Kapitel 36

Die Lichtlose


Angmor weckte die Gefährten noch vor der Morgendämmerung. Es war eine ruhige Nacht gewesen, in und um Dubhan hatte sich nichts gerührt. Der Visionenritter sah darin nichts Ungewöhnliches, und die anderen wollten ihm glauben.

Rowarn betrachtete den Turm, der ein rechteckiges Loch in die Nacht stanzte, und es schüttelte ihn. So glatt und unscheinbar Dubhan auch aussehen mochte, etwas Grauenvolles strömte von der Burg aus, die ihren Namen völlig zu recht erhalten hatte.

»Reeb, Lara, ihr beide bleibt hier und bewacht die Pferde«, ordnete Angmor an. »Es ist besser, wenn nur Machtträger die Burg betreten. Haltet euch versteckt, und ...« Er unterbrach sich, und alle fuhren herum, als hinter ihnen im Wald etwas krachte und knackste. Etwas Großes und Schweres stampfte heran, rücksichtslos alles niedermähend, was ihm im Weg war.

Rowarn sah Graum mit verschränkten Armen grinsend dastehen, und seine Augen weiteten sich. Das würde doch nicht etwa ...

Doch er war es, da kam er schon hervor. Aschteufel! Seine Glutaugen leuchteten durch die aufziehende Dämmerung, sein mächtiger Körper schälte sich langsam aus dem Nachtschwarz, und er schnaubte und prustete, sein Fell war schweißnass. Er musste Tag und Nacht galoppiert sein, um sie einzuholen. Ein unglaubliches Tier, aber das war wohl nicht anders zu erwarten bei einem Visionenritter.

»Dieses Pferd ist völlig verrückt«, stellte Tamron kopfschüttelnd fest.

»Nun wissen wir, dass zumindest Olrig wohlbehalten in Farnheim angekommen ist, sonst wäre Aschteufel nicht hier«, erklärte Angmor. »Und was sein Erscheinen betrifft, Herr Tamron, so lass dir gesagt sein, dass ich ihm genau das aufgetragen habe. Er ist mein Diener, und er ist immer da, wo ich bin.«

»Für Noïruns armes Pferd mag das eine Erleichterung sein«, brummte Reeb. »Aber was uns betrifft: Lässt dieses Ungeheuer uns am Leben, wenn wir es bewachen? Oder sollen wir nicht besser doch mit euch kommen?«

Rowarn grinste. »Nein, ihr bleibt hier, und ihr habt mit Aschteufel eine gute Verstärkung. Wir werden nicht lange fort sein, also haltet euch bereit.«

Er legte die Rüstung ab und band sie an Windstürmer fest, vertauschte die schweren Stiefel mit leichten, die er sich über die Schulter hängte, zog Wams und Umhang aus und legte einen der Gürtel ab. Auch die anderen zogen möglichst dünne Kleidung an, die schnell trocknete. Graum unternahm einen letzten verzweifelten Versuch, bei den Pferden bleiben zu dürfen, und wurde erneut abgeschmettert.

»Jetzt ist der richtige Moment«, sagte Angmor, als das erste fahle Licht erschien. »Niemand wird Rowarn und mich bemerken.«

Endlich dämmerte es dem jungen König. »Weil wir beide Zwielichtgänger sind ...«

»Richtig. Wir gehen voraus, Graum wird Tamron und Arlyn Rückendeckung geben. Der Weg ist nicht weit.«

»Passt auf euch auf«, sagte Rowarn, sah dabei aber nur Arlyn an. Er wollte nicht, dass sie mitkam. Aber wie es aussah, hatte sie eine Aufgabe zu erfüllen. Dann sollte es eben so sein.

Er stiefelte ins seichte Wasser, das in der abdriftenden Flut um seine Beine spülte. Kein Salzwasser, wie im Antasa-Tal, und es war nicht einmal sonderlich kalt. Die Wärme des Sommers lebte noch darin fort. Rowarn atmete einmal tief ein und kräftig aus, dann tauchte er. Bevor der Reflex einsetzen konnte, öffnete er den Mund und sog das Wasser tief in sich ein, und er merkte, wie sich augenblicklich die Halskiemen öffneten, und wie sich eine zusätzliche Nickhaut vor seine Augen schob, die er rasch zu öffnen und schließen lernte. Seine Finger und Zehen wurden länger, und Haut bildete sich dazwischen. Rowarns Seele stieß einen Jubelschrei aus, und dann schoss er durchs Wasser davon.

Warum hatte er das vorher nie entdeckt! So fest war sein Mund stets zusammengepresst gewesen, dass er dieses Wunder nie herausgefunden hatte. Dabei war das Wasser sein wahres Element, schwerelos und weich, und er glitt hindurch, als wäre er darin geboren. Wie ein Vogel über den Wolken, nein, besser: Er konnte in diesem Element nicht abstürzen, es würde ihn nie verraten durch tückische Fallwinde. 

Er war zu Hause. Er war Nauraka!

Rowarn sauste durch die untere Welt, bis hinab zum Grund, der voller Sand, Kies und Algen war. Er konnte alles sehen, seine Augen hatten sich perfekt an das Zwielicht angepasst. Er sah Fische mit blinkenden Schuppen hastig davonflitzen, sah die Krebse und Schwämme am Grund, wirbelte Muscheln auf.

Als er einen riesigen dunklen Körper entdeckte, der aufrecht am Grund entlangwanderte, schwamm er zu ihm hin, um ihn herum und erkannte vergnügt, dass nicht einmal sein Vater ihn sehen konnte.

Aber Angmor spürte ihn, durch die Wasserverdrängung, vielleicht auch seine Aura, denn blitzschnell packte der Visionenritter zu. Bevor Rowarn ausweichen konnte, erwischte sein Vater ihn am Arm und zog ihn zu sich heran. Erst, als sie Auge in Auge waren, konnte Angmor ihn erkennen. Rowarn strahlte und lachte, und sein Vater musste ihn heftig schütteln, damit er zu sich kam.

Vergnüge dich ein andermal, Junge, wir müssen jetzt vorwärts! Du gefährdest noch die anderen.

Rowarn begriff, aber er konnte nicht anders. Er war völlig berauscht und wie von Sinnen. Mit einer leichten Bewegung entglitt er seinem Vater und sauste wieder davon.

Und beinahe wäre er erneut gepackt worden. Im letzten Moment drehte er ab, als aus einem Tangwald plötzlich ein langer, oberschenkeldicker Körper herausschoss, mit einem Kopf, der nur aus Maul und Zähnen zu bestehen schien, und einem Paar wild glitzernder Augen. Das Tier war einem Aal nicht unähnlich, aber viermal so lang und stachlig, mit einem hohen Flossenkamm, der sich vom Kopf bis zum Schwanz zog.

Augenblicklich kehrte Rowarn um und fand Angmor bereits ein ganzes Stück weiter. Es sah bizarr aus, wie er da am Seegrund entlang ging, kraftvoll und schnell. Vater, hier gibt es Wächter, meldete er. Etwas wie eine Schlange, oder ein Aal ...

Ich dachte es mir schon, kam es zurück. Das sind Zahnwurme. Locke sie zu mir, ich erledige das.

Also gut.

Rowarn tauchte auf den Tangwald zu, und nun konnte er sie bald erkennen, wie sie versteckt darin lauerten. Tamron und Arlyn könnten sie mühelos töten. Aber Rowarn konnten sie nicht erwischen, er war zu schnell, und Angmor ... nun, seine Haut war dick und hart wie die eines Drachen. Sie würden sich die Zähne an ihm ausbeißen.

Hektisch flösselte er auf und ab, bis der erste Zahnwurm sich nicht mehr zurückhalten konnte und ihn angriff. Rowarn schlug ihn zurück, indem er ihm einen heftigen Schlag auf das wütend funkelnde Auge versetzte und mit der anderen Hand das Messer in ihn rammte. Blut breitete sich wie ein Schleier im Wasser aus und weckte die Gier der Artgenossen. Im Pulk stürzten sie sich auf den verletzten, sich windenden und um sich schlagenden Zahnwurm. Aber einige wandten sich auch gegen Rowarn, und so ergriff er die Flucht.

Direkt zu mir, hörte er Angmors Befehl. 

Als die Zahnwurme die größere und schwerfälligere Beute sahen, ließen sie von Rowarn ab und stürzten sich auf den Visionenritter. Sie versuchten, ihre Zähne in ihn zu schlagen, zwei von ihnen hingen bereits zappelnd an ihm. Nun konnten sie sich allerdings nicht mehr losreißen, ihre Zähne steckten fest. Obwohl sie fast doppelt so lang waren wie der Dämon, kam er nicht im Geringsten aus dem Gleichgewicht, noch zeigte er sich beeindruckt. Angmor kümmerte sich zunächst nicht um die Wurme, die an ihm hingen, sondern holte zuerst einen nach dem anderen aus dem Schwarm und brach ihnen das Genick. 

Rowarn schaute kurz zu, dann wusste er, dass sein Vater allein damit fertig wurde. Er tauchte den Gefährten entgegen. Arlyn und Tamron schwammen knapp unter der Wasseroberfläche, ihre Körper zeichneten sich bereits gegen das rasch zunehmende Tageslicht ab. Unten ging ein herzzerreißend dreinblickender Graum.

Graum, dein Herr könnte deine Unterstützung gebrauchen, außer, du willst ihm den ganzen Spaß allein überlassen.

Spaß? Was? Wo? Ein Angriff?

Der leidende Schattenluchs vergaß, wo er sich befand, verwandelte sich in die Katzengestalt und strampelte in erstaunlicher Geschwindigkeit auf allen vieren den Seegrund entlang. Zwischendurch konnte er sich sogar abstoßen und kurz dahingleiten.

Rowarn schwamm nach oben, ergriff Tamrons und Arlyns Hände und zog sie mit sich, damit sie schneller vorankamen. Es schien so, als habe die Verwandlung im Wasser seine Kräfte vervielfacht, er spürte das Gewicht kaum.

Bald sah er die von Angmor beschriebenen Katakomben auf sich zukommen; wie ein Wurzelgeflecht zog sich der Fels über den Grund, durchlöchert und bis tief ins Innere von Höhlen durchzogen. Rowarn ließ die Freunde los und tauchte in das Labyrinth ein. Zuerst wurde es stockfinster, doch dann erkannte er einen schwachen Lichtschein und hielt darauf zu.

Kurze Zeit später durchbrach er die Wasseroberfläche und fand sich in einer Grotte wieder, in der tatsächlich ein paar Boote schaukelten. Am anderen Ende gab es einen schmalen Durchlass nach draußen, gerade breit genug für ein Boot.

Rowarn tauchte zurück zu Arlyn und Tamron, die sich in einem Steingeflecht dicht unter der Oberfläche versteckt hielten und durch das Schilfrohr atmeten. Als er auftauchte und winkte, kamen sie zu ihm.

»Rowarn ...«, sagte Arlyn staunend. »Du ... bist ganz verändert ...«

»Ich bin ein Nauraka«, antwortete er glücklich. »Ich weiß nicht, wie mir das bis jetzt entgehen konnte. Ich kam wohl nie in die Lage, es ausprobieren zu müssen, denn es wird nur ausgelöst, wenn ich bewusst Wasser einatme.« Er deutete zum Inneren des Felsens. »Ich habe den Eingang gefunden. Arlyn, halte dich an mir fest, ich ziehe dich hindurch. Tamron, du folgst einfach, schaffst du das?«

»Sicher.«

Kurz darauf tauchten sie in der Höhle auf, krochen an Land und wrangen Kleidung und Haare aus. Rowarns Verwandlung war nach wenigen Atemzügen wieder zurückgebildet. Er kämpfte sich in die nassen Stiefel und sah sich dann um.

Die Grotte war sehr hoch, und eine schmale Treppe führte weiter hinauf ins Innere der Festung.

Arlyn fing gerade an: »Wo sind ...«, als Angmor und Graum die Oberfläche durchbrachen.

Der Schattenluchs schüttelte sich wieder und wieder, streckte die Beine und Pranken und schüttelte sie ebenfalls. Er miaute und murmelte und grummelte, dann schüttelte er wieder den Kopf. Die langen Haare an seinen Ohrspitzen hingen traurig herab. »Scheußlich! Widerlich!«

Angmor zupfte ein paar stecken gebliebene Zähne aus dem rechten Arm. »Es gibt angenehmere Pfade«, meinte er. Er blickte Rowarn auffordernd an. »Bist du bereit, Sohn?«

»Ja, Angmor.«

»Vorhin hast du mich Vater genannt. Das gefällt mir besser.«

»Ich dich ...? Ich habe dich nicht Vater genannt.«

»Doch, hast du. Warum sprichst du mich nicht wieder so an?«

»Weil ich es nicht getan habe!«

Graum hielt sich die Ohren zu. »Aufhören! Ihr treibt mich in den Wahnsinn!« Er stellte sich zwischen die beiden. »Ich weiß nicht, was gestern zwischen euch vorgefallen ist, aber solange Rowarn wütend auf dich war, war es bedeutend angenehmer!«

Arlyn lächelte, und Rowarns Herz machte einen Sprung, als er den zärtlichen Ausdruck in ihren Augen sah. Daraufhin gab er sich einen Ruck. »Vater ... wir benehmen uns albern.«

»Es ist das Wasser«, erklärte Angmor. »Irgendein Giftstoff befand sich darin.«

Rowarn nickte. »Ja, das stimmt. Mir ist jetzt noch schwindlig, als ob ich betrunken wäre.«

»Gewiss«, schmunzelte Arlyn.

»Kommt endlich«, sagte Tamron ernst. »Dem Ziel so nahe, worauf wartet ihr noch?«

Arlyn kam an Rowarns Seite und nahm vorsichtig seine Hand. »Ich weiß, warum du zögerst«, flüsterte sie ihm zu. »Komm.«



Graum ging in seiner Dämonengestalt voraus, als sie die schmale, steile Treppe nach oben gingen, die sich den Felsen entlangwand. »Es ist still«, fauchte er. »Ich kann nichts wittern. Wo ist Femris?«

Angmor bewegte sich langsam, tastend vorwärts. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Ich kann ihn nicht sehen. Nur die Splitter ...«

»Und Wachen?«

»Ja. Die sind kein Problem.«

Rowarn war beunruhigt und machte sich Sorgen um seinen Vater. Weshalb konnte er den Unsterblichen nicht visionär sehen? Verließ ihn seine Gabe? Allerdings ... die Wachen und die Splitter des Tabernakels konnte er erkennen.

Arlyn verhielt sich ruhig, sie wirkte gelassen. Kannte sie keine Furcht? Oder war sie darüber hinaus, so wie Heriodon es auch Rowarn und Noïrun gelehrt hatte? 

Immer noch hielt sie Rowarns Hand, und in diesem Moment fühlte er den großen Altersunterschied zwischen ihnen. Es war, als beschütze sie ihn, wie eine Mutter ihr Kind. Ihre Stärke floss durch ihre Wärme in ihn und schenkte ihm Vertrauen.

Sie erreichten die Tür, und Graum verharrte. Fragend sah er den Visionenritter an.

»Nur zwei«, flüsterte der. »Du rechts, ich links. Achte auf deine Deckung, er trägt eine Sternkeule.«

Tamron blieb stehen und zog sein Schwert. »Braucht ihr ...«

Der Schattenluchs winkte ab.

Angmor hob die Hand, und die Tür flog mit einem gewaltigen Knall aus den Angeln nach außen. Splitter regneten nach allen Seiten. Bevor die überraschten Wachen reagieren konnten, hatten die beiden Dämonen ihnen das Genick gebrochen. Tamron und Rowarn sprangen mit gezückten Schwertern über sie hinweg, und Arlyn kam langsam nach.

Innerhalb Dubhans herrschte ein schummriges Zwielicht, woher der Lichteinfall kam, war nicht erkennbar. Es war überall gleichmäßig dämmrig, ohne dass Schatten fielen. Die Wände waren kahl und schmucklos, von innen war der Turm kaum anheimelnder als von außen.

»Nach rechts«, ordnete Angmor an. »Wir gehen durch eine Seitentür hinein.«

Sie hasteten den schwach erhellten Gang entlang, immer auf die Zeichen des Visionenritters achtend. »Graum, nach hinten«, zischte er und bedeutete Arlyn und Tamron: »Ihr geht in der Nische dort in Deckung. Rowarn, du und ich gehen im Zwielicht weiter.«

Der junge König nickte. Nebeneinander bewegten sie sich voran. Rowarn hörte, dass Graum hinter ihnen einen Dubhani angriff. Vor ihnen erschienen vier weitere, und an der Art, wie sie auf ihn und seinen Vater zuliefen, erkannte er, dass sie sie nicht sehen konnten.

Grimmig packte er das Schwert, und gleichzeitig hieben sie die ersten beiden Wachen nieder, bevor die anderen erkannten, dass sie in eine Falle gerannt waren. Doch dann reagierten sie augenblicklich, und es entbrannte ein kurzes, heftiges Gefecht.

»Arlyn, Tamron, weiter!«, rief Angmor zwischendrin. »Wir kommen gleich nach.«

Graum sauste als gefleckter Schatten an ihnen vorbei, dann waren die Wächter überwunden, und sie eilten weiter.

»Was siehst du?«, raunte Rowarn.

»Wir sind fast da«, gab Angmor zurück. »Aber ich kann Femris immer noch nicht ausmachen. Verdammt, wo steckt er?« Er taumelte und griff sich an den Kopf.

»Lass die Vision«, sagte Rowarn besorgt. »Wenn wir gleich da sind, werden wir es mit eigenen Augen sehen. Jetzt können wir ohnehin nicht mehr zurück.«

Tamron und Arlyn warteten vor einer Doppeltür. Vom anderen Ende des Gangs, um die Ecke, näherten sich Schritte, und das Rasseln und Klirren von Metall war zu hören.

»Ich übernehme das«, fauchte Graum. »Geht nur hinein!«

Rowarn griff sich an die Brust und atmete tief ein. »Also dann.« Er nickte seinem Vater zu, der die Tür öffnete, und sie schritten hindurch.



Dem Feind so nah. Rowarn konnte es kaum glauben, dass er nun am Ziel angekommen war.

Eine Thronhalle war es allerdings, die sie betraten, ein riesiger Saal, dessen gewölbte Decke die Turmspitze bildete. Ganz oben waren große, gebogene Fenster eingelassen, die ein vielfarbiges Licht verstreuten. Stützende Säulen waren durch hohe Spitzbögen miteinander verbunden, und auch hier war alles aus schwarzem, glattem, fugenlosem Stein gefügt. Der Boden war mit großen, ockerfarbenen Mosaiksteinen ausgelegt, die, jeweils von einer Wand zur anderen, ein Bild ergaben – das Tabernakel in seiner ursprünglichen Form, mit all den symbolträchtigen Mustern und Runen.

Auf der rechten Seite, gegenüber des gewaltigen, drei Mannslängen hohen Eingangsportals, erhob sich auf vier Stufen ein Thronstuhl mit hoher Lehne. Dahinter an der Wand hing ein riesiger Seidenteppich, mit farbenprächtigen Mustern.

In der Mitte der erhabenen Halle, die fast wie ein Tempel wirkte, stand ein langer Altartisch, auf dem alle Lichtstrahlen von oben herab zusammentrafen. Und in diesem Licht gebannt, eingehüllt in ein glitzerndes magisches Feld, schwebten die drei Splitter des Tabernakels über dem Altar.

Rowarn schluckte trocken. Alles in ihm drängte augenblicklich danach, dorthin zu laufen und die schlicht wirkenden Bruchstücke aus Ton an sich zu reißen. Er spürte trotz des magischen Feldes die gewaltige Macht, die sie verströmten, sie erfüllte den ganzen Turm. Endlich begriff der junge König, was die Nauraka dazu getrieben hatte, das Tabernakel zu stehlen, was so viele Mächtige seit Jahrtausenden dazu bewegte, es an sich zu bringen. Obwohl nicht vollständig, waren bereits diese drei Stücke mächtiger als alles, was Waldsee jemals hervorgebracht hatte. Eine ganze besondere, eigenwillige Aura ging von ihnen aus, die mit nichts vergleichbar war, was Rowarn bisher erlebt hatte. Selbst die Macht des Annatai verblasste dagegen zu einfacher Taschenspielerkunst.

Das Tabernakel war nicht von weltlicher Natur, aber auch nicht das Werk eines Gottes. Die Zeitlosigkeit des Traums haftete an ihm, es verströmte die Reinheit und Klarheit des Anbeginns des Schaffens, war körperliche Präsenz dessen, was in und um alle Wesen und Welten war, ein Teil des Gefüges, in das das Leben eingebettet lag.

Und es waren erst drei Teile.

Unscheinbar im Aussehen, harmlos wahrscheinlich für ein Lebewesen, das weder ein Gespür für Magie hatte, noch für die Strömungen des Universums, die alles durchdrangen und verbanden im Urklang, der Bestandteil jeder Melodie einer Welt war.

Rowarn bebte. Gebannt stand er da, unfähig, sich zu rühren. Wie von Ferne drang Arlyns Stimme an sein Ohr.

»Wo ist Femris?«

In diesem Augenblick blieb Angmor stehen und griff sich stöhnend an den Kopf. Seine Aura flackerte und erlosch.

Rowarn blinzelte. »Was ...«

Tamron schritt langsam auf den Thron zu.

Und seine Gestalt fing an, sich zu verwischen, wie ein Schemen, der aus Nebel bestand.

Und je näher er den Stufen kam, desto mehr schwand das, was Tamron gewesen war, und wurde diffus, und dann kam ein Mann mit grauschwarzem Haar zum Vorschein, als wäre er hinter einem Vorhang hervorgetreten. Vor der ersten Stufe verharrte er, hob den Kopf und atmete tief ein.

Und Rowarn erkannte ihn, er hatte diesen Mann schon einmal gesehen, kurz vor der Niederlage bei Ardig Hall. Im Zweikampf gegen Angmor. Der Mann, in dessen Schulter sich Noïruns Speer gebohrt hatte. Der Mann, der Rowarns Mutter ermorden ließ, und der seit Jahrtausenden den Krieg um das Tabernakel führte. Grauen erfasste den jungen König, und ihm schwindelte. Er vermochte nicht zu begreifen, was hier vor sich ging. Was seine Augen ihm deutlich machten, sein Verstand aber nicht erfassen konnte.

»Willkommen zurück, Tamron ... Bruder«, sagte Femris. Seine Stimme dröhnte durch die Halle, er hob die rechte Hand, und eine Flammenkugel entzündete sich auf der Fläche.

Bevor Rowarn zu einer Regung fähig war, drehte Femris sich und schleuderte die Feuerkugel auf Angmor. Sie schlug wie ein Blitz direkt in seine Augen ein. Der Visionenritter wurde kurzzeitig in eine Flammenwolke gehüllt, von der Wucht des Aufpralls zurückgeschleudert, und brach zusammen. Arlyn stieß einen Schreckensruf aus und stürzte zu ihm.

Femris ließ sich auf seinem Thron nieder, legte die Fingerspitzen aneinander und beobachtete aus kristallgrünen, eiskalten Augen den jungen König, der immer noch fassungslos dastand und zu begreifen versuchte.

»Nun, es hat lange gebraucht, bis ich euch beide endlich hier hatte«, sagte der Unsterbliche spöttisch. »Fast meine ganze Kraft wurde dabei aufgezehrt, denn so lange war mein Bruder noch nie von mir getrennt. Ich konnte nicht einmal mehr meinen Körper stofflich halten. Aber letztendlich hat sich die Anstrengung gelohnt.«

»Alles ... nur Lüge?«, flüsterte Rowarn erschüttert. »Du ... du warst es also, den Angmor in seiner Vision gesehen hat? Du hast Tamrons Gestalt angenommen? Er ist also doch in der Schlacht gefallen?«

»Naives Kind«, lächelte Femris. »Nein, Tamron ist damals nicht gefallen, er war bei mir. Nachdem es Angmor gelungen war, mich außer Gefecht zu setzen, holte er mich vom Schlachtfeld.«

»Der Schatten ... den ich für Nachtfeuer hielt, weil er durchs Zwielicht wandelte ...«

»Bedauerlicherweise kostete das auch Tamron alle Kräfte. Bevor er sich wieder mit mir vereinigen konnte, brach er zusammen. Heriodon, der die Wahrheit nicht kannte, nahm ihn gefangen und brachte ihn zur Splitterkrone. Seine ganz besondere Aura schützte Tamron davor, dass Heriodon ihm etwas antun konnte, aber das Absaugen seiner Kräfte konnte er nicht verhindern. Gewissermaßen hast du also uns beiden das Leben gerettet, indem du Tamron von dort befreitest und nach Farnheim brachtest.«

»Ich verstehe das nicht!«, rief Rowarn. »Wie ist das alles möglich? Wie kann es ihn und dich geben, wenn er jetzt verschwunden ist?«

»Unschuldiger Narr!«, erscholl Femris’ Stimme durch die Halle. »Weil ich, nicht du, der Zwiegespaltene bin!«



Rowarn hatte das Gefühl, als würde sein Bewusstsein in einen Abgrund stürzen. Er versuchte zu begreifen, doch da gab es nichts zu verstehen, es war … unmöglich. Fragen stürzten auf ihn ein, wirbelten alle Gedanken durcheinander.

»Aber ich ...«, begann er, doch Femris unterbrach ihn.

»Gewiss, du bist einzigartig, Rowarn, ein Kind von Finsternis und Regenbogen, und du birgst außergewöhnliche Kräfte. Gerade deswegen ist mir daran gelegen, dich in meiner Nähe zu haben, denn ich werde das ausnutzen. Aber du bist nicht unsterblich, so wie ich, und du besitzt nur eine Seele, nicht zwei.« Er setzte sich auf. »Tamron ist keine Lügengestalt, er ist mein Bruder, die Hälfte des Wesens des Zwiegespaltenen, so wie ich die andere Hälfte bin. Zwei Seelen, und manchmal auch zwei Körper. Ich wurde erschaffen, nicht geboren, und nur zu dem einen Zweck, das Tabernakel zu benutzen. Als das Tabernakel geborgen wurde, erwachte ich an einem geheimen Ort aus dem Schlaf und wollte meiner Bestimmung nachkommen, die deine Vorfahren und die Anhänger des Regenbogens mir seitdem unrechtmäßig vorenthalten.«

»Aus gutem Grunde, denn du gehörst der Finsternis an«, sagte Rowarn zitternd. Er war immer noch wie gelähmt, konnte die ganze Tragweite nicht recht erfassen. Seit Beginn der Geschichte offenbarten sich immer mehr Lügen, und demnach ... waren die Nauraka im Unrecht? Doch darüber konnte er jetzt nicht nachdenken, das musste er in Ruhe abwägen. Und er durfte Femris keinen Zweifel zeigen.

»Es spielt keine Rolle mehr«, erwiderte Femris. »Der Krieg nähert sich dem Ende. Noïrun ist endlich tot, und Ardig Hall wird endgültig zerfallen. Ihr beide, du und dein Vater, seid in meiner Hand. Niemand kann mich mehr aufhalten.« Er richtete seinen Kristallblick auf Arlyn. »Und du bist eine willkommene Beigabe, als Heilerin und meine künftige Lady.«

»Nein«, keuchte Rowarn. »Das werde ich nicht zulassen.«

Femris lachte. Langsam stand er auf und kam vom Thron herab, ging auf den Visionenritter zu, der kraftlos auf dem Boden kauerte. Arlyn kniete an Angmors Seite und stützte ihn. Abwehrend hielt sie eine Hand hoch.

»Ist dies nicht reine Ironie, Nachtfeuer?«, sagte der Unsterbliche. »Du hast dich vor mir verborgen, und ich mich vor dir. Tamron war dein Freund, ohne dass du wusstest, wer er war – und Angmor war Tamrons Freund, ohne dass mein Bruder die Wahrheit ahnte. Bis zu dem Tag, an dem dein Sohn dich zur Offenbarung zwang.«

»Und Tamron war mein Freund!« Rowarn war fassungslos. Seine Zuneigung zu Tamron verwandelte sich in rasenden Hass, so getäuscht und hintergangen worden zu sein. »Zumindest hat er mich das glauben lassen«, fügte er bitter hinzu.

»Oh, er mag dich wirklich, Junge«, versetzte Femris spöttisch. »Tamron hat schon immer eine Schwäche für junge Helden gehabt, und er wollte mir gegenüber lange nicht mit der Sprache herausrücken. Aber letztendlich sind wir Zwei, die Einer sind, und er kann nicht auf Dauer etwas vor mir verbergen.«

»Er hat mir den Treueid geleistet«, stieß Rowarn hervor. »Den kann er nicht einfach ungestraft brechen!«

»Er hat ihn geleistet, nicht ich«, versetzte Femris. »Und ich lasse ihn jetzt nicht heraus. Er hat sich Ruhe und Erholung verdient, nach der langen Zeit ohne mich.«

»Das ist auch nicht notwendig!«, schrie Rowarn erbittert. »Ich entbinde ihn von seinem Eid! Er ist sowieso nichts wert.«

Arlyns leise Stimme erklang aus dem Hintergrund. »Aber mein Vater erzählte mir, dass Tamron und Femris gegeneinander kämpften ...«

»Gewiss, meine Liebe, das taten wir immer wieder«, nickte der Zwiegespaltene. »Unser Verhältnis ist nicht ganz einfach, und unsere brüderliche Beziehung keineswegs unbelastet. Tamron will zwar dasselbe erreichen wie ich, aber auf andere Weise. Er glaubt, dass das Tabernakel auch auf friedlichem Wege gewonnen werden kann, aber unser vergeblicher Versuch damals hätte ihn eines Besseren belehren müssen. Tamron ist ein von Gefühlen beherrschter Zauderer, und so wurde es Zeit, dass ich die Sache in die Hand nahm. Natürlich kann und will ich nicht ohne ihn leben, trotz unserer Zwistigkeiten, aber er ist der Schwächere von uns beiden, und deshalb wird alles so geschehen, wie ich es seit langem plane.«

»Nein«, zischte Rowarn. Er richtete die Schwertspitze auf Femris und näherte sich langsam dem Altar. »Das werde ich nicht zulassen.«

»Bemüh dich nicht«, sagte Femris höhnisch. »Das magische Feld kann nur ich aufheben.«

»O nein«, knurrte der junge König. »Ich bin der Nauraka, und ich trage die Lebensessenz der Dämonen in mir. Meine Vorfahren waren die Hüter, und ich bin mit dem Tabernakel verbunden. Ich kann es deutlich spüren. Ich werde dein magisches Feld nicht aufheben, ich werde einfach hindurchgreifen

Unerschütterlich ging er weiter auf den Altar zu. »Achte auf meinen Vater«, sagte er zu Arlyn im Vorübergehen.

Femris zog nun ebenfalls das Schwert und stellte sich ihm in den Weg. »Überleg es dir gut, Rowarn«, sagte er warnend. Den jungen Mann schmerzte es, den melodiösen Klang in der Stimme zu hören, die ihm so lange vertraut und nahe gewesen war. »Ich will dich nicht töten, denn ich brauche dich. Aber wenn du nicht nachgibst, werde auch ich es nicht tun.«

»Tu, was du glaubst, tun zu müssen, Zwiegespaltener«, sprach der König von Ardig Hall ruhig. »Genau wie ich. Mag jeder seiner Bestimmung folgen.« Dann hob er das Schwert und griff an.



Das Licht in der Halle flackerte, als die wirbelnden Klingen es aufnahmen und blitzschleudernd zurückwarfen. Die beiden Männer prallten zusammen, ohne dass einer die Deckung des anderen unterlaufen konnte. So gab es immer nur zwei Schläge, dann wichen sie voneinander zurück, umkreisten einander, belauerten sich.

»Vergiss nicht, wer einer deiner Lehrmeister war und an deiner Seite kämpfte«, lächelte Femris überlegen. »Ich kenne jeden Schritt, jeden Trick, jede Schwäche!«

Rowarn aber konnte ihm entgegenhalten: »Und du vergiss nicht, dass ich ein begabter und aufmerksamer Schüler war, und ich kenne deinen Stil ebenso gut wie du! Was du jedoch nicht kennst, ist der Unterricht, den mir Noïrun zuteil werden ließ.« 

Und dann griff er erneut an, und er schaffte es, Femris zurückzudrängen. Allerdings konnte er die Deckung wiederum nicht durchbrechen, und so wich er zurück, als Femris anfing, sich auf ihn einzustellen. Rowarn wusste jetzt, dass er den Unsterblichen nicht besiegen konnte; dieser war ihm an Alter und Erfahrung überlegen. 

Und das machte Femris ebenfalls deutlich. Er ging einige Schritte auf Distanz und hob die Hand. »Sei vernünftig und hör auf! Ich will dir nichts antun, doch du lässt mir bald keine Wahl mehr. Beende diesen Kampf, bevor es zu spät ist.«

»Du hast gesagt, du hast meine Mutter geliebt«, stieß Rowarn atemlos hervor. »War das auch eine Lüge?«

Der Zwiegespaltene hielt inne. »Nein«, antwortete er. »Ich habe nicht nur einmal um ihre Hand angehalten. Selbst Tamron erkannte eines Tages, dass er nur verliebt in sie war, aber dass ich ... mehr empfand.« Die letzten Worte kamen nur schwer über seine Lippen, und über sein Gesicht huschte ein Ausdruck der Erinnerung und Trauer.

»Und deswegen hast du sie getötet?«, drang Rowarn tiefer in die Wunde.

»Das war nur wegen des Splitters, Junge. Er war nicht anders zu bekommen. Sie ließ mir keine Wahl, und das wusste sie. Sie hätte andersherum dasselbe getan.« Er fixierte Angmor. »Hat es versucht, aber versagt«, zischte er. »Sie trieb Nachtfeuer zum Verrat, behexte ihn mit ihren Kräften, und ich verlor meinen treuen Freund.« Wieder richtete er seine Augen auf Rowarn. »Glaubst du, junger Narr, das hätte ich den beiden jemals verzeihen können? Nachdem er bekehrt war, schickte sie ihn mit einer Maske zu mir zurück, damit er mich umbringt! Du hast nicht das geringste Recht, mir Vorwürfe zu machen! Wenn du mir Schuld gibst, so trägt deine Mutter daran nicht weniger Anteil!«

Rowarns Gefühle drohten, ihn zu überwältigen. »Warum ... hast du dich in Ardig Hall so viel mit mir abgegeben?«

»Wie oft muss ich es noch sagen? Das war Tamron. Er kann einfach nicht einsehen, dass es nur auf meine Art geht.«

Rowarn hörte ein Stöhnen und warf einen kurzen Blick zu seinem Vater. Entsetzt sah er seine Augen. Das eisglühende Blau war erloschen, trüb und leer waren sie nun. 

Nichts als Leid und Verrat hatte das Tabernakel seit seiner Entdeckung verursacht! Ein Fluch war es, kein Segen, und in Femris’ Händen würde aus Waldsee eine Bastion der Finsternis werden, daran trug Rowarn keinen Zweifel mehr. Femris war stärker als Tamron, kompromisslos und eiskalt, wenn es um das Erreichen eines Ziels ging. Er wollte Angmor und Arlyn für seine Zwecke benutzen, um die Herrschaft über Waldsee anzutreten. Tage der Dunkelheit lagen vor ihnen, sobald er das Portal für die Finsternis öffnete. 

Aus diesem Grund hatte Angmor mit seiner visionären Gabe nichts in der Zukunft erkennen können: Weil es nichts mehr zu sehen gab!

Noïrun ist endlich tot.

An diesem Punkt hatte Rowarn sich nicht mehr in der Gewalt, und er spürte, wie ihn die Raserei überkam. »Nein!«, brüllte er.

»Rowarn, nicht!«, hörte er Arlyns entsetzten Ruf, doch er hörte nicht auf sie.

Schneller, als Femris reagieren konnte, stürzte er sich auf den überraschten Zwiegespaltenen, hieb sein Schwert mit einem schmetternden Schlag beiseite und trieb ihm die Klinge tief in die Brust.

Femris schrie auf und taumelte zurück zum Altar, seine Hände umklammerten das Schwert. Seine Kleidung rund um die Wunde färbte sich rasch rot.

»Zieh es heraus!«, erscholl seine Stimme verzerrt im Doppelklang. »Ich kann nicht, es steckt auch in mir ...«

Er prallte an den Altar, verlor den Halt und fiel auf den Rücken. Über ihm schwebten die Splitter. Mit brechendem Blick keuchte Femris: »Nein ... du bekommst sie nicht ...«

Das magische Feld erlosch plötzlich, und die Splitter fielen auf den Zwiegespaltenen herab. Seine Hände lösten sich vom Schwert und krallten sich um die Bruchstücke. Seine Lippen bewegten sich ein letztes Mal.

Dann versteinerte er.



Bevor Rowarn etwas tun konnte, lag Femris wie eine Statue seiner selbst auf dem Altar. In seinen Händen, unerreichbar von Stein überzogen, hielt er die drei Splitter des Tabernakels.

Das einfallende Licht erlosch, es donnerte, und der Boden erzitterte, als die Aura des Tabernakels wie eine Flutwelle vom Altar nach draußen schlug und floh. Die lichtlose Burg wurde von einem Beben erschüttert, alles schien sich für einen Moment zu verschieben, dann herrschte wieder Stille.

Die magische Präsenz des Artefaktes war vollständig erloschen.

Rowarn verharrte wie gelähmt, konnte noch nicht erfassen, was geschehen war. Sein Keuchen hallte durch den Turm.

Die Seitentür flog auf, und Graum kam herein. Hinter ihm lag der Gang voller Leichen.

»Was ist passiert?«, rief er. »Und wo ist Tamron?«

Arlyn erhob sich. »Dort.« Sie wies auf den Altar mit der steinernen Statue. Der Schattenluchs war verwirrt, und die Lady klärte ihn mit kurzen Worten auf. Rowarn stand die ganze Zeit teilnahmslos da. Er hörte, wie Graum Fragen an ihn richtete, konnte aber nicht antworten.

Plötzlich erbebte die Halle erneut, die Fenster wurden dunkel, als wäre draußen die Sonne gelöscht worden. Gleichzeitig breitete sich eine unheilvolle Schwingung aus, und aus den Wänden sickerte schwärzlicher Nebel.

»Ein Schutzbann«, sagte Graum, und sein Nackenfell sträubte sich. Er ging zu Angmor und half ihm auf. »Wir müssen sofort verschwinden, im Augenblick können wir hier nichts mehr ausrichten.«

»Ist ... ist es jetzt vorbei?«, fragte Rowarn langsam.

»Unsinn«, brummte der Dämon. »Der Tod kann einen Unsterblichen nicht aufhalten. Und die drei Stücke sind mit ihm versteinert, richtig? Darum werden wir uns noch kümmern, aber zuerst müssen wir deinen Vater in Sicherheit bringen, bevor die lichtlose Magie seine Lebenskraft absaugt. Das wäre nicht nur unser aller Tod, sondern wahrscheinlich auch der Untergang des ganzen Landes.« Er schleppte ächzend den halb bewusstlosen Visionenritter mit sich. Im Hinausgehen rief er: »Du hast eine Menge Arbeit vor dir, junger König von Ardig Hall. Sieh zu, wie du den Schlamassel wieder in Ordnung bringst, in den du uns alle geritten hast!«

Arlyn kam an Rowarns Seite, nahm sanft seinen Arm und zog ihn mit sich. »Komm.«



Das Boot trieb ruhig über den See. Graum ruderte gleichmäßig. Angmor lag halb zusammengerollt in der Mitte der Nussschale, den Kopf an Rowarns Brust gelehnt. Seine blinden Augen waren auf den Himmel gerichtet. Ab und zu verzerrte sich sein Gesicht vor Schmerz.

Auf der anderen Seite warteten bereits Laradim, Reeb und Aschteufel am Ufer. Die Sonne kletterte auf den Mittagsthron, doch ihr herbstlicher Schein spendete keinen Trost.

Arlyn saß Rowarn gegenüber, mit dem Rücken zu Graum. Ihr von rötlichem Glanz umgebenes schwarzes Haar wehte in der frischen Brise. »Wie wird es jetzt weitergehen?«, fragte sie leise. 

»Ich weiß es nicht«, antwortete Rowarn düster. Seine Hand lag auf der Schulter seines Vaters, der im magischen Schock lag, von dem er sich vielleicht nie mehr erholen würde. 

»Ich sehe kein Licht mehr.«