schließlich fiel und dröhnend aufschlug, dass der Boden noch im Lager von Ardig Hall bebte. Als der Bluttrinker endlich lag, waren die überlebenden Soldaten sogleich über ihm und schlugen und hackten auf ihn ein, bis er zu einer unkenntlichen Masse zerstückelt war und sich nicht mehr regte.

Olrig und Rowarn erreichten das Lager und brachten Noïrun in sein Zelt, wo sie ihm die Rüstung auszogen. Der eilig herbeigerufene Heiler untersuchte ihn, und drückte ihm dann einen mit Kräuteressenz getränkten Schwamm an die Lippen.

Kurz darauf schlug der Fürst die Augen auf. »Was ... was ist passiert?«

Rowarn und Olrig weinten vor Trauer und Erleichterung. Sie gaben sich Mühe, brachten aber kaum ein verständliches Wort heraus. Erst nach und nach erfuhr Noïrun, was geschehen war.

»Morwen?«, fragte er.

Rowarn wich seinem Blick aus. Olrig schüttelte langsam den Kopf. »Ich ... hege wenig Hoffnung ...« Er ging hastig zum Zelteingang und sah hinaus.

Noïrun tastete sich ab. »Ich ... ich bin nicht verwundet«, stieß er hervor. Dann packte er Rowarn am Harnisch und schrie ihn an: »Was hast du getan? Warum hast du deinen Platz verlassen? Warum hast du Morwen nicht aufgehalten? Das war Irrsinn! Ihr hättet euch sofort zurückziehen müssen, seid ihr denn alle wahnsinnig geworden?«

Vom Zelteingang her meldete Olrig: »Die Schlacht ist ja beendet, Noïrun. Es kommen gerade alle zurück.«

»Die noch da sind!«, schrie der Fürst weiter. »Wie viele sind es? Wie viele Soldaten haben wir verloren? Wie viele Ritter sind verblieben?«

»Ich werde es dir sagen. Gedulde dich nur einen Moment.« Der Kriegskönig hastete nach draußen.

Noïrun schüttelte Rowarn und schlug ihm ins Gesicht. Der ließ alles willenlos mit sich geschehen. Er hätte sich auch nicht gewehrt, wenn der Fürst das Messer gezogen hätte, um ihn zu töten. »Du hast meine ... Morwen im Stich gelassen!« Vor Anstrengung und Fassungslosigkeit klang seine Stimme heiser. 

Er stieß Rowarn von sich, der wie ein Sack Erdknollen zu Boden plumpste. In sich zusammengesunken blieb er sitzen. »Das habe ich nicht«, sagte er leise. »Sie hat mir den Eid abgenommen, dass ich mich niemals für sie entscheiden darf. Sie hat von mir verlangt, dich zurückzubringen.« Gequält blickte er zu dem Fürsten auf. »Sie hat die Verantwortung an deiner Stelle übernommen und den Befehl erteilt! Hätte ich ihn nicht befolgt, hätte sie mich getötet.«

»Ich sollte dich dafür töten«, murmelte Noïrun, der wie erschlagen dasaß, sich aber langsam zu fassen schien. Zumindest schrie er nicht mehr, und er griff Rowarn auch nicht wieder an.

»Ich weiß, dass du mir das nie verzeihen wirst«, fuhr Rowarn fort. »Aber du selbst hast einst zu mir gesagt, dass man die Gefühle nie über die Pflicht stellen darf, und daran habe ich mich gehalten.«

»Lass den Jungen in Ruhe«, erklang Olrigs Stimme vom Eingang. Er stellte sich neben den jungen Ritter. »Er hat das Richtige getan. Wir können auf jeden verzichten, aber nicht auf dich. Deine Strategie ist aufgegangen, bis zu dem Punkt, an dem der Bepheron eingriff. Wir konnten nicht damit rechnen, dass er nur auf dich zielen würde, und das auf diese Entfernung. Ohne diesen verdammten Schafsbock hätten wir es tatsächlich geschafft, sie waren alle schon fast auf der Anhöhe. Aber in diesem schwarzen Moment hat sich dein Pferd für dich geopfert und Ardig Hall gerettet! Und Morwen hat die Schlacht für dich gewonnen! Soll das umsonst gewesen sein? Es wäre sowieso alles gekommen, wie es jetzt ist, aber mit dem Unterschied: Du bist am Leben, der Bepheron nicht! Und soweit ich abschätzen kann, hat Femris gut zweitausend Soldaten mehr verloren als wir.« 

Er kämpfte erneut mit den Tränen. »Leider sind Morwen, Rayem und wahrscheinlich auch Tamron darunter«, sagte er leise. »Fashirh ist gerade eingetroffen und hat mir berichtet.«

Für einen Moment herrschte Stille im Zelt.

»Lasst mich jetzt allein«, sagte Noïrun schließlich beherrscht, stand auf und setzte sich an den Tisch. Er griff nach Feder und Tintenfass. »Ich muss an Morwens Mutter und Rayems Eltern eine Nachricht schicken. Die Liste wird lang werden, und ich kann mit diesen beiden beginnen, während du die anderen Namen zusammenstellen lässt, Olrig.«

»Natürlich«, sagte Olrig. »Brauchst du sonst noch etwas?«

Noïrun schüttelte den Kopf. »Nichts. Ich will nur allein sein. Bitte

Olrig ging voraus. Als Rowarn von außen die Zeltbahnen schloss, sah er Noïrun über den Tisch gebeugt sitzen, das Gesicht in den Händen vergraben, und mit zuckenden Schultern leise schluchzen.

»Was habe ich getan ...«, flüsterte Rowarn. Die Tränen liefen ihm über die Wangen.

»Das Richtige«, wiederholte Olrig. Seine blauen Augen schwammen ebenfalls. Er klopfte Rowarn auf die Schulter, wollte noch etwas sagen, wandte sich dann jedoch schweigend ab und steuerte sein Zelt an.

Rowarn hastete zu seinem eigenen Zelt, wo er fast mit Jelim zusammenstieß, die dort auf ihn gewartet hatte. »Jelim ...«, stieß er hervor. »Ach, Jelim ...«

Schluchzend warf sie sich an seine Brust, und lange Zeit standen sie da, sich gegenseitig umklammernd, verloren in Schmerz und Trauer. Und während draußen der Regen aufhörte und die Heiler all die vielen Verwundeten versorgten, und Knechte die Toten holten, und die Überlebenden der Schlacht verloren beieinandersaßen und dem Ende des Tages entgegendämmerten, hielten sich Rowarn und Jelim gegenseitig fest im Arm, jeder Trost suchend in der Wärme des anderen.