Kapitel 27

Wiedersehen


In der nächsten Zeit erholte Rowarn sich schnell. Er bekam kräftigende Massagen, wurde mit wohlriechenden Ölen gesalbt, auch das struppige weißblonde Haar wurde ihm sorgfältig knapp auf Schulterlänge geschnitten und gepflegt. 

Vormittags und nachmittags unternahm er ausgedehnte Spaziergänge bis in den Wald hinein, manchmal von Graum begleitet, und badete häufig. Ab und zu wanderte er zu den Grasweiden und sah Windstürmer fröhlich umhertollen, meistens weit entfernt, inmitten einer Herde Zweijähriger. Der kleine Falbe interessierte sich momentan überhaupt nicht für seinen Herrn, sondern genoss nach den langen Entbehrungen sein Leben nach Herzenslust. Allerdings befand er sich durchaus in menschlicher Obhut, denn die Mähne war fachkundig gestutzt, die Eisen entfernt und die Hufe ausgeschnitten. Sein Fell glänzte in goldenem Schimmer.

Begegnungen mit anderen mied Rowarn, und es kam auch niemand auf ihn zu. Arlyn sah er in dieser Zeit kein einziges Mal, und er fragte auch nicht nach Angmor und Tamron. Am zweiten Abend ging er schließlich in den Gastraum, der voller lärmender Gäste und Musik war. Es dauerte nicht lange, bis sich eine Schankmaid zu ihm setzte, doch er hatte nicht das Bedürfnis, der Verlockung nachzugeben. Er sprach sehr wenig und blieb allein, mit sich und seinen Gedanken.

Drei Tage später war der Unsterbliche erwacht. Rowarn wollte gerade zum Kaskadenfall gehen, als er eine Stimme hinter sich vernahm, die er lange nicht mehr gehört hatte. Weich und singend, voll gelassener Harmonie. Unverwechselbar nichtmenschlich, voll alter Macht, doch ganz anders als Angmors harter Bass.

»Rowarn! Wie schön, dich zu sehen.«

Der junge Ritter fuhr herum. Für einen Augenblick war er starr und sprachlos vor Freude. Ein schmaler, großer Mann stand vor ihm, die Haut bleich und von nichtmenschlichem Glanz, die fast hüftlangen Haare silbrigweiß. Seine strahlendblauen Augen waren voller Leben. Aufgeregt stieß Rowarn hervor: »Tamron ... das wird aber auch Zeit!«

Der Unsterbliche lachte, und die beiden Freunde umarmten sich und klopften sich gegenseitig auf den Rücken, als wollten sie sich vergewissern, dass der andere auch wirklich da war. »Lass dich ansehen«, sagte Tamron dann und musterte Rowarn prüfend. »Man hat dir sehr übel mitgespielt«, stellte er fest. »Aber du erholst dich schnell.«

»Wie könnte es an diesem Ort auch anders sein«, meinte Rowarn.

Tamron grinste. »Du hast noch gar nicht versucht zu fliehen?«

Da musste Rowarn lachen und zugeben, dass ihm das gerade während der ersten beiden Tage sehr schwer gefallen war. Aber nun habe er eingesehen, dass hier nur das Beste für ihn getan werde. »Und ich habe es wirklich gebraucht. Inzwischen füge ich mich dem strengen Regiment der edlen Herrin, lasse mich verwöhnen und komme zur Ruhe.«

»Ja. Wir werden dadurch nichts verlieren, aber an Kraft gewinnen. Solange Femris stillhält ...«

»Nun, er hat drei Splitter, Ardig Hall ist gefallen – im Augenblick besteht kein Bedarf an einer Schlacht, zumindest von seiner Seite aus. Er wird jetzt nach den anderen vier Splittern suchen.«

Tamron betrachtete ihn durchdringend. »Du machst dir sehr viele Gedanken. Ungewöhnlich für einen einfachen Ritter.«

»Du weißt, dass ich das nicht bin«, erwiderte Rowarn. »Ich habe Ardig Hall noch nicht aufgegeben, und das Tabernakel auch nicht. Es ist meine Pflicht, daran festzuhalten.« Er winkte ab. »Erzähl mir lieber, was dir widerfahren ist!«

»Ach, das«, sagte Tamron leichthin. »Das ist schnell berichtet. Ein törichter Unsterblicher, der sich für mächtiger hielt als er ist – ich –, glaubte im Alleingang gegen Femris antreten zu können. Natürlich haben sie mich unterwegs aufgehalten, obwohl ich sicher war, dass mit dem Angriff auf den Bepheron für genug Ablenkung gesorgt war.«

Rowarns Blick schweifte kurz ab. Sie standen ganz allein auf dem Karrenweg, vorn am See spielte sich das Leben ab, und auch hinter ihnen bei den Häusern der Heilung und Haus Farnheim. Es schien, als würden sie an einer Schwelle zwischen hüben und drüben stehen. »Hast du ... es gesehen?«, fragte er leise. Morwen war gefallen, als sie ihre Truppe gegen den Bepheron geführt hatte. Zumeist verdrängte er den Gedanken an sie, weil es ihm zu weh tat, doch jetzt musste er nach ihr fragen.

»Tut mir leid, Rowarn«, bedauerte Tamron. »Ich wurde zu schnell außer Gefecht gesetzt. Ich konzentrierte mich auf Femris, während unsere tapferen Ritter sich auf den Bluttrinker stürzten, doch einer der Dubhan-Dämonen merkte, was ich vorhatte. Er griff mich an, und schon nach kurzer Zeit war ich bewusstlos, weil er mir die Kräfte absaugte. 

Von da an bin ich kein einziges Mal mehr zu mir gekommen. Sie hielten mich immer knapp unter der Schwelle. Gerade so, dass sie meine Kräfte nutzen konnten, ich aber nicht starb. Ich habe also überhaupt nichts vom Ausgang der Schlacht oder dem Rest danach mitbekommen. Angmor hat mir alles erzählt. Ich bin gestern Nacht erwacht, und wir haben bis heute früh geredet. Wir sind dir alle zu großem Dank verpflichtet, aber das weißt du bereits. Informiert bin ich also, und gut erholt zudem.«

»Ich bin froh darüber«, sagte Rowarn. »Es ist so wichtig, Zeichen zu setzen. Wir werden unsere Niederlage in einen Sieg verwandeln, nicht wahr?«

»Aber gewiss, Rowarn. Und ich werde tun, was ich kann, denn ich stehe tief in deiner Schuld. Ich verdanke dir mein Leben.« Tamron legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wir sehen uns noch.«



Am sechsten Tag nach Rowarns Ankunft starb der Poet. Rowarn hatte den alten Mann noch einmal im Park besucht und gemerkt, wie hinfällig er plötzlich geworden war. Sein Körper war zusammengeschrumpft, wie ein Kind hing er eingesunken in der Stuhlsänfte, halbwegs verschwunden in den wärmenden Decken. Die Träger würden sein Gewicht kaum mehr spüren. Aber sein Geist war immer noch hellwach, und er freute sich, dass Rowarn sich zu ihm setzte.

»Heute bist du dran, mir eine Geschichte zu erzählen«, sagte er mit dünner, zittriger Stimme.

»Deswegen bin ich hier«, sagte Rowarn. Er erzählte von seiner Kindheit und den Velerii. Vom Heranwachsen der Fohlen und vom Frühling in Inniu. Und dann erzählte er, was seit dem vergangenen Winter geschehen war, und von seiner großen Reise. Rowarn sprach lange, und der Greis hörte still zu, mit einem Leuchten in den müden Augen. 

Zum Schluss ergriff er Rowarns Hand und drückte sie fest. »Nun habe ich alles für die Reise«, flüsterte er.

Rowarn führte die Hand, knochig, trocken und dünn wie Pergament, kurz an seine Wange und ging.

Rianda benachrichtigte ihn am darauffolgenden Vormittag, dass der Poet friedlich entschlummert und bereits gesalbt und begraben sei. Sie überreichte ihm eine kleine weiße Feder und eine Pergamentrolle, was beides nach Anweisung des Poeten für ihn bestimmt sei. Rowarn nahm es gerührt in Empfang und entrollte das hauchfeine Papier, auf dem in leicht zittriger, aber schön geschwungener Hochschrift stand:


Aber der Kranich fliegt höher.


Er schüttelte lächelnd den Kopf und ging zum Farnbaum, neben dem nun ein kleiner, mit einem Buschfarn frisch bepflanzter Hügel lag. Tief hatten die Helfer wahrscheinlich nicht mehr graben müssen, um den zum Kind geschrumpften Verstorbenen aufrecht sitzend, das Gesicht nach Westen gerichtet, zu betten. Rowarn sprach ein stilles Gebet für den Mann, mit dem ihn eine kurze, aber deswegen nicht weniger innige Freundschaft verbunden hatte, und wünschte ihm eine gute Reise. Er faltete das Pergament zusammen, steckte die Feder hinein, legte ein kleines Tuch darum und verstaute es in seinem Wams. Von nun an trug er es immer bei sich.

Als er anschließend zum Haus zurückkehrte, wartete eine große Überraschung auf ihn.



Unbemerkt, wahrscheinlich auch von Westen her über Farnheim-Markt, hatten sich Reiter genähert, die soeben von Rianda als Gäste begrüßt wurden.

Rowarns Herz machte einen Riesensatz, als er Noïruns vertraute Stimme hörte und gleich darauf Olrigs dröhnenden Bass. Er lief los, rannte ums Haus, doch dann stockte er, als wäre er gegen eine Mauer gerannt. Die Hand zuckte zum Schwertgriff, bis ihm einfiel, dass er gar keine Waffe trug. Aber die brauchte er auch nicht.

»Weg von meinem Fürsten!«, fauchte er Gonarg an, der neben Noïrun und Olrig stand.

Der Fürst und der Kriegskönig, die ihn freudig lächelnd begrüßen wollten, starrten ihn überrascht an. »Das ist in Ordnung, Rowarn«, sagte Noïrun und hob beruhigend eine Hand. »Ragon ist einer von uns.«

Rowarn ging langsam auf den Einäugigen zu. »Ich kenne ihn unter anderem Namen«, zischte er. »In Heriodons Lager.«

»Ja, als Gonarg«, bestätigte Noïrun. »Er steht unter diesem Namen in Femris’ Diensten.«

Nun endlich hielt Rowarn inne. Ungläubig blickte er vom Fürsten zu Ragon.

»Es tut mir leid, Rowarn«, sagte der Einäugige. »Ich konnte es dir nicht sagen, so schwer es mir auch fiel.«

»Du hast deine Rolle sehr überzeugend gespielt«, stieß Rowarn bitter hervor. Zum Fürsten sagte er: »Wie kannst du seiner so sicher sein, wenn er für beide Seiten arbeitet?«

»Ich bin mir sicher«, sagte Noïrun ruhig. »Habe ich mich je geirrt, Rowarn?«

Der junge Ritter konnte nicht antworten, die Wut kochte heiß in ihm.

Ragon hob eine Hand. »Lasst es mich ihm erklären, bitte.« Er blickte Rowarn offen ins Gesicht. »Nach dem ersten Fall von Ardig Hall suchte Femris nach Soldaten, und ich war einer von ihnen«, begann er. »Ich hatte gerade mein Auge verloren, was meine Geschichte unterstrich, dass ich nicht auf der Verliererseite stehen wollte. Femris’ damaliger Heermeister nahm mich an. Nach einer Weile hielt er es für eine gute Idee, mich als Spitzel arbeiten zu lassen. Da ich zu Ardig Hall gehört hatte, konnte ich die magische Barriere weiterhin durchschreiten, wie er wusste. Noïruns Plan ging damit auf, und ich konnte ungehindert zwischen beiden Seiten wechseln. So wusste Noïrun immer, welche Verräter in Femris’ Diensten standen, wenn ich sie auf der anderen Seite wiedertraf. Und ich versorgte den Heermeister der Dubhani mit ausreichend Informationen, die ihn nicht misstrauisch werden ließen, uns aber nicht schadeten.«

Rowarn wurde schwindlig. »Ich verstehe das alles nicht mehr«, flüsterte er. »Wem kann ich denn noch trauen?«

»Baumäffchen«, sagte Olrig sanft. »Das weißt du doch.« Dann packte er Rowarn und presste ihn an seine breite Brust. »Nun lass dich endlich begrüßen, Junge! Wir waren sehr in Sorge um dich, und ich bin glücklich, dich so wohlauf zu sehen, und temperamentvoll wie immer!«

Rowarn konnte sich noch nicht recht entspannen, doch allmählich setzte sich die Freude durch, Olrig und Noïrun gesund wiederzusehen. Die beiden sahen ziemlich verstaubt und müde aus, Rüstungen und Kleidung brauchten ordentliche Pflege, aber ansonsten waren sie in bester Verfassung.

Der Fürst schnitt ihm das Wort ab, als er sich verlegen entschuldigen wollte: »Du siehst prächtig aus, Rowarn.« Das Grün seiner Augen vertiefte sich, als er den jungen Ritter lächelnd, mit einem Ausdruck der Erleichterung, musterte. »Lasst uns ins Haus gehen, wo vermutlich bereits Bewirtung auf uns wartet. Meine staubige Kehle dürstet nach einem kühlen Schluck Bier, und dann wirst du uns alles erzählen, bis ins kleinste Detail.« Er ging mit dem Kriegskönig voran.

Als Rowarn ihnen folgen wollte, hielt Ragon ihn auf. »Rowarn. Alles, was ich in der Schlucht gesagt habe, war gelogen«, sagte er ernst. Dann hob er die Augenklappe, und Rowarn schluckte, als er die furchtbare Narbe sah. »Dies hier habe ich den Dubhani zu verdanken. Ich wurde damals kurz vor der Vernichtung von Ardig Hall gefangen und von einer Handvoll Warinen verschleppt. Sie folterten mich und rissen mir das Auge mit bloßer Hand aus, um ihren Sieg zu feiern und sich ein bisschen Spaß abseits der strengen Augen des Heermeisters zu gönnen. Noïrun kam in der Nacht hinter die feindlichen Linien. Ich weiß nicht, warum er das getan hat, und wie er mich fand. Er war ganz allein, und er tötete meine Peiniger im Verlauf weniger Herzschläge. Sie kamen nicht einmal zur Gegenwehr. Anschließend brachte er mich in Sicherheit und vertraute mich den besten Heilern an. Ich verdanke ihm mein Leben.«

Rowarn fühlte sich plötzlich schuldig. »Tut mir leid«, stieß er hervor.

»Unsinn«, sagte Ragon. »Wie hättest du es wissen sollen? Während unserer letzten Schlacht, kurz vor dem Ende, als Noïrun bereits erkannte, dass uns nur die Flucht bleiben würde, befahl er mir, auf dich zu achten. Er ahnte wohl schon, dass du in Gefangenschaft geraten würdest. Ich kam vor dir in der Splitterkrone an und habe dann darauf geachtet, dass dir kein Leid geschieht. Es tut mir leid, dass ich dich trotzdem schlagen und beschimpfen musste, aber besser ich als ein anderer. Ich durfte dir nichts sagen, das musst du verstehen.«

»Natürlich.« Das Bild fügte sich zusammen und klärte sich. Es stimmte. Immer, wenn es gefährlich wurde, war Ragon zur Stelle gewesen. Und solange Rowarn aufrichtig an den Verrat glaubte, waren sie beide sicher. 

Dem jungen Ritter war elend zumute. Selbst im größten Chaos noch hatte Noïrun an ihn gedacht. Hatte dafür gesorgt, dass ein Freund in seiner Nähe war. Ragon hatte ein erhebliches Risiko auf sich genommen, wofür er ihm danken musste. Das wollte Rowarn auch tun. Eines Tages, sobald er in der Lage dazu war, ihm wieder unbefangen zu begegnen. »Warum tut Noïrun das?«, flüsterte er.

»Frag ihn das am besten selbst, Rowarn«, versetzte Ragon. »Er wird es dir nicht von sich aus sagen, solange du nicht darüber reden willst.«

»Und was glaubst du?« Rowarn sah Ragon direkt an.

»Ich weiß nicht, ob man dafür besondere Gründe braucht. Warum hat er unnötigerweise sein Leben riskiert und mich gerettet? Er kannte mich nicht einmal, ich war nur ein Soldat unter vielen. Du aber warst immerhin sein Knappe. Du bist jetzt sein bester Ritter, und du warst Morwens Freund.« Ragon klopfte ihm auf die Schulter. »Dass ihr beide eine tiefe Bindung habt, ist sicher der wichtigste Grund. Du siehst ihn als Vater, und er dich als Sohn.« Damit ging er.

Wenn Noïrun doch nur mein Vater wäre, dachte Rowarn verzweifelt, und nicht Nachtfeuer, verflucht soll er sein, der Dämon und Mörder! Und darin fühlte er sich am meisten schuldig: dass sie sich alle für ihn einsetzten, ohne zu ahnen, welcher Abstammung er war. Wenn sie es wüssten, mussten sie sich unweigerlich voller Verachtung von ihm abwenden, und dann hatte Rowarn alles verloren, woran ihm etwas lag. Deshalb schwieg er immer noch. Aber er wusste genau, dass er nicht mehr lange so weitermachen konnte, und das quälte ihn, seit er in Farnheim zur Ruhe kam. Er durfte seinen Freunden und seinem Dienstherrn nicht auf Dauer alles verschweigen. Der Tag, an dem er alles gestehen musste, war nicht mehr fern.



Es wurde ein langer Tag, denn sie hatten sich gegenseitig viel zu erzählen. Fast fortlaufend wurden Speisen und Getränke gereicht, die Schankmaiden waren fleißig zugange. Tamron gesellte sich bald an den Tisch und wurde mit lautem Hallo begrüßt. Angmor blieb fern, aber das war nicht ungewöhnlich. Graum allerdings kam hereingeschlichen und quetschte sich neben Rowarns Knie.

Olrig und Noïrun berichteten, wie sie während der Schlacht vom Anrücken der feindlichen Verstärkung erfahren hatten. Augenblicklich hatten sie zum Rückzug geblasen und Fersengeld gegeben, noch bevor der Feind begriffen hatte, dass das Blatt sich zu seinen Gunsten wendete. Die Hornbläser gaben das verabredete Zeichen, das Soldaten und Rittern befahl, die Flucht zu ergreifen und sich einzeln durch die Lande zu einem bestimmten Sammelpunkt durchzuschlagen. Das Heer von Ardig Hall zerfiel daraufhin vollständig und flutete in alle Richtungen davon, und zumindest auf dem Schlachtfeld selbst konnten die Dubhani nur wenige Gefangene machen.

Der Fluchtweg war genau geplant, wie der Fürst stets alles in seinen Plänen bedachte. Zwei Mondwechsel lang wurden der Heermeister und der Kriegskönig durch halb Valia gehetzt, doch sie waren immer um mindestens eine Wegstunde voraus. Und natürlich gab es überall gute Freunde, die ein Versteck hatten und sie versorgen konnten, mit Verpflegung und frischen Pferden.

»Noïruns viele Reisen durch Valia in seiner Jugend trugen nun Früchte«, bemerkte Olrig. »Und natürlich auch seine Freundschaften, die er später als Fürst pflegte, hauptsächlich nach dem Verlust von Lingvern. Unseren Häschern ging es bei weitem nicht so gut wie uns; denn wir haben meistens unter einem Dach in einem weichen Bett geschlafen.«

»Doch es zehrte«, gab Noïrun zu. »Wir machten uns große Sorgen um Rowarn, Angmor und all die anderen, von deren Schicksal wir nichts wussten.«

Manchmal wurde es doch ein wenig knapp, berichtete der Kriegskönig weiter, und manchmal konnten sie es nicht wagen, Freunde in Gefahr zu bringen. Manchmal lauerten sie auch den Verfolgern auf und machten einige nieder. Viele Häscher gaben nach und nach auf, doch neue kamen nach. »Natürlich war dem neuen Heermeister daran gelegen, uns in die Fänge zu kriegen, um vor Femris gut dazustehen, sobald der Unsterbliche wieder erwachte.«

»Wir waren froh, als wir schließlich an einem der geheimen Treffpunkte Ragon begegneten«, fuhr der Fürst fort. »Endlich erfuhren wir, was nach unserer Flucht geschehen war. Aber da wart ihr selbst schon in Fluchtvorbereitungen.«

»Pyrfinn stöberte uns dann kurz vor Hohenstein auf und überbrachte uns Angmors Nachricht, und hier sind wir nun«, schloss Olrig und hob heiter den Krug. »Lasst uns darauf anstoßen, dass wir uns gesund wiedergesehen haben!«

»Und eure Verfolger?«, fragte Rowarn.

»Siehst du hier welche? Ich nicht.« Olrig grinste. »Seine Truppe hat Ragon allein erledigt, und der Rest hat unsere Spur endgültig verloren, seit wir ein Ziel hatten und entsprechend die Route planen konnten.«

»Sie dürfen Farnheim zudem nur in Frieden betreten«, erklang Arlyns Stimme in diesem Moment, und sie trat an den großen Tisch. »Ich bitte um Verzeihung, edle Gäste, dass ich mich jetzt erst zeige, doch ich wurde in einem dringenden Fall gebraucht und war nicht abkömmlich.«

»Liebe Arlyn!« Olrig war augenblicklich auf den Beinen, schob Tamrons Stuhl mitsamt dem Unsterblichen darauf einfach beiseite und bahnte sich den Weg zu der Heilerin. Er ergriff ihre Hand, verbeugte sich tief und berührte leicht mit den Lippen ihren Handrücken. »Welch eine Freude, die Sonne von Farnheim zu sehen, strahlend und morgenklar. Schon bin ich geheilt bei diesem wundervollen Anblick.«

Sie lächelte. »Olrig, ein Schmeichler, wie immer.«

Auch der Fürst hatte sich erhoben, kam um den Tisch und verneigte sich vor Arlyn. »Allein die Aussicht, Farnheim wiederzusehen, beflügelte den Schritt meines Pferdes.«

»Und diesmal konntest du sogar selbst absteigen, Noïrun«, sagte sie schmunzelnd und gestattete dem Fürsten, dass er sie leicht auf beide Wangen küsste. Und nicht nur das. Sie gab die Küsse zurück.

Tamron und Rowarn starrten den Fürsten beide gleichermaßen verblüfft an, genau wie Olrig, der mit offenem Mund dastand, beinahe empört und in jedem Fall eifersüchtig. Er musste sich hinsetzen, um das zu verkraften.

»Ihr kennt euch?«, brach es aus dem jungen Ritter hervor. Vor allem war er empört, weil Noïrun und die Lady sich einfach duzten.

»Erstaunlich«, bemerkte der Unsterbliche.

»Wieso erfahre ich das erst jetzt?«, entrüstete sich der Kriegskönig.

Der Fürst grinste jedoch nur verschmitzt und kehrte auf seinen Platz zurück. 

Arlyn hatte schließlich ein Erbarmen. »Es ist lange her, bestimmt zwanzig Jahre.«

»Achtundzwanzig«, berichtigte Noïrun ein wenig wehmütig.

Arlyn erzählte weiter: »Er platzte in eine Hochzeit, die der Bürgermeister von Farnheim-Markt hier ausrichtete. Noïruns Pferd trat die Tür ein und trampelte in den Gang, wobei es Lampen, Blumen und Dekoration abriss und alles verwüstete, und er fiel herunter und blutete alles voll, die ausgestreuten Blüten, den Kinder verheißenden Hochzeitsteppich, das frisch geölte Holz, die Segenswünsche. Da lag er also, in einer riesigen Blutlache, und bestellte ein Bier, frisch gezapft.«

»Und Ziegenkäse mit eingelegten Roten Rüben«, setzte der Fürst hinzu. »Ich hatte mal gehört, dass dies für den raschen Blutaufbau förderlich sein soll, und ich hatte nicht mehr allzu viel davon in mir.«

Rowarn war so schockiert, dass er nicht lachen konnte. Tamron und Olrig jedoch schnappten halb erstickt nach Luft.

»Ich glaube jedes Wort von der Geschichte!«, rief der Zwerg und wischte sich die Lachtränen ab. »Denn auf ähnlich ungewöhnliche Weise lernte ich ihn kennen.«

»Selbst ich habe kaum zu hoffen gewagt, dass er das überlebte.« Arlyn lächelte. »Aber Noïrun war jung und zäh, und vor allem sehr stur. Ich nehme an, abgesehen vom Alter hat sich daran nichts geändert.«

»Kein bisschen«, bestätigte Olrig. »Was war denn die Ursache für die schwere Verletzung? Ein wütender Vater oder gar Ehemann?«

Arlyn sah Noïrun an. »Darüber hat er geschwiegen.«

»Raus damit!«, verlangte Tamron.

»Darauf könnt ihr lange warten«, schmunzelte der Fürst. Er zwinkerte Arlyn zu. »Aber jetzt bin ich ein erwachsener Mann und habe gelernt, mich zu benehmen. Und diesmal wollte ich meinen Aufenthalt mit wachen Sinnen und bei Kräften genießen.«

»Erholung hast du gleichwohl nötig, und du, Olrig, ebenso«, bemerkte Arlyn.

»Und wann warst du hier?«, wollte Rowarn von dem Kriegskönig wissen.

»Oh, schon öfter«, gab der Zwerg bereitwillig Auskunft. »Aber nicht meinetwegen, sondern ich brachte meine Mutter, die immer wieder Anfälle einer tückischen Krankheit erlitt.«

»Hat er dir keinen Heiratsantrag gemacht, in all den Jahren?«, erkundigte sich Tamron bei Arlyn.

Sie lächelte. »Gewiss doch. Aber ich lasse euch jetzt allein, es gibt noch viel für euch zu bereden. Eure Zimmer sind gerichtet. Landi wird sie euch später zeigen, wann immer ihr wollt.« Arlyn nickte ihnen zu und verließ den Gastraum.

Tamron wandte sich dem Fürsten zu. »Du warst nie im Dämonenland, Freund, oder?«

»Was sollte er denn da?«, gab Olrig statt Noïrun zur Antwort.

»Nun, er ist weit herumgekommen, wie wir jetzt wissen. Und geschlossene Grenzen dürften ihn kaum aufhalten.«

Noïrun zuckte mit den Achseln. »Es ist wahr, ich bin nie im Dämonenland gewesen.«

Olrig kicherte in seinen Krug. »Das liegt an den Frauen.«

Tamron hob die silbrigen Augenbrauen. »Frauen?«

»Es gibt keine dort.«

Der Fürst funkelte den Kriegskönig strafend an. Diesmal lachte Rowarn als Erster los. Er war glücklich und fühlte sich geborgen. Kein Land konnte der Finsternis anheimfallen, solange es von solchen Männern verteidigt wurde.

Olrig grinste Noïrun gutmütig an. Der Fürst winkte ab und widmete sich dem Wein.



Der Tag schritt voran, und es wurde eine fröhliche Runde, in der viele Geschichten zum Besten gegeben wurden. In der Dämmerung füllte sich der verwinkelte Raum zusehends mit weiteren Gästen, und eine Gruppe Musikanten stellte sich neben dem großen Kamin auf, in dem inzwischen ein freundliches Feuer knisterte. Mit Trommel, Schelle, Fiddl, Laute und Mandolai spielten sie heitere und mitreißende Weisen.

Olrig hatte inzwischen einen ordentlichen Schwips, und so wunderte es niemanden, als er sich mit gefülltem Krug erhob und den Musikanten auftrug, eine besondere Melodie zu spielen.

Mit dröhnender, klangfester Stimme setzte er zu einem Schalklied an:


»Ein Wandrer bin ich, weit gereist,

Zum Hausbau bin ich längst bereit,

Davor jedoch such ich den Ort,

Wo ich schon lange steh im Wort – 

Das eine noch genießen,

Das andre niemals missen ...«


Und alle fielen ein:


»In Farnheim, in Farnheim,

Da schmeckt das Bier so gut

In Farnheim, in Farnheim,

O wie wohl das tut!«


Olrig setzte fort:


»Lady Arlyn ist die Herrin fein

Ihr Herz ist groß, die Stimme rein,

Und schön ist sie, hell wie der Tag,

Doch eins gibt’s, was ich lieber mag:«


»In Farnheim, in Farnheim ... «, setzten alle an.

»Da schmeckt der Wein so gut!«, rief Noïrun und hob den Pokal. »Hört, hört!«, schallten Stimmen aus dem hinteren Raum, und klirrend stießen Gläser zusammen.


»In Farnheim, in Farnheim,

O wie wohl das tut!«


Nun hatte Tamron mit seiner schönen Stimme einen Vers:


»Unsterblich bin ich, das ist wahr,

Drum wandere ich Jahr um Jahr,

Zehntennien und noch viel mehr,

Doch bei dem langen Hin und Her

Zieht es mich stets an einen Ort,

Das ist für mich der beste Hort!«


»In Farnheim, in Farnheim ...«

»Da liebt es sich so gut!«, rief Ragon, und alle lachten, einige klatschten Beifall.


»In Farnheim, in Farnheim,

O wie wohl das tut!«


Und so ging es weiter, Vers um Vers, von Tisch zu Tisch. Sogar Arlyn gesellte sich irgendwann dazu und wusste eine Strophe, und sie fanden immer einen neuen Reim, was besonders wohltat in Farnheim. Zum Abschluss gab Olrig eine Tanzeinlage auf Zwergenart. Seine stämmigen Füße wirbelten nur so über den Boden, und schnell fand sich eine Schankmaid, die beim Anblick dieser Kunst nicht stillhalten konnte. Die Zuschauer klatschten im Rhythmus, stampften mit den Füßen im Takt und feuerten sie an, während Tamron dazu sang.

So ausgelassen und unbeschwert hatte Rowarn sich schon lange nicht mehr gefühlt, und vor allem hatte er noch nie selbst gesungen. Er wusste gar nicht, dass er es überhaupt konnte. Seine Stimme war ungeübt und würde nie besonders gut sein, aber er konnte immerhin den richtigen Ton treffen und halten. Normalerweise lauschte er lieber den Liedern, und in Madin war er nie wohl genug gelitten gewesen, als dass man ihn in solche Fröhlichkeit mit einbezogen hätte. Er zwinkerte Olrig vergnügt zu, als der Kriegskönig schließlich atemlos auf die Bank niedersank, auf jedem Knie eine Schankmaid, und sich ausführlich den wild wuchernden Bart kraulen ließ. 

Auch Noïrun war längst in weiblicher Gesellschaft, und mehrere Mädchen hatten Rowarn ihre Aufwartung gemacht, doch er bemerkte sie nicht einmal. Sein Blick glitt immer wieder verstohlen zu Arlyn, die von Tisch zu Tisch ging und mit den Gästen plauderte. Die Art, wie sie den Kopf zurückwarf, wie anmutig sie Fuß vor Fuß setzte, wie sie lächelte und die roten Lippen bewegte, grub sich tief in sein Herz ein. Er sah die sanfte Rundung ihrer Hüfte, den edlen Schwung ihres Halses, ihre schlanken Hände.

Als sie schließlich den Gastraum verließ, war er froh und traurig zugleich.



Zu vorgerückter Stunde machte die Musik eine Pause, und die Gefährten ließen sich ein kleines Nachtmahl auftragen. Rowarn merkte, wie ihm die Augenlider schwer wurden, obwohl es noch weit vor Mitternacht war. Graum war schon längst wieder draußen. Es war ein anstrengender Tag voller Aufregungen und ungewohnter Geselligkeit gewesen; dem Poeten hätte dies als Ausklang sicher gefallen.

Da kam Ragon zurück, der vor einiger Zeit verschwunden war. Er war vollgepackt und hielt etwas Unförmiges in den Armen, das in einen Umhang gewickelt war. In einen schwarzblauen Umhang, der Rowarn schlagartig vertraut vorkam, und sein Herzschlag stockte.

»Ich habe sie nach deiner Gefangennahme in Sicherheit gebracht und mitgenommen, als ich mit der Truppe die Splitterkrone verließ«, erklärte der Einäugige und breitete vor Rowarn die Lederrüstung aus Ennishgar samt Gürtel, Messer und Schwert aus, Noïruns Geschenk. »Ich dachte mir, du willst die Rüstung wiederhaben. Das Wappenhemd und die Ritterfahne sind natürlich auch dabei.«

Es wurde still am Tisch. Rowarn war sprachlos. Seine Hand glitt über die kostbaren Sachen, an denen viele Erinnerungen hingen. Er hatte sie für immer verloren geglaubt. »Ich – ich weiß gar nicht, was ich ...«, stammelte er. Dann sprang er auf. »Entschuldigt, ich – ich muss für einen Moment ... da ... ist ...« 

Er schüttelte den Kopf und stürmte aus dem Raum, wobei er zwei Männer fast umrannte, die gerade hereinwollten. 



Rowarn lief quer durch den Park bis in den Wald hinein, der schon dunkel war. Aber durch seine nachtsichtigen Augen fand er sich leicht zurecht. Der Himmel war klar, der Mond und Ishtrus Träne strahlten um die Wette. 

Als Rowarn sich weit genug von allen Augen und Ohren entfernt glaubte, kauerte er sich zitternd an einen alten Eichenstamm, zwischen zwei kräftige Wurzeln. Er zog die Knie an, schlang die Arme darum, verbarg den Kopf dazwischen und weinte. 

Ich kann nicht mehr, dachte er verzweifelt. Sie müssen es erfahren. Ich weiß nicht, wie ich es ihnen beibringen soll, aber so geht es nicht weiter. Sie müssen wissen, wer mein Vater ist. Und dass ich der Zwiegespaltene bin. Und der Erbe von Ardig Hall. Eben alles.

Die Brust war ihm so eng, dass er glaubte, zerspringen zu müssen. Diese aufrechten, ehrlichen Männer behandelten ihn wie einen der Ihren, ohne das Geringste von der Dunkelheit in ihm zu ahnen. Seit dem Aufbruch von Inniu hatte Rowarn nie die Wahrheit über sich gesagt. Und nun, da das Geheimnis um seine dämonische Herkunft umso schwerer wog, schwieg er erst recht aus Scham und Angst.

Am besten rief er gleich morgen früh alle zusammen und gestand ihnen die Wahrheit, bevor er mit Windstürmer aufbrach, irgendwohin. Es gab genügend Orte, an denen man ihn nicht kannte, wo er neu anfangen konnte. Irgendwann würde er schon über den Verlust hinwegkommen und eine neue Aufgabe finden. Vielleicht sollte er sogar den Tyrannen Hakkur besuchen, der ihm erzählen konnte, wie es war, mit der Einsamkeit zu leben.

Rowarn fuhr hoch. Er hatte ein Geräusch gehört, das leise Knacksen von trockenen Zweigen, zertreten von weichem Schuhwerk. Hastig wischte er die Tränen ab. So wollte er auf keinen Fall gesehen werden! Wie weit musste er denn laufen, um endlich seine Ruhe zu haben? Um sich gehen lassen zu dürfen, ohne beobachtet zu werden? 

Er stand auf und schlich durch die Büsche dorthin, wo er das Geräusch gehört hatte. Dabei verursachte er selbst keinen Ton. Rowarn war nah am Wald aufgewachsen, er konnte sich lautlos und verborgen bewegen wie ein wildes Tier. Und das Blattwerk bot genug Deckung, um sich nicht durch den Schimmer seiner Aura zu verraten.

Schließlich sprang er durch einen Busch, griff zu – und hielt Arlyn am Arm. Erschrocken ließ er sie los und wich einen Schritt zurück.

Sie war nicht minder verdattert, ihre Augen waren weit aufgerissen. »Rowarn?«, sagte sie. »Was ist ...«

»Was macht Ihr ...«, fing er gleichzeitig an und brach ebenso wie sie ab.

Verlegen stand er der Lady gegenüber. Hoffentlich hatte sie nicht den Eindruck, dass er ihr nachgeschlichen war.

Dann fing Rowarn neu an: »Ich dachte, ich wäre allein.«

»Nun, das dachte ich auch.«

»Wobei habe ich Euch gestört?«

Sie deutete auf den Korb, den sie bei sich trug. »Ich habe Pflanzen gesammelt, die nur nachts ihre Kräfte entfalten. Und du?«

»Meine Gedanken gesammelt.« Sein Herz pochte, weil sie die förmliche Anrede einfach wegließ. Aber er war noch zu gehemmt, ebenso zu antworten, und drückte sich um eine direkte Anrede.

Sie nickte. Dann stellte sie den Korb ab und nahm ihn am Arm. »Komm.«

Er wollte zögern, doch sie ließ es nicht zu. Tiefer hinein ging es in den Wald, auf einem Pfad, der ihm unbekannt war.

Es war eine vergleichsweise laue Nacht, der Himmel sternenklar. Eine zarte Brise tanzte sirrend hoch oben in den Wipfeln der Bäume, und die Blätter antworteten flüsternd. Die Baumstämme boten scharfe Schattenrisse, gelegentlich durch silbrigweiße Rinde aufgehellt. Die Farne waren hier hochgewachsen, feinfiedrig und schlank.

An dieser Stelle war Rowarn noch nie gewesen. Der Wald wurde hier nicht düsterer, sondern heller, mit schlanken Bäumen und feinem Blattwerk. 

Arlyn blieb auf einer kleinen Lichtung stehen und legte den Finger an den Mund. Ein dünnes Gewand aus Sternenlicht umhüllte ihre ätherische Gestalt, ihre Augen glänzten wie ferne goldene Monde. Rowarn hätte am liebsten stundenlang nur sie betrachtet, aber sie lächelte und wies um sich.

Tausende kleiner Lichtpunkte schwebten ringsum zwischen den Bäumen. Ein gelblich und grünlich glühendes Funkenballett, das sich von lautlosen Flügeln getragen in der weichen Luft wiegte. Hin und wieder erloschen ein paar Pünktchen, um an anderer Stelle umso heller aufzuglühen. Als ob die Sterne vom Himmel sich mit der Welt vereinen wollten.

Rowarn stand lange und sah nur zu. Nicht einmal in Weideling hatte er so etwas Wundervolles gesehen. Dort gab es zwar auch Glühwürmchen, aber nicht in dieser großen Zahl. Er war völlig verzaubert, und ohne dass er es merkte, liefen ihm erneut die Tränen über die Wangen.

Eine zarte Hand berührte sein Gesicht. Arlyn sah ihn an und wisperte: »Du bist wie sie ...«

Sie war ihm ganz nah, und ihr Duft hüllte ihn ein. Nach Moos, Orchideen, wachsendem Holz, Honig und Nachtglöckchen. Sie war Farnheim selbst, die Bäume bewegten sich mit ihrem Herzschlag. An diesem Ort schien Arlyn geboren zu sein, aus dem Schoß der Erde selbst hervorgekommen, gewiegt von Wurzelgeflecht, überdacht von Farn.

Rowarn sehnte sich danach, sie in die Arme zu nehmen. Er wollte ihren Körper an seinem spüren, den Geschmack ihrer Lippen kosten. Er wollte ihr sagen, was er für sie empfand, dass sein letzter Gedanke vor dem Einschlafen ihr galt, und der erste am Morgen, wenn er erwachte. Manchmal schmerzte es so sehr, dass er glaubte, es nicht mehr ertragen zu können. Aber er wagte nicht, sich ihr zu offenbaren. Arlyn war ihm zu fern, unerreichbar wie Ishtrus Träne dort oben. Doch er wollte wenigstens den Moment festhalten, auf dieser Lichtung, umgeben von Myriaden winziger Sterne, die nur für sie vom Himmel herabgekommen waren, um im Reigen um sie zu tanzen.

»Sie sind ein Licht in der Dunkelheit«, flüsterte er. »Sie weisen verirrten Wanderern den Weg und spenden Trost.«

»Genau wie du«, wiederholte sie sanft.

»Das ist nur meine äußere Hülle«, versetzte er bitter. »In mir aber herrscht Dunkelheit.«

Schweigend sah sie ihm in die Augen. Er spürte die Aufforderung, sich zu öffnen, das eingesperrte Geheimnis in ihm endlich herauszulassen und die Last von seiner Seele zu nehmen. Aber wie konnte er das? Sie musste ihn schließlich verachten für das, was er war. Und sie konnte ihm nicht helfen. Das konnte niemand. Wozu also seine Bürde noch auf andere übertragen? Das würde alles nur noch schlimmer machen. Und er wollte sich wenigstens noch ein bisschen freundschaftliche Zuneigung von ihr bewahren; auf mehr konnte er niemals hoffen.

Arlyn schien es zu begreifen, denn er merkte, wie sie sich von ihm entfernte, obwohl sie noch vor ihm stand. Eine Mauer baute sich zwischen ihnen auf.

Still drehte sie sich um und verließ ihn.