Kapitel 13

Der zweite Pfad


Der Morgen schenkte den Kriegern viel Sonne. Der Nebel hatte sich verzogen, und ein warmer Tag erwartete die Frühaufsteher, die mit steifen und geschundenen Gliedern aus den Zelten krochen.

Nicht weit vom Lager entfernt lag das Schlachtfeld, dessen Ausmaß erst jetzt bei klarer Sicht erkenntlich war. Nicht weniger als achtzig Warinen waren gefallen; ob welche entkommen waren, konnten auch die Dämonen nicht sagen. Fürst Noïrun ließ die Leichen auf einen Haufen zusammentragen und verbrennen. Die Waffen ließ er allerdings einsammeln und zu einem Wagen bringen. Die eigenen Verluste waren dank der Dämonen gering geblieben.

»Eine vernichtende Niederlage für diese Unwesen. Recht so«, bemerkte Olrig, als er Rowarn abholte. Kritisch musterte er den jungen Nauraka, dessen Kleidung noch in der Nacht gründlich gereinigt und getrocknet worden war. Er inspizierte auch den ordentlichen Sitz der neuen Rüstung, die sich bereits bewährt hatte. »Du bist ganz grün im Gesicht«, stellte er fest.

Rowarn wollte nicht zugeben, dass er nichts hatte zu sich nehmen können. Die ganze Nacht hatten ihn die grauenhaften Augen der Eliaha heimgesucht, und ihre Schreie und das schauerliche Gelächter schrillten ihm jetzt noch in den Ohren. Vielleicht wegen seiner Raserei und des Tötens … »Habe ich den Ritterschlag wirklich verdient?«, fragte er leise.

»Was für eine dusslige Frage«, brummte der Kriegskönig. »Du bist ein außergewöhnliches Talent, besitzt großen Mut und hast dich hervorragend bewährt, indem du deine Kräfte genau dort eingesetzt hast, wo sie am dringendsten gebraucht wurden. Damit hast du Noïrun gestern das Leben gerettet. Ohne dich wäre es für uns vielleicht nicht so gut ausgegangen, trotz Fashirhs Eingreifen. Ich habe Noïruns Entscheidung begrüßt, dich vorzeitig zum Ritter zu schlagen. Es steht dir zu, Rowarn.«

Der junge Nauraka sagte nichts dazu und schob alle weiteren Gedanken von sich. Es war entschieden, also würde es schon seine Richtigkeit haben.

Die Schar wartete bereits in zeremonieller Aufstellung, als Olrig ihn zum Feuer führte, und dort stand auch Fashirh, der Rote Dämon, bei Tageslicht nicht weniger furchterregend und riesenhaft. Die Fäden seines Kinnbartes bewegten sich sacht. In einiger Entfernung beobachteten die anderen drei Dämonen Rowarns Ankunft. Ihre Gesichter waren ebenso wie die Körper knorrig und tierhaft, wie aus verschiedenen Teilen mächtiger Raubtiere und vielleicht auch Echsen zusammengesetzt, mit großen, zähnestarrenden Schnauzen. Doch in den kalten, geschlitzten Augen leuchtete Intelligenz und Wissen. Rowarn war sicher, dass sie Menschen und Zwergen bei weitem überlegen waren.

Der Fürst erwartete ihn bereits, und Rowarns Knie wurden weich. »Was muss ich denn überhaupt tun?«, wisperte er Olrig hektisch zu.

»Leg ihm dein Schwert vor die Füße. Geh vor ihm auf das linke Knie nieder und senke deinen Kopf«, gab der Kriegskönig leise zurück. »Sag: ›Ich weihe diese Klinge dem edlen Rittertum und bitte meinen Herrn, mich aus seinem Dienst als Knappe zu entlassen, um mich in allen Ehren als Ritter seiner Schar aufzunehmen. Ich gelobe ...‹«

»Bist du verrückt? Das kann ich mir unmöglich merken!« Rowarn geriet fast in Panik. Am liebsten wäre er davongerannt.

»Sag einfach irgendwas«, winkte Olrig ab und grinste breit. »Es findet keine großartige Zeremonie statt, sondern eine schnelle Ernennung mitten auf dem Schlachtfeld. Du wirst dich schon nicht blamieren, Baumäffchen.«

Wenn Rowarn das nur glauben könnte. Er bemühte sich, seinen Atem ruhig zu halten, und schritt allein auf den Fürsten zu. Er zog das Schwert und legte es vor ihn hin, wie Olrig es gesagt hatte. Dann ließ er sich auf das linke Knie sinken und neigte den Kopf. »Ich lege diese Klinge meinem Herrn zu Füßen«, floss es aus ihm hervor, mit klarer und kräftiger Stimme, ohne dass er darüber nachdachte. »Ich gelobe, ihm aufrichtig und in Ehre zu dienen, bis er mich von meiner Pflicht entbindet.« Er hob den Blick zu Noïrun. »Ich gelobe, meinem Herrn, dem Fürsten Noïrun, allzeit in Liebe und Treue zur Seite zu stehen und niemals zu weichen, solange er mich braucht und sich meines Schwertarms bedienen will.«

Er hörte, wie Olrig hinter ihm gerührt schniefte. Auch die strengen Züge des Fürsten wurden weicher, bevor er das Schwert mit beiden Händen aufnahm. »Ich nehme dein Schwert und dein Gelöbnis an«, sagte er mit gewohnt beherrschter Stimme. Dann schloss sich seine rechte Hand um den Griff des Schwertes, und er hielt die Spitze über Rowarns Kopf. »Und hiermit, in Anerkennung deiner Dienste auf dem Schlachtfeld, deiner großen Kriegskunst, deines unerschütterlichen und mutigen Einsatzes, und als Dank für meine Rettung, als du dich allein gegen eine Übermacht der Feinde gestellt hast, ernenne ich dich zum Ritter von Ardig Hall. Du sollst dich treu an die Gebote des Ritterstandes halten, Ehre und Pflicht hochhalten, stets Schwächeren zur Seite stehen und zuerst zu schlichten versuchen, bevor du zur Waffe greifst. Ein Ritter zu sein, bringt hohe Verantwortung mit sich, verlangt Weitsicht und klares Denken.« Er nickte Rowarn zu und gab ihm ein kurzes, unauffälliges Zeichen, sich zu erheben, bevor er einen halben Schritt zurückwich.

Nun trat Olrig an Noïruns linke Seite und hielt Rowarn ein Stück blaues Tuch hin. »Dies ist das Wappenhemd von Ardig Hall«, sagte er feierlich, als er es in Rowarns Hände legte. »Du bist dazu berechtigt, es jederzeit über deinem Harnisch zu tragen. Halte es in Ehren.«

Und dann ... Rowarn blinzelte, als überraschend Morwen an Noïruns rechte Seite trat. Sie trug den linken Arm in einer Schlinge, sah dünn und blass aus, mit tiefen Schatten unter den Augen. Aber die Augen selbst funkelten klar und voller Leben, als sie eine Rückenstange hochhob, an der die Fahne mit dem Seedrachen wehte.

»Außerdem bist du als Ritter berechtigt, zu Pferde diese Fahne zu tragen, als Ehrenzeichen.« Sie hielt ihm die Stange hin. Leise fügte sie hinzu: »Eigentlich müsste ich sie an deinem Rücken befestigen, aber das schaffe ich nicht.« Hastig trat sie dann einen Schritt hinter ihren Vater zurück, während Olrig sich direkt neben ihn stellte.

Rowarn wusste nicht, was er tun oder sagen sollte. Der Fürst trat mit einem kurzen schmerzlichen Zucken der Wangenmuskeln auf ihn zu, ergriff seine Schultern und küsste ihn nacheinander auf beide Wangen. »Willkommen in meiner Garde, Ritter Rowarn«, sagte er lächelnd. Er wandte den Kopf leicht zu Olrig und flüsterte: »Rühren.«

»Rühren!«, brüllte der Kriegskönig, und daraufhin zerfiel die geordnete Stellung der Schar. Alle, einschließlich der Soldaten, brachen in Jubel aus und applaudierten begeistert. Sie umringten Rowarn und zogen ihn mit sich.



Noïrun legte Morwen, die vor Erschöpfung eine weiße Nase bekommen hatte, stützend den Arm um die Taille. »Es hat wohl kaum Sinn zu sagen, dass du unvernünftig bist«, sagte er. »Jetzt leg dich aber wieder hin, wir werden bald aufbrechen.«

»Zu Befehl, mein humpelnder Herr«, sagte sie stolz und ging dann mit unsicheren Schritten zurück zum Lazarett.

Fashirh stampfte auf den Fürsten zu. »Nett«, sagte er. »Ähnliches Brimborium gibt es bei uns auch. Ziemlich durchschaubare Strategie, spornt sie trotzdem an. Aber sollten wir jetzt nicht aufbrechen?«

»Lass ihnen noch ein wenig Zeit«, erwiderte Noïrun. »Sie haben gestern ihr erstes Blut vergossen und ihre erste Schlacht gemeistert, ohne fortzulaufen. Damit müssen sie erst fertig werden, denn trotz allen Siegestaumels werden viele Schuldgefühle wegen des Tötens haben. Auch deshalb habe ich Rowarn in den Ritterstand erhoben und diese Zeremonie abgehalten, um ihnen zu zeigen, dass etwas Gutes daraus erwachsen kann, und dass es von Bedeutung ist, was sie tun. Und dass ihnen dafür gedankt wird.«

»Ah, ihr Warmblüter, immer so gefühlvoll! Wie schafft ihr es überhaupt, Reiche zu erobern, bei diesen ständigen Schuldgefühlen?« Den Roten Dämon schüttelte es.

»Ist euer Blut denn kalt und euer Herz aus Stein?«, brummte Olrig.

Fashirh fletschte die Zähne. »Wir haben gar kein Blut, grimmiger Freund, und besitzen demzufolge auch kein Herz. Unsere sterbliche Hülle wird von reiner Lebensessenz durchströmt.«

Olrig schloss kurz die Augen. »Das also haben die Warinen von euch erhalten.«

»Ja«, bestätigte Fashirh. »Keine dumme Idee, wie?«

»Dann könnt ihr niemals fühlen? Lieben?«, fragte Noïrun langsam.

»Eine seltsame Unterhaltung führen wir hier«, stellte der Rote Dämon fest. »In den Jahren zuvor hat euch das nie interessiert. Liegt es an dem Jungen? Aber ja, gewiss liegt es an ihm. Auch er stellte mir gestern Fragen, die wir nur selten hören.« Er richtete seine kohleglimmenden Augen auf den Fürsten. »Natürlich können wir lieben, wenn wir es wollen und zulassen«, gab er eine Antwort. »Dieses Universum wurde mit Liebe erschaffen, und die Finsternis ist ein Teil davon, so wie wir ein Teil der Finsternis sind. Die Liebe eines Dämons ist sogar einzigartig.«

Der Fürst winkte ab. »Du hast recht, das führt zu weit. Fashirh, ich sehe, deine Artgenossen werden unruhig. Ich schlage vor, ihr macht euch auf den direkten Weg nach Ardig Hall, es sei denn, ihr trefft unterwegs noch ein paar marodierende Truppen. Dann habt ihr die Erlaubnis, innezuhalten und sie auszulöschen, ehe ihr weiterlauft. Wir treffen uns im Lager am Fuße des Schlosshügels.«

»Eine sehr kluge Entscheidung, immerhin«, lobte der Rote Dämon. »Eine gute Reise euch allen. Wir halten die Stellung, wie gehabt, bis ihr kommt.«

Noïrun fügte hinzu: »Seht euch vor dem Bepheron vor.«

»Dem Bepheron? Wovon sprichst du?«

»Femris' neuer Heermeister. Haltet euch fern von ihm, das ist ein Befehl.«

»Oh! Wirklich! Ein Bepheron!« Fashirh lachte dröhnend. »Was für eine Freude! Ich kann es kaum erwarten. Noïrun, es ist mir wie stets ein Vergnügen.« Er gab den anderen drei Dämonen einen Wink, und kurz darauf waren sie bereits unterwegs, mit schnellen, raumgreifenden Schritten. Fashirhs gewaltiger Körper war noch lange zu sehen.

Noïrun blickte Olrig an. »Ist der Herr geneigt, wieder mit mir zu reden?«

»Mhmm«, brummte der Zwerg finster.

»Das fasse ich als Ja auf.« Noïrun gestattete sich, seinen Schmerz zu zeigen. »Ich kann kaum mehr stehen, alter Freund. Ich glaube, mein Knöchel hat inzwischen den Umfang eines Hexenkessels und dampft und kocht auch so. Hilf mir doch, bitte, und ich würde auch sehr gern etwas von deinen Kräutern in Anspruch nehmen, und vielleicht einen kühlenden Verband ...«

»Hör schon auf!«, rief Olrig, legte sich den Arm des Freundes um die Schultern und stützte ihn. »Du meinst, weil du deinen Knappen entlassen hast, muss ich wieder für alles herhalten? Also schließen wir einen Handel: Ich versorge deinen Fuß, und du hörst dir alle meine Vorwürfe an, von Anfang bis Ende, ohne mich zu unterbrechen.«

»Also gut«, gab Noïrun seufzend nach. »Ich habe ja wohl keine Wahl. Allerdings könnte ein bisschen Ushkany zusätzliche Linderung verschaffen.« 

Olrig grinste. Es gefiel ihm außerordentlich, einmal das letzte Wort zu haben. »Darüber lässt sich reden, ich bin ja kein Unzwerg.«



Mittags brachen sie schließlich auf. Als der Fürst ein Ersatzpferd satteln wollte, wieherte der Kupferhengst empört und blies Dampfwolken aus den Nüstern. Die Wunde an seiner Schulter war mit Kräutern und dickem Ton verklebt, und er empfand sich offensichtlich als stark genug, um seinen Herrn trotzdem tragen zu können.

»Ihr passt zusammen!«, knurrte Olrig, der kurz zuvor eine heftige Auseinandersetzung mit dem Fürsten gehabt hatte, weil es seiner Ansicht nach Gift für den Fuß war, zu reiten, anstatt mit hochgelagertem Bein auf einem Wagen mitzufahren. Er nahm Noïrun den Sattel weg und knallte ihn unsanft auf den Rücken des Hengstes, der mit dem Kopf hochruckte und die Ohren anlegte. »So!«, schimpfte er. »Und sieh zu, wie du allein raufkommst!« Wütend stampfte er zu seinem Schimmel.

Sie kamen nur langsam voran, denn Noïrun wollte die Wagenkolonne, auf der die Verletzten notdürftig untergebracht waren, nicht ohne Bedeckung lassen. Der Kupferfuchs schritt heute ebenfalls nicht so eifrig aus wie sonst und lahmte leicht wegen seiner Verletzung. Auch der Fürst hatte deutliche Probleme, sich im Sattel zu halten, aber weder Ross noch Reiter gaben auf.

Wahrscheinlich, dachte sich Rowarn, wäre es besser gewesen, die Dämonen beim Tross zu behalten, denn momentan sind wir nicht allzu schlagkräftig. Sobald die Niederlage der Warinen sich verbreitete, würden die Bemühungen, den Fürsten zu finden, bestimmt verdoppelt. 

Olrig schien diese Ansicht wohl zu teilen, denn Rowarn sah die beiden schon wieder streiten, wobei eigentlich nur der Zwerg stritt und der Fürst wie immer alles von sich abprallen ließ und hauptsächlich durch Gesten antwortete.

Der restliche Tag verging ruhig. Vielleicht wäre es besser gewesen, eine Rast einzulegen, andererseits waren sie so wieder ein Stück weitergekommen, und der Fürst ließ noch vor der Dämmerung anhalten und das Lager aufbauen. Den Rest des Tages und am Abend sah man ihn nicht mehr, er hatte sich in sein Zelt zurückgezogen, um dort für sich zu leiden. 

Rowarn ließ es sich nicht nehmen, ihm eine Abendmahlzeit und einen Krug Rotwein zu bringen. Ushkany gab es keinen mehr, wie Olrig beteuerte. Vielleicht war er zu wütend auf seinen adligen Freund und wollte ihm nichts geben, vielleicht aber stimmte es auch. Durch den frühzeitigen Aufbruch aus Ennishgar hatte der Zwerg keinen Nachschub mehr besorgen können. 

Noïrun allerdings ging es wirklich nicht gut, sein Knöchel war stark geschwollen und blaurot verfärbt. Mit vereinten Kräften hatten sie den Stiefel ausziehen müssen, und beim Rest half Rowarn ihm ebenfalls und ganz selbstverständlich, denn Noïruns verletzte Schulter machte durch die ständige Anspannung während des Rittes ebenfalls Schwierigkeiten, was kaum ein Wunder war. Selbst als junger Mensch konnte man solche Strapazen nicht einfach so wegstecken, wie Rowarn und die Hundertfünfzig auf dem Weg nach Valia erfahren hatten. Noïrun besaß zwar mehr Ausdauer und war zäh, aber eben auch mehr als doppelt so alt wie die Rekruten. 

Genau so, dachte Rowarn voller Freude, würde ich meinen eigenen Vater versorgen. Und Noïrun schien dankbar für die Fürsorge zu sein, denn er nahm sie widerspruchslos hin. Also ging Rowarn noch einen Schritt weiter und schickte anschließend einen Heiler zu ihm. Sicherheitshalber hielt er sich danach allerdings vom Zelt fern. Er nahm selbst eine Kleinigkeit zu sich, die sein Magen erfreut begrüßte, und kroch zufrieden in sein winziges Zelt.

Er war gerade eingeschlafen, als Morwen unter seine Decke schlüpfte. Rowarn nahm sie in die Arme und streichelte sie, wobei er auf ihre Schulter achtete. Noch etwas, das sie nunmehr mit ihrem Vater gemeinsam hatte. »Du hast dich schnell erholt.«

»Es tut genauso weh, wenn ich still liege«, sagte sie. »Ich bin ein ungeduldiger Mensch, ich kann nicht zusehen, wie Stümper meine Arbeit verrichten.«

Er lachte leise. »Dir kann es keiner recht machen, stimmt's?«

»Ich werde nicht tatenlos zusehen, wenn es wieder zu einem Angriff kommt.«

»Mhm. Aber übertreib’s nicht.«

Eine Weile lagen sie ruhig da. Er glaubte schon, dass sie eingeschlafen war, bis sie sagte: »Ich gratuliere dir zum Ritterschlag. Das war eine gute Entscheidung meines Vaters. Du hast es dir mehr als verdient.«

»Da bin ich mir nicht so sicher«, murmelte er. »Morwen, ich habe wieder völlig die Beherrschung verloren. Ich weiß nicht mehr, was ich tat. Und ich habe noch lange nicht genug gelernt.«

»Du solltest Noïrun vertrauen. Er handelt niemals voreilig oder leichtfertig. Wenn er der Ansicht ist, du bist so weit, dann bist du’s.« Sie berührte sein Gesicht. »Hast du Angst vor dem Unbekannten in dir?«

Er nickte. »Sicher. Ich weiß fast nichts über mich, und von dem, was ich weiß, zu wenig. Und ich ... glaube, ich habe deswegen die Kontrolle verloren, weil ich zu sehr von meinen Gefühlen geleitet wurde. Von meinem Rachedurst ...«

»Das tut mir leid.« Sie schmiegte sich enger an ihn. »Für dich gilt dasselbe wie für mich: Übertreib’s nicht. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir fehlbar sind. Ich wünsche dir, dass du deine Rache eines Tages aufgeben kannst. Sie ist ein starker, aber ein schlechter Antrieb. Wer weiß, ob du überhaupt für Ardig Hall kämpfen willst, wenn wir dort sind, oder nicht einen anderen Weg einschlägst.«

Das wusste er auch nicht, musste Rowarn vor sich selbst zugeben. Doch er war Noïrun gegenüber eine Verpflichtung eingegangen und als Ritter an seinen Eid gebunden; zumindest eine Weile würde er für das Schloss kämpfen, für das Tabernakel.

Arm in Arm schliefen sie ein. Zwischen ihnen hatte sich etwas verändert, seitdem Morwen Rowarn den Schwur abgenommen hatte, das Leben ihres Vaters über das ihre zu stellen. Fast, als wären sie nun Bruder und Schwester. 



Zwei Tage später blickte Rowarn von einem Hügel herab auf eine ausgedehnte Ebene. In der Ferne wand sich ein großer, breiter Strom träge durch die Landschaft – der Goldene Fluss, so benannt wegen der reichhaltigen Goldvorkommen, die er einst mit sich geführt hatte. Heute brachte er nur noch Schlamm und Sedimente aus den Bergen mit, die er viele Tagesreisen weit transportierte. Der Goldfluss galt als Grenze von Valias Westen, auf der anderen Seite begann offiziell der Osten des ehemaligen Reiches. Wobei der Osten nicht weniger in unabhängige Städte, Baronien, Fürstentümer und sonstige kleine Reiche zersplittert war als der Westen. Doch von jeher stellte der gewaltige Strom eine natürliche Trennlinie dar, die es von Norden nach Süden nicht gab.

Einen schlechten Ruf hatte der Osten erst erhalten, seit Femris dort seine Burg Dubhan errichtet hatte. Doch hatte man erst einmal den Fluss überquert, erwarteten den Reisenden genau dieselben Leute, dieselbe Lebensweise und dieselben Landschaften wie im Westen auch. Der schwarze Schatten der Burg fiel nur auf die Herzen der Sterblichen, nicht auf das Land.

Die waldreiche Ebene war von vielen Wasseradern durchzogen, die zumeist in Seen mündeten. Zahlreiche Burgen fanden sich hier, auf Erhebungen, an oder auf Seen, manchmal von kleinen Dörfern umgeben.

Schnurgerade, wie auf einer Karte gezogen, verlief mitten durch die Ebene eine breite, auf die Entfernung erstaunlich schimmernde Straße von Norden nach Süden. Rowarn fragte sich, was das weithin sichtbare Bauwerk wohl zu bedeuten hatte. Vielleicht ein Pfad Lúvenors, so wie am Galad-Mur?

Sie holperten mit der Wagenkolonne gerade in die Ebene hinunter, als Rowarn im Norden, hoch am Himmel, eine seltsame dunkle Wolke ausmachte, die an den Rändern merkwürdig zerfaserte und rasch näher kam. Er trieb Windstürmer an, um zu dem Fürsten aufzuschließen, doch da schlug Morwen bereits Alarm. »Wir werden angegriffen!«

»Von wem?«, rief Olrig und zückte die Axt. »Wo sind sie? Lasst sie mir!« Mit seinen Zwergenaugen konnte er nicht so weit blicken, doch auch Morwen musste gestehen: »Ich weiß es nicht, aber es kommt eine dunkle Wolke von Norden auf uns zu. Vielleicht nur ein Schwarm Vögel, aber vielleicht auch nicht!«

Niemand glaubte, dass es nur ein Schwarm Vögel war. Dafür hielt die Wolke zu schnell und zielstrebig genau auf den Tross zu.

Rowarn griff nach dem Bogen, der an seinem Sattel hing, und legte einen Pfeil an die Sehne, während er Windstürmer die Zügel ließ.

»Rowarn, was siehst du?«, rief Morwen. »Beschreib es mir!«

Der junge Ritter strengte seine Augen an. Zum Glück war es ein etwas trüber, von Schleierwolken durchsetzter Tag, sonst wäre es für ihn nicht möglich gewesen, direkt zum Himmel zu blicken. Dann musste er schlucken. »Keine Vögel«, gab er Auskunft. »Obwohl sie bunte, schillernde Federn tragen. Sie sind lang und dünn und haben keine Beine, und ihre Köpfe ...« Ihm schauderte. Es waren die Köpfe von Schlangen, kantig und breit, mit einem ausgestellten gezackten Hautkragen. Doch das brauchte er nicht mehr zu erklären, Morwen hatte bereits verstanden.

»Chalumi!«, schrie sie.

»Die Wagen zusammen, Kreis bilden!«, befahl Olrig daraufhin. »Alle Ritter und Soldaten sofort in den Kreis! Holt die Zelte und breitet sie über euren Köpfen aus, schnell!«

Der Fürst hatte bereits umgedreht, und in fliegender Hast zogen sich alle mit den Pferden in den inneren Kreis der Wagenburg zurück, die sich blitzschnell um sie geschlossen hatte. Sie zerrten die Zelttücher hervor, um sie gemeinsam über sich zu spannen. Bald darauf waren die Federschlangen heran und griffen mit schrillen Pfiffen an. Sie schlugen die Köpfe in die Planen, und Rowarn sah riesige Giftzähne durch den Stoff stechen, aus denen eine gelbe, stinkende Flüssigkeit tropfte. Klatschend, prasselnd wie ein schwerer Hagel trommelten die Chalumi auf die Tücher ein, versuchten, sie zu durchschlagen, sich durchzubeißen. Sie zischten und geiferten und schnappten hektisch. Die Pferde machten sich ganz klein und zitterten, aber sie verharrten brav, obwohl das völlig gegen ihre Natur war. Die Menschen verhielten sich ebenfalls still, verständigten sich höchstens durch Augenkontakt und Körpergesten. Jeder hoffte, dass es bald vorübergehen würde, sobald die Schlangen merkten, dass sie nirgends auf warmes Fleisch trafen, und abzogen, um anderswo Beute zu suchen.

Und dann bemerkte Rowarn den Riss im Tuch, und ausgerechnet in Noïruns Nähe. Das stumpfe Maul einer Chalumi bohrte sich bereits hindurch.

Es blieb keine Zeit mehr für eine Warnung; das würde die Reptilien womöglich erst recht aufmerksam machen. Rücksichtslos drängte Rowarn sich durch die Menge und ging dabei bewusst das Risiko ein, dass dadurch anderswo Lücken und Risse entstanden, aber der Anführer ging vor. Noïrun machte ein verdutztes Gesicht, als Rowarn mit eiligen Schritten direkt auf ihn zusteuerte, ihn scheinbar überrennen wollte. Kurz vor dem Zusammenstoß sprang Rowarn hoch und packte zielsicher mit der Hand zu, genau in dem Moment, als der Federschlange der Durchbruch gelang. Der junge Ritter blickte in wilde rubinrote Augen mit schwarz geschlitzten Pupillen, einen aufgerissenen, zähnestarrenden Rachen und eine lange, gespaltene Zunge, die sich ihm zischend entgegenringelte. Doch da fanden seine Finger den richtigen Halt hinter dem aufgeblähten Kragen und schlossen sich fest um den Reptilienhals. Buntschillernde Federn flogen durch die Luft, als Rowarn die Schlange ins Innere zog. 

Die Chalumi zischte und fauchte und wand sich mit unglaublicher Kraft in seiner Hand. So sehr, dass er den Griff für einen Moment lockern musste, und das genügte dem Reptil. Zischend schlug es die Giftzähne in seinen Handrücken. Rowarn durchzuckte ein kurzer, heftiger Schmerz, und Wut ergriff ihn. Er riss mit der freien Hand die Zähne aus seiner Haut und schleuderte die Chalumi zu Boden. Dann zerschmetterte er blitzschnell mit dem Stiefelabsatz den Schlangenschädel, bevor die Chalumi wieder hochschnellen konnte.

Alles war so schnell gegangen, dass die anderen immer noch im Moment des Schreckens gefangen waren. Rowarn öffnete den Mund, doch dann spürte er eine Erschütterung in seinen Ohren, ein so hohes, grausames Pfeifen, dass er die Hände hochriss und schreiend in die Knie brach.

Im selben Moment endete der Angriff der Chalumi, das Prasseln und Trommeln, und sie verschwanden. Es wurde ruhig.



Rowarn war froh, als das entsetzliche Pfeifen endlich aufhörte und der Schmerz in seinen Ohren verklang. Aber ihm war schwindlig, und er sah nur noch verschwommen. Er bekam kaum mit, wie Noïrun neben ihm niederkniete, seinen Mund auf die verwundete, blutende Hand presste und heftig zu saugen begann. Dann spuckte er aus, saugte wieder, das tat er dreimal, bis kein Blut mehr kam.

»Es ... es geht schon ...«, murmelte Rowarn benommen.

Er hörte die Stimme des Fürsten wie aus weiter Ferne, seine Augen nahmen nur noch verzerrte Abbilder wahr. »Olrig, lass sofort wieder anspannen, und dann geht es weiter, und zwar in Höchstgeschwindigkeit!«

»Und wohin?«

»Ihr müsst die Freie Straße erreichen, dort seid ihr sicher. Wenn ihr euch beeilt, könnt ihr es noch heute Nacht schaffen! Lauft ohne Pause, auch in der Dunkelheit, bis ihr dort seid!«

»Aber ... das schafft Rowarn nicht!«, wandte der Zwerg ein.

»Natürlich schafft er es nicht«, versetzte Noïrun. »Aber wir haben Glück im Unglück. In der Nähe kenne ich jemanden, der uns helfen kann.«

»Du ... du willst dich von uns trennen?«

»Olrig, denk nach! Rowarn hat nicht wegen des Bisses geschrien, sondern wegen eines furchtbaren Geräusches, das ich ganz entfernt auch wahrnehmen konnte. Und gleich darauf sind die Chalumi verschwunden! Das bedeutet, es sind abgerichtete Schlangen, und sie werden wiederkommen. Nimm den Kupferhengst und Windstürmer, damit der Feind glaubt, wir wären noch bei euch. Ich brauche nur ein Pferd, denn Rowarn kann sowieso nicht mehr allein reiten. Ich bringe ihn so schnell es geht zu heilenden Händen.«

Rowarn hätte gern etwas dazu gesagt, aber seine Zunge war angeschwollen und drückte schwer gegen den Gaumen. Er nahm einen Duft nach Tannen und Honig neben sich wahr und erkannte daran Morwen.

»Vater ...«, sagte sie besorgt. »Ich kann das tun.«

»Nein, Tochter«, lehnte er ab. »Das kann ich besser, glaube mir. Gleichzeitig bin ich vorerst in Sicherheit – und das wolltet ihr doch, nicht wahr? Keine langen Reden mehr, sonst ist es für Rowarn zu spät. Die nächsten Stunden sind entscheidend, und zwar für uns alle.«

»Du hast recht«, erklang Olrigs Bass. »Wo treffen wir uns?«

»Am Freien Haus.«

»Verstehe. Die anderen direkt weiter nach Ardig Hall, ja?«

»Genau, alter Freund. Passt auf euch auf.«

Rowarn merkte, wie jemand ihn hochhob, und dann saß er auf einem Pferd. Hinter ihm schwang sich Noïrun hinauf und hielt ihn fest wie ein Kind. Rowarn war völlig schlaff, seine Muskeln gehorchten ihm nicht mehr, er konnte kaum noch die Lider offen halten, und sein Kopf pendelte hin und her. Ein wenig wunderte er sich, wie früh es heute dunkel wurde, aber das interessierte ihn nicht mehr sonderlich.

»Es wird alles gut«, hörte er Noïruns Stimme dicht an seinem Ohr. »Wir schaffen es rechtzeitig, ich verspreche es dir.«

Und dann galoppierten sie los.



Etwa zwei Stunden später erreichte Noïrun auf einem schäumenden Pferd einen See mit einer Wassermühle und einem Wohnhaus ein paar Speerlängen weiter, auf das er zuhielt.

»Heda!«, rief er schon von weitem. »Ich brauche dringend Hilfe!«

Die Tür wurde aufgerissen. Eine kleine, anmutige Frau, deren schwarze Haare von einem hauchfeinen Netz feiner Süßwasserperlen bedeckt waren, stieß mit weicher Stimme hervor: »Noïrun!«

»Wir brauchen deine Heilkunst, Isa«, sagte der Fürst eilig. »Chalumi-Gift, in dem Jungen hier.« Er schaffte es irgendwie, sich und Rowarn von dem Pferd herunterzubekommen, ohne sich den Hals zu brechen, aber er konnte sich ein schmerzliches Stöhnen nicht verkneifen, als er dabei den verstauchten Fuß zu stark belastete.

»Und was fehlt dir?«, fragte die Frau.

»Ein neuer Fuß«, brummte er. »Wenn du Rowarn versorgt hast, kannst du gern bei mir weitermachen.«

Gemeinsam schafften sie Rowarn, der inzwischen von Schüttelfrost gequält wurde, ins Haus. Isa bereitete ein Felllager neben dem Kamin, auf das sie den jungen Ritter legten, der sich zähneklappernd hin- und herwarf.

»Das sieht böse aus«, stellte Isa fest, als sie seine Hand untersuchte. Obwohl Rowarn halb bewusstlos war, schrie er bei jeder Berührung auf. »Wie lange ist es her?«

»Zwei, höchstens drei Stunden«, antwortete Noïrun. »Kannst du die Hand retten?«

»Will froh sein, wenn ich ihn retten kann.« Sie legte Rowarn einen ersten, schmerzlindernden und giftziehenden Verband um; dann suchte sie mit geübten Handgriffen Kräuter, Salben und Öle zusammen und setzte heißes Wasser auf.

»Ich habe das Gift gleich ausgesaugt«, erklärte Noïrun.

»Ja, sonst wäre er schon tot. Die Chalumi sind verdammte Giftspritzer, eine Plage in diesem Gebiet. Alle zehn Tage muss ich mindestens einen Biss behandeln.« Sie legte eine Hand auf die glühende Stirn des Verwundeten.

»Er wird es schaffen«, stellte Noïrun entschieden fest. »Dieser Junge hält mehr aus als wir alle zusammen.«

»Ich bin fast geneigt, dir zu glauben. Sieh mal, der Schüttelfrost lässt schon nach. Erstaunlich. Also gut, machen wir weiter. Erzähl mir zwischendurch, wie kommst du in diese Gegend?«

»Bin unterwegs nach Ardig Hall.«

»Ja, das hörte ich. Und ebenso, dass halb Valia hinter dir her ist. Die einen behaupten, sie hätten dich gefangen, die anderen, dich getötet, und die dritten haben eines von beidem noch vor. Früher warst du nicht so unvorsichtig.«

»Früher trieb mich die Verzweiflung nicht so an.«

Sie hielt für einen Moment inne. »So schlimm?«

Er nickte. »Eine Verstärkung Dubhani ist unterwegs, und Femris hat einen neuen Heermeister. Er wird durchbrechen, Isa, und das schon bald.«

Sie beugte sich über Rowarn und schüttelte ihn leicht. »Komm zu dir, junger Mann, sonst hast du gar nichts von dem Schmerz, den ich dir gleich bereiten werde.«

Rowarn lallte etwas, aber immerhin schaffte er es, sie einigermaßen mit den Augen zu fixieren.

Sie zeigte ihm ein Messer, das sie gerade aus dem Feuer gezogen hatte. »Damit verunstalte ich jetzt deine Hand, aber das wird jede Entzündung ausbrennen, und jedes böse Ding, das sich noch daran klammern mag. Wegen des Giftes in deinem Körper kann ich dich nicht betäuben. Es ist wichtig, dass du das bei vollem Bewusstsein miterlebst und wach bleibst, hast du verstanden?«

»Ja ...«, brachte er mühsam hervor.

Isa nickte Noïrun zu. »Halt ihn fest.«

Sie setzten Rowarn auf, fesselten den linken Arm an seinen Körper, und Noïrun lehnte ihn an sich, griff unter seinen Achseln hindurch und schloss beide Hände um das Gelenk der verwundeten Hand.

»Fertig?«

»Ja. Mach schnell.«

Kurz darauf brüllte Rowarn sich die Seele aus dem Leib. Sein Körper bäumte sich auf, aber Noïrun war ein starker Mann, sein Griff unnachgiebig. Es dauerte nur wenige Herzschläge, dann warf Isa das Messer beiseite und drückte sofort eine schon vorbereitete Paste auf die geschundene Hand, dazu einige Kräuter und Blätter. Schließlich umwickelte sie alles mit einem festen Verband. Rowarns Brust hob und senkte sich hektisch, er war schweißgebadet, aber es war zu erkennen, dass der Schmerz bereits nachließ. Zuletzt flößte Isa ihm ein fürchterlich stinkendes, grünes Gebräu ein, dann durfte Noïrun ihn loslassen, und sie bettete Rowarn liebevoll auf die Felle und deckte ihn zu. »In einer Stunde bist du wieder munter, Schätzchen«, versprach sie und streichelte seine Wange. »Augen zu und ... weg.«

Sie nickte zufrieden, als Rowarns Kopf zur Seite kippte. Bald darauf atmete er ganz ruhig. »Derweil kümmere ich mich um deinen Fuß, du ungeschickter Tölpel«, bemerkte sie zu Noïrun und deutete auf die deutlich sichtbare Schwellung an seinem Bein.

»Wen nennst du hier Tölpel?«, brummte er.



Eine Stunde später kam Rowarn mit einem heftigen Ruck wieder zu sich und erkannte Noïrun, der mit frisch verbundenem Fuß bei ihm saß und ihn beobachtete.

»Was ist passiert?«, fragte er verdutzt. Seine Augen waren klar und fieberfrei.

»Wie fühlst du dich?«, erkundigte sich der Fürst lächelnd.

»Schon viel besser ... au!« Er grinste schmerzlich. »Bis auf die Hand ...«

»Die wird wieder«, versicherte Noïrun. »Vielleicht bleibt eine kleine Narbe, von den Löchern, die dir die Dolchzähne geschlagen haben. Aber Isa versteht sich auf ihr Handwerk.«

»Isa?« Verdutzt richtete sich Rowarn auf. »Wo sind wir hier überhaupt?«

»Bei einer Wassermühle, an einem lieblichen See gelegen, wo Bäume milden Schatten spenden und Fische im Mondschein tanzen«, antwortete der Fürst seltsam launig. »Hier wird der beste Kräuterlikör gebraut, den du dir vorstellen kannst, denn Isa ist nicht nur ein höchst talentiertes Kräuterweib, sie versteht sich auch auf gute Rezepte und noch mehr auf ein gutes Geschäft.«

»Schmeichler!«, erklang eine weiche Stimme aus dem Hintergrund, und Rowarn erkannte die kleine, in bunte Gewänder gekleidete Frau mit den schwarzen Haaren und den Perlen wieder. Sie beugte sich über ihn und musterte ihn aus dunklen Augen. »Na, mein kleiner Schatz? Geht’s wieder?«

»Ja ... kaum zu glauben ...«

»Keine Hexerei, sondern schlichte Heilkunde«, lächelte sie. »Ist das Gift erst mal draußen, kommt man schnell wieder zu Kräften. Morgen wirst du nichts mehr spüren, außer der Brandwunde an deiner Hand, die aber mit meinen Salben schnell verheilen sollte.« Sie ordnete mit den Fingern sein helles, inzwischen mehr als schulterlanges Haar. »Hübscher Bursche, übrigens. Deiner?«, wollte sie von Noïrun wissen.

»Nein«, antwortete der Fürst.

»Sicher?«

»Ja. Diesmal: ja.«

Sie lachte. 

Bald darauf bekam Rowarn ein weiteres bitteres Getränk verabreicht, das ihm wie Feuer die Kehle hinunterrann. Er hustete und keuchte und glaubte zu ersticken. »Na, ich danke«, stieß er krächzend hervor. »Wenn das der vielgerühmte Likör ist ...«

Isa lachte herzlich. »Den gebe ich euch mit für unterwegs, Süßer, jetzt brauchst du erst mal was Kräftigeres.« Sie schob ihm ein Blatt in den Mund, das er bis zum nächsten Morgen unter die Zunge legen musste. »Alles, was du jetzt noch benötigst, ist Ruhe.« Ihre Augen glitzerten plötzlich, während sie das sagte, und vor allem das letzte Wort betonte. 

Rowarn empfand zuerst Verwunderung und dann Verlegenheit, als er den Ausdruck in den Augen des Fürsten bemerkte. Sie waren ganz dunkel geworden, und ein weiches, warmes Licht leuchtete in ihnen. Die Art, wie er Isa anblickte, ließ keinen Zweifel offen, was er vorhatte, und zeigte vor allem, dass die beiden bereits ziemlich vertraut miteinander waren. Zum zweiten Mal seit Ennishgar zeigte sich, dass Noïrun keineswegs vergessen hatte, was es bedeutete, ein Mann zu sein. Und mit gelöster, entspannter Miene wirkte er plötzlich sehr viel jünger. Wie ein Mensch ohne Verpflichtung, ohne ständigen Kampf, ohne bedeutungsvolle Aufgabe. Für einen Augenblick lastete das Schicksal der Welt nicht mehr auf seinen breiten Schultern.

Also schöpfte selbst Noïrun ab und zu neue Kräfte und legte für ein paar Augenblicke alle Strenge und Verantwortung ab. Ein tröstlicher Gedanke, wie Rowarn schließlich feststellte, als er seine schockierte Verlegenheit überwunden hatte. Seine Zuneigung zu dem Fürsten vertiefte sich in diesem Moment noch mehr. 

Rowarn suchte eine Möglichkeit, sich zurückzuziehen, damit der Fürst auch Gelegenheit bekam, einmal nur Mensch zu sein. »Ich bin sehr müde«, murmelte er. »Ich sollte mich schlafen legen.« Draußen war es inzwischen dunkel geworden, es war also durchaus angemessen.

»Ja«, sagte Noïrun mit abwesender Stimme, ohne den Blick von Isa zu lösen.

»Willst du nichts essen?«, fragte Isa höflich, aber Rowarn sah ihr an, dass sie es kaum erwarten konnte, ihn los zu sein. Er fühlte ein Lachen in sich aufsteigen, gleichzeitig wurde ihm im Gesicht heiß, weil die beiden so offenkundig zeigten, was sie wollten. Damit wurde er noch nicht so schnell fertig.

»Das verschiebe ich auf morgen«, sagte er. »Ich danke sehr für die Fürsorge, aber ich kann die Augen nicht mehr offen halten.« Das stimmte sogar. Er fühlte sich innerlich immer schwerer, wie betäubt, und er hatte auch tatsächlich keinen Hunger.

Isa wirkte erleichtert. »Komm, ich zeige dir deinen Schlafplatz, wo du völlig ungestört bist. Vor allem wird die Luft darin dir zusätzliche Kräfte verleihen und die Heilung beschleunigen.« 

Noïrun half ihm auf, Rowarn konnte auf eigenen Füßen stehen und fühlte nur ein heftiges Ziehen in der Hand. Das Gehen tat ihm sogar gut, richtete die Welt wieder gerade und beendete das Schwanken in seinem Inneren. Isa öffnete eine schmale Tür neben der Feuerstelle, und Rowarn stolperte in eine nach Kräutern würzig duftende Kammer mit einem kleinen Fenster, in der neben einigen Fässern und Gefäßen voller getrockneter Blüten und Blätter ein gemütlich aussehendes Felllager errichtet war. Er seufzte, als er sich umgehend darauf niederließ und sich wohlig ausstreckte, bevor er sich wieder aufrichtete und Krug und Schale zum Waschen in Empfang nahm.

»Erhol dich gut, Liebes«, sagte die Kräuterfrau lächelnd. Während die Tür hinter ihr langsam ins Schloss fiel, sah er gerade noch, wie Noïrun Isa ungeduldig in seine Arme zog und sich über sie beugte.



Im frühen Morgengrauen wurde Rowarn unsanft geweckt, als Isa in seine Kammer stürmte und ihm die Decke wegzog. »Auf, junger Mann! Ich habe dir ein Bad gerichtet, und anschließend werdet ihr essen und verschwinden, es ist höchste Zeit!«

Noch im Halbschlaf versuchte Rowarn die Felldecke festzuhalten, was der Heilerin ein heiteres Lachen entlockte. »Ich bin Kräuterfrau, die nicht nur Magenkranke behandelt, und ich habe gewiss schon alles gesehen! Wenngleich nicht unbedingt oft derart Hübsches, das sich weder verstecken muss noch sollte«, schnurrte sie und drehte sich kokett um, als sie sah, wie verlegen er war. Sie verließ den Raum, aber die Tür blieb offen. »Noïrun, dein junger Schützling ist reichlich schüchtern den reifen Damen gegenüber!«, hörte er ihre Stimme hereinschallen. »Bestimmt verhält es sich mit jungen Mädchen ganz anders. Trotzdem glaube ich dir endlich, dass er nicht der Spross deiner tatkräftigen Lenden ist.«

Rowarn hörte sie danach unterdrückt kichern, und er machte, dass er durch den Hauptraum nach nebenan in den Ausbau kam, der als Bad und Lager zugleich diente. Er schaute weder links noch rechts, damit er nicht vielleicht noch Augenzeuge unerhörter Dinge wurde. Allerdings hörte Rowarn ein leises Gurren aus einem anderen Zimmer, das neben seinem lag, und er konnte nicht umhin, sich vorzustellen, auf welche Weise Noïrun Isa diese Laute entlockte. Es schien ihr äußerstes Wohlgefallen zu bereiten, also vielleicht hätte er auch dabei noch etwas von seinem Lehrmeister lernen können ...

Er streckte sich wohlig im heißen Wasser des großen Holzzubers und schloss die Augen. Der Schmerz in seiner verbundenen Hand pochte, klopfte und hämmerte, aber er biss die Zähne zusammen und schwieg.

Nach einer Weile kam Noïrun herein, mit frisch gepflegtem Bart und Haaren, wünschte Rowarn einen guten Morgen und erkundigte sich nach seinem Befinden. Er wirkte ausgeglichen und erholt, hinkte kaum mehr und setzte sich lässig auf eines der vielen umstehenden Fässer voller Kräuterlikör.

»Wie lange kennt Ihr sie?«, fragte Rowarn, der seine Neugier nicht mehr länger im Zaum halten konnte.

Der Fürst grinste beinahe jungenhaft. Seine Augen leuchteten wie ein in Sonne getauchtes Birkenblatt, das sich im lauen Wind wiegte. »Eine Weile«, meinte er vergnügt.

Rowarn musste ebenfalls grinsen. »Ihr scheint herumgekommen zu sein.«

»Man tut, was man kann. Und es ist wichtig, überall Freunde zu haben, vor allem solche, die sich auf Gift spezialisiert haben.« Noïrun zwinkerte. »Glaube nicht, dass das Leben eines Fürstensohnes leicht ist, bei all den Neidern und Thronräubern ringsum. Mein Vater hat mich nicht umsonst zur Ausbildung in die Fremde geschickt.«

»Lebt er noch?«, wollte Rowarn wissen.

Der Fürst nuschelte etwas Unverständliches und schien erleichtert, als Isa hinzukam, mit Schwamm und Duftölen. »Eine Rasur ist wohl kaum vonnöten«, meinte sie schmunzelnd und wies auf Rowarns glattes Kinn.

Er schüttelte den Kopf. Nur zu gut erinnerte er sich an die Zeit, als bei den gleichaltrigen Burschen in Madin der erste Bartflaum gesprossen war und sein eigenes Kinn völlig glatt und haarlos blieb. Jahrelang hatte er darunter gelitten, und die anderen hatten natürlich keine Gelegenheit ausgelassen, ihn deswegen zu schmähen. 

»Mir wächst kein Bart«, sagte er. Er vermutete nunmehr, dass dies ein Erbe seiner Mutter war, und tröstete sich inzwischen mit diesem Gedanken, wenn sich heute noch Rayem oder ein anderer in der Schar über ihn amüsierten. Wenigstens war der Spott inzwischen gutmütig und nicht mehr boshaft wie einst. 

Bevor Isa weitermachen konnte, streckte er nachdrücklich die gesunde Hand aus. »Bei allem Respekt, werte Dame, aber ich werde mich selber waschen. Das schaffe ich auch mit einer Hand.«

Isa lachte heiter. »Wie der junge Herr wünscht.« Sie stellte die Sachen neben dem Fass ab. »Doch dann musst du auch auf die muskelstärkende Massage verzichten, die ...«

Noïrun umschlang sie von hinten und zog sie an sich. »Genug der Scherze, Weib, wir überlassen den jungen Ritter jetzt sich selbst und bereiten derweil alles für den Aufbruch vor, einschließlich eines stärkenden Morgenmahls.«

»Wie lange brauchen wir noch nach Ardig Hall?«, fragte Rowarn.

»Nicht mehr lange. Eine Rast noch unterwegs, dann sind wir schon da.« Noïrun erhob sich von dem Fass und zog Isa mit sich hinaus.



Hand und Fuß frisch verbunden, erholt und mit einem Schlauch Kräuterlikör und mit Ersatzsalben und Kräutern versorgt, stiegen sie zu zweit auf das brave Pferd. Isa winkte ihnen nach, als sie losritten. Rowarn saß diesmal hinter dem Fürsten, und so seltsam es auch sein mochte, er war glücklich. Glücklich, am Leben zu sein, nicht zu spät gehandelt zu haben und für einen kurzen Moment auch einmal die menschliche Seite seines Herrn erlebt haben zu dürfen. Den Vorzug, mit Noïrun allein unterwegs zu sein, hatte sonst nur Olrig. Rowarn war überzeugt, dass sie nun allen weiteren Gefahren würden ausweichen können, falls es überhaupt noch Hindernisse gab auf dem kurzen Weg nach Ardig Hall. Eine Rast noch, hatte der Fürst gesagt, womöglich waren sie also heute Abend schon da!

Unterwegs sagte Noïrun plötzlich: »Das bleibt unter uns, nicht wahr?«

»Selbstverständlich, Herr«, versicherte Rowarn, fast mit empörtem Unterton.

Der Fürst hielt das Pferd an, und Rowarn erstarrte verdutzt. Hatte er etwas Falsches gesagt? »Da ist noch eine Sache«, fuhr Noïrun fort, halb zu ihm gedreht. »Keine Förmlichkeiten mehr, kein ›Ja, Herr‹ oder ›Nein, Herr‹, es sei denn, es geht um die Bestätigung eines Befehls. Haben wir uns verstanden?«

»Äh ... nein, ehrlich gesagt ...«, stammelte Rowarn verwirrt.

»Rede mich an wie Olrig. Wir sind beide Ritter. Abgesehen von der Befehlsgewalt bin ich dein Kampfgefährte. Und ... Freund. So oft, wie du mir schon das Leben gerettet hast, und so lange, wie wir zusammen reisen, und auch noch zu zweit auf einem Pferd, ist diese Distanz einfach nicht mehr angebracht.«

Rowarn überlief es heiß und kalt, und er wusste vor Freude und Verlegenheit nicht, was er sagen sollte. Er nickte strahlend, und sie setzten den Weg fort.



Der Fürst mied die Wege. Zumeist ritten sie durch helle, sonnendurchflutete Laubwälder, die sich säuselnd im stetigen Wind wiegten. Trockenes Laub raschelte unter den Pferdehufen, und Veilchen, Sternglöckchen und Buschwindröschen bildeten violettweiße, weithin verstreute Blütenteppiche, die betörend dufteten. Vielstimmig erschallten Vogelstimmen, zart und lieblich, die Herzen erfüllend.

»Hier sollte man mit seiner Liebsten wandeln«, bemerkte Noïrun. »Sie sollte tanzen zu Vogelliedern und zum Gesang, den man ihr darbietet, und Worte sollten die einzige Waffe sein, die man noch tragen muss, Poesie und Kunst der Liebe.« Er strich gedankenverloren durch die Mähne des Pferdes. Leise fügte er hinzu: »Wie lange ist es her, dass ich dies zuletzt tat ...«

Zum ersten Mal gab der Fürst Gefühle wieder, die ihn bewegten, und ließ vermuten, dass er nicht immer nur Soldat und Krieger gewesen war. Und zum ersten Mal seit dem Aufbruch durchzuckte Rowarn Heimweh nach Weideling. Sogleich pochte seine Hand wieder stärker, und er presste sie an seine Brust und biss die Zähne zusammen.

»Sehr schlimm?«, fragte Noïrun nach hinten, dem wohl nie etwas entging, nicht einmal, wenn er schwermütig seiner Vergangenheit nachhing, über die er nie sprach.

»Nur Schmerz, der vergehen wird«, antwortete Rowarn gedämpft. »Nichts von Bedeutung.«

Sie waren ganz allein, und abgesehen von Vögeln begegnete ihnen kaum ein Tier. Das Pferd trabte unermüdlich und stetig dahin, und sie kamen gut voran. Schließlich erreichten sie Grasland, so weit das Auge reichte; die schimmernde Straße, die Rowarn gestern von dem Hügel aus gesehen hatte, bevor die Chalumi angegriffen hatten, lag nicht mehr weit entfernt.

Aus der Nähe wirkte sie noch eindrucksvoller. Schwere, über die Grassoden hinausragende Quadersteine waren fugenlos aneinandergereiht und bildeten ein festes, planes Pflaster. Die Steine hatten den Schimmer von mattem Gold; kein Wunder, dass sie weithin sichtbar waren. Von Horizont zu Horizont zog sich die Straße schnurgerade wie ein endloses Band, in der Breite konnte sie mindestens vier große Karren nebeneinander aufnehmen.

»Was ist das?«, fragte Rowarn staunend und ehrfürchtig.

»Eine Freie Straße«, antwortete Noïrun. »Valia war einst Teil der Vier Königreiche, die in der Frühzeit der Welt entstanden und erst nach der Titanenschlacht untergingen. Eine der vier Reichsstraßen, die die Königreiche miteinander verbanden, führt mitten hindurch. Die Besonderheit dieser Straßen besteht darin, dass sie als frei gelten. Das bedeutet, sie sind neutral. Jeder, der sich auf einer Freien Straße befindet, reist in Frieden. Hier gibt es keine Bedrohung, keine Verfolgung, keine Zugehörigkeit zu Regenbogen oder Finsternis.«

»Bedrohung nicht einmal durch Tiere, wie die Chalumi?«

»Nein, erst recht keine Tiere oder Bestien. Sie können die Straße lediglich überqueren oder überfliegen, aber nicht verweilen. Deshalb finden bedeutende und schwierige Friedensverhandlungen nicht selten auf einer Freien Straße statt, weil nicht die Gefahr eines heimtückischen Anschlags oder auch nur Missverständnisses besteht. Jeder achtet darauf, sich daran zu halten, in eigenem Interesse. Selbst der Verschlagenste würde es niemals wagen, die Freie Straße zu besudeln.«

Rowarn begriff. »Deshalb also sollte Olrig sich gestern beeilen, die Freie Straße zu erreichen.«

Noïrun nickte. »Wenn sie es rechtzeitig geschafft haben, konnten sie in Sicherheit reisen, bis fast vor die Tore Ardig Halls, so wie wir beide es jetzt tun werden. Ich sagte ja, es ist nicht mehr weit. Und da wir beide angeschlagen sind, ist diese Straße genau richtig für uns, um jedem Ärger aus dem Weg zu gehen.«

»Allerdings«, lachte Rowarn.

Das Pferd stieg auf die Freie Straße hinauf, und von hier aus wirkte sie sogar noch größer und mächtiger.

»Jetzt geht es flugs dahin«, meinte der Fürst heiter, und das Pferd beschleunigte schon von selbst. 

Die Landschaft sauste an Rowarn vorbei. Er konnte kaum mehr einzelne Konturen ausmachen, alles wirkte verwischt, und er staunte nur so. »Magie, richtig?«, rief er.

»Wie vieles auf Waldsee«, antwortete Noïrun.



Als die Sonne ein gutes Stück in den Westen vorgerückt war und ihren Rücken beschien, wurde das Pferd langsamer. Rowarn erblickte auf der linken Seite ein gewaltiges Gebäude, mit mindestens fünf Stockwerken, was bei der verwinkelten Bauweise allerdings schwer zu erkennen war. Erker, Türmchen, Vorsprünge, Wandelgänge, Balkone und Stützstreben hoben sich davon ab, und es gab viele Ecken und Winkel. Das Dach glänzte wie reiner Schiefer, die Platten waren fein wie Schlangenschuppen angeordnet. 

Das Haus selbst war kunstvolles Fachwerk aus weiß gekalktem Stein und Holz, mit Sprossenfenstern und Butzenscheiben. Um die genaue Größe zu erkennen, hätte man wahrscheinlich einmal ganz herumgehen müssen und es zusätzlich wie ein Vogel überfliegen. Kein Metallschild zeigte ein Bild oder einen Namen an; durch die gewaltige, kunstvoll geschnitzte Eingangstür hätten Rowarns Muhmen und auch Fashirh erhobenen Hauptes schreiten können. 

Rowarn wunderte sich nicht, als der Fürst das Pferd dorthin lenkte. »Hier werden wir rasten und essen«, bestimmte er.

»Ein namenloses Gasthaus mitten im Niemandsland«, meinte Rowarn. »Und nicht einmal eine Wegkreuzung ist da.« Zu sehen war niemand, auch keine Kutschen oder angebundene Pferde, und kein Laut drang aus dem Inneren. Rowarn hoffte, dass das Haus nicht geschlossen war.

»Es ist ein Freies Haus«, erklärte Noïrun prompt. »Hier ist jeder willkommen. Und es gibt eine gute Küche, die man sich keinesfalls entgehen lassen sollte, wenn man schon in der Gegend ist.«

Rowarn rutschte über die Kruppe ab und half Noïrun mit einer Hand aus dem Sattel. Der Fürst konnte sich zwar schon viel besser bewegen, musste aber noch vorsichtig auftreten. Er reichte einem plötzlich von irgendwoher geschäftig herbeieilenden Stallknecht die Zügel.

»Benötigt Ihr das Pferd noch, Herr?«, fragte der Bursche.

»Nein, auch Sattel und Zaumzeug nicht«, antwortete Noïrun zu Rowarns Überraschung.

»Sehr wohl. Geht einfach hinein, Ihr werdet alles erhalten, was Ihr wünscht. Willkommen im Freien Haus.«

»Was tust du da?«, wisperte Rowarn, während Noïrun die große Tür ansteuerte.

»Ich habe ziemlichen Hunger, du auch? Was hältst du von einem Krustenbraten mit Mandel-Pflaumenfüllung, Schwarzbier und Süßgemüse in dunkler Soße, dazu eingelegte scharfsüße Früchte mit hauchdünnem Knusperbrot?«, erhielt Rowarn zur Antwort, und obwohl er nochmals nachhaken wollte, übertönte sein knurrender Magen die Neugier, und der augenblickliche Speichelfluss im Mund schwemmte sie endgültig davon. Er beeilte sich hinterherzukommen.

Rowarn stand gleich mitten in der Gaststube, die sich unter Treppen und Übergängen auf der ganzen Fläche des Erdgeschosses ausbreitete. Am hinteren Ende befand sich der Ausschank vor der angrenzenden Küche, mit gewaltigen Fässern, von der Decke hängenden Würsten und Schinken, getrockneten Kräuterbünden, Zwiebel- und Knoblauchketten; dort herrschte rege Betriebsamkeit.

Das Gasthaus war voll, zumindest hier unten. Die meisten Leute schienen Bauern, Händler und Tagelöhner aus der näheren Umgebung zu sein, wie Rowarn ihrer Kleidung und den Gesprächsfetzen entnahm. 

Die Einrichtung bestand vollständig aus grob bearbeitetem Holz, auch der Boden war mit Brettern ausgelegt. Große Kamine spendeten Licht und Wärme, wobei es für Rowarns Geschmack fast zu warm war. Trotz der vielen Gäste war es nicht laut, die Unterhaltungen wurden eher gedämpft geführt, und niemand schien auf die Idee zu kommen, die eifrig hin- und hereilenden Schankmaiden unschicklich zu behandeln, wie es so oft in anderen Gasthäusern der Fall war.

Ein grauhaariger Mann mit Halbschürze kam auf sie zu und wies einladend weiter nach innen. »Bitte sehr, hier entlang, meine Herren, es ist schon alles gerichtet.«

Noïrun folgte dem Mann ohne weitere Umstände, und Rowarn stapfte mit offenem Mund hinterdrein. Sie wurden über einige Stufen, durch Nebenräume und über weitere Treppen schließlich in eine andere große Gaststube geführt. In einer Turmausbuchtung befanden sich zahlreiche kleine Nischen, wo man zu zweit, höchstens zu viert unter sich saß, ohne unerbetene Mitlauscher.

Das Staunen nahm noch lange kein Ende, als Rowarn auf dem ihnen zugewiesenen Tisch bereits zwei volle Bierkrüge mit perfekter Schaumhaube und eingelegte Früchte samt Knusperbrot vorfand. Noïrun rieb sich begeistert die Hände, seine Augen leuchteten. »Das kann ich jetzt wirklich vertragen«, meinte er vergnügt und stieß an Rowarns Humpen.

Kurz darauf stand auch der Braten auf dem Tisch, und Rowarn entschied sich, zuerst zu essen und dann Fragen zu stellen. Sie ließen sich ausgiebig Zeit, und es war wirklich ein Genuss, der selbst Schneemonds Künste in Weideling übertraf. Nach der Hauptmahlzeit wurden ihnen kleine Schüsseln mit Nüssen und frischen Früchten gereicht, und auch eine Schale Tabak, aus der sich Noïrun gern bediente und sich eine Pfeife anzündete.

Rowarn sah sich um. Hier oben hielten sich nicht nur Menschen auf, sondern auch Zwerge und andere, vielgestaltige Wesen, die er noch nie in seinem Leben gesehen hatte, oder auch nur von ihnen gehört. Und zu seiner Überraschung auch Warinen und Dämonen; Noïrun hatte also recht gehabt mit seiner Behauptung, dass jeder willkommen war. Wenn es jemals eine Erinnerung an jenes träumende Wunderreich vor dem Bruch der EINHEIT gab, so war sie hier zu finden, wo friedlich Freund und Feind nebeneinandersaßen, vielleicht sogar am selben Tisch.

Zahlreiche offene, hölzerne Galerie- und Wendeltreppen führten weiter in die oberen Etagen.

»Das reinste Labyrinth«, bemerkte Rowarn. »Und so viele Türen ... wo mögen die nur alle hinführen ...«

Noïrun zwinkerte. »Nur zu. Sieh dich um«, forderte er ihn auf.

»Müssen wir denn nicht weiter?«

»Wir haben so viel Zeit, wie du brauchst. Geh nur, ich rauche hier gern eine Weile für mich allein und ergehe mich in romantischen Träumereien.«

Rowarn entschied sich, künftig keine Fragen mehr zu stellen, weil jede Antwort nur noch mehr Verwirrung statt Aufklärung brachte. Dann machte er sich tatsächlich auf, um durch das Gasthaus zu schweifen. Niemand schien sich daran zu stören, Schankmaiden und Knechte wichen ihm lächelnd aus oder gaben ihm Hinweise, wo es interessant für ihn werden könnte. Weiter oben, erfuhr er, seien die Gästezimmer. Wenn er sich für eine Stunde hinlegen wolle, nur zu, er brauche sich nur ein freies Bett zu suchen. Es werde ohnehin bald dunkel, sagte man ihm, draußen neige der Tag sich schon dem Ende zu. 

Also würden sie heute sowieso nicht mehr weiterreisen, und Rowarn brauchte sich keine Gedanken zu machen, wenn er noch ein wenig herumtrödelte.

Als er sich gerade nach einer weiteren Treppe umsah, prallte er mit einem Mann in schmutzverkrustetem Reisegewand zusammen und stieß sich dabei die verletzte Hand an einem Balken.

»Ich bitte vielmals um Verzeihung«, brummte der Mann. Seltsam, wie nass sein Umhang war, auch der Hut. »Es ist einfach zu eng hier.« Er tippte kurz an seinen Hut zum Gruß und eilte weiter. 

Rowarn blieb stehen und hielt sich die Hand. Für einen Augenblick konnte er nicht einmal atmen, während der Schmerz durch seinen Körper tobte. Ihm war, als könne er genau hier und jetzt den Schritt der Eliaha hören, die sich langsam, schlurfend, patschend mit nackten Füßen auf Holz näherte. Angst stieg in ihm auf, und er versuchte, innerlich den Blick abzuwenden, damit er ihren grauenvollen Augen nicht begegnete. Am ganzen Körper zitternd rang er um Fassung, während er immer noch reglos verharrte, blind für alles um sich herum.

Da drang eine Stimme durch seinen aufgewühlten, von Schmerzgewittern durchzuckten Verstand, tief und volltönend, wie er noch nie einen ähnlichen Klang vernommen hatte: »Hierher, Junge.«

Er blinzelte, rieb sich mit zitternden Fingern den kalten Schweiß von der Stirn, während er die verwundete Hand an sich presste. Er sah einen Mann in einer Nische sitzen, von der aus der ganze Raum bis nahezu in den letzten Winkel überblickt werden konnte. 

Für einen Moment stand Rowarn wie vom Donner gerührt, und sein Herz hämmerte gegen die Rippen. Der Schmerz verlor augenblicklich die Herrschaft über ihn. Selbst im Sitzen sah der Mann groß aus, mit gewaltigen Schultern, und die Ärmel seines schwarzen Hemdes spannten sich über den Muskeln. Dichtes, schwarzes Haar fiel bis auf seine Brust herab, die Haut war von einem samtigen Olivbraun, und das bärtige Gesicht, das an einer Wange ein Mal ähnlich einer Falkenklaue trug, von auffallender männlicher Schönheit. 

Aber das Außergewöhnlichste waren die Augen, tiefschwarz wie das Universum weit draußen, und sie strahlten in einem schwarzen Licht, das Rowarns Blick einsog wie ein Wasserstrudel einen Ertrinkenden. Er sah die gewaltige Macht und das ungeheure Wissen darin, die alles übertrafen, was er bisher geschaut hatte. Nicht einmal Fashirh, dessen Stofflichkeit nahezu vollständig aus Magie gewebt war, strahlte eine solche Macht aus. Eine fast greifbare Aura umgab den dunklen Mann, die die anderen Gäste scheu, wenn auch unbewusst mieden, denn die Nischen links wie rechts neben ihm waren unbesetzt, obwohl einige mit einem Bierkrug in der Hand herumstanden und auf einen frei werdenden Platz warteten.

Zögernd kam Rowarn näher; in der Stimme des Mannes lag etwas, das keinen Widerspruch zuließ, aber auch Vertrauen einflößte. Und nicht zu vergessen: Er befand sich in einem Freien Haus ...

Er hatte kaum Platz genommen, als eine Schankmaid ihm schon einen Krug Schwarzbier brachte und den leeren Weinpokal des Mannes gegen einen vollen tauschte. Dazu stellte sie eine Schale Tabak vor ihn.

»Ich kann das ni...«, setzte Rowarn wegen des Bieres an, aber das Mädchen winkte ab und rannte weiter.

»Das Pferd deines Herrn«, setzte der Mann zu einer Erklärung an, mit jener unglaublich tiefen Stimme, die noch in Rowarns Innerstem melodisch nachklang: »Damit ist alles bezahlt. Du kannst zu dir nehmen, was du willst.« Er streckte seinen Arm aus. »Gib mir deine Hand.«

Rowarn gehorchte widerspruchslos und machte sich auf neuerlichen, furchtbaren Schmerz gefasst, der den gerade erst abklingenden noch übertreffen würde. Ängstlich sah er zu, wie der Mann behutsam den Verband öffnete, und starrte dann voller Schrecken auf seinen übel zugerichteten, schwarz verbrannten Handrücken.

»Sehr gute Arbeit«, stellte der dunkle Mann jedoch fest. »Es sieht schlimmer aus, als es ist. Das wird wieder wie neu. Aber es muss entsetzlich schmerzen.«

»Ja«, krächzte Rowarn.

»Dagegen kann ich etwas tun. Halt für einen Moment still.« Er legte die Hand über die Wunde, nur ganz sacht, und schloss kurz die Augen.

Staunend merkte Rowarn, wie etwas von dem Mann auf ihn überfloss, ein warmer, kribbelnder Strom, und dann wich der Schmerz und war schließlich ganz verschwunden.

»Sobald sich die Haut erneuert hat, ist alles wieder in Ordnung. Sie heilt jetzt gut und schnell. Du wirst bald wieder eine Waffe halten können, aber du solltest einen schützenden Handschuh tragen, solange die Haut heilt.« Der Mann schloss den Verband wieder, ließ Rowarns Hand los und widmete sich dem Stopfen seiner Pfeife.

Ehrfürchtig blickte Rowarn ihn an. Er erinnerte sich an die Unterhaltung mit Fashirh nach der Schlacht gegen die Warinen, und an den Klang in der Stimme des Roten Dämons, als er über einen Mann von ganz besonderer Art berichtet hatte. »Ihr ... seid der Annatai ... nicht wahr?«, flüsterte er.

So etwas wie Anerkennung blitzte in den Augen des Mannes auf. »Du weißt sehr viel für dein Alter. Aber das ist auch kein Wunder.« Er nickte bestätigend. »Ich bin Halrid Falkon von Erytrien.«

»Ich bin Rowarn aus Inniu«, stellte der junge Ritter sich vor. »... Weideling«, verbesserte er sich.

Der Zauberer hob die schwarzen Brauen. »Die Velerii haben dich aufgezogen?«

»Ja, Herr.«

»Nun, so ist es noch weniger verwunderlich.« Er zündete die Pfeife an. »Und wonach ist Rowarn von Weideling auf der Suche?«

Rowarn errötete. »Ich ... ich weiß noch nicht genau ...«, stammelte er. »Ich folge meinem Herrn nach Ardig Hall, um gegen Femris zu kämpfen. Wegen des ... Tabernakels.«

»Ja. Eine große und ehrenvolle Aufgabe.« Versonnen blickte der Annatai in die Ferne. »Ich dagegen war nur auf der Suche nach dem Glück ...« Ein seltsames Lächeln umspielte seine Lippen. Dann setzte er zu einer Erzählung an.



Man sagt, in den Außenlanden gäbe es einen sehr hohen Berg, auf dem ein Baum seit dem Beginn des Lebens steht. Hundert Männer können ihn nicht umfassen, und sein Wipfel ist die Heimat vieler Sterne. In früheren Zeiten, so heißt es, stiegen Mächtige dort hinauf, um ihre Geheimnisse darin zu verbergen, wenn sie vergessen wollten. Sie schnitzten ein Loch in die Rinde, sprachen ihr Geheimnis hinein und verschlossen die Lücke dann wieder. Danach gingen sie ohne Macht und Erinnerung und in Frieden von dannen.



Rowarn hörte still zu. Als Halrid Falkon eine Pause machte und mehrmals an seiner Pfeife sog, verharrte er reglos, denn er wollte die Magie dieses Augenblicks nicht durch kindliche Fragen zerstören. Der Tabak knisterte und glühte auf, spiegelte sich in den schwarzen Augen des Zauberers.

Schließlich fuhr der dunkle Mann fort.

»Einer aber stieg einst hinauf, um all die Geheimnisse aus dem Baum zu lösen, weil er glaubte, er würde dadurch der Mächtigste im Universum werden, mächtiger als Regenbogen und Finsternis zusammen. Seine Absichten waren ursprünglich gut, denn er wollte dadurch den Ewigen Krieg beenden und dauerhaften Frieden bringen.«

Nach einer Weile, als Rowarn merkte, dass die Geschichte beendet war, fragte er: »Was wurde aus ihm?«

»Wer weiß?« Halrid Falkon lächelte. »Man hörte nie mehr von ihm. Und falls jemand sein Schicksal kennt, so hat er dieses Geheimnis vielleicht im Baum verborgen.«

Rowarn fühlte ein kaltes Kribbeln den Rücken entlanglaufen, wie frisch geschlüpfte Spinnen, die ihr Nest gerade verließen. Was konnte aus jemandem werden, der alle Geheimnisse aufdeckte? Oder hatte er es am Ende doch nicht gewagt? »Dann gibt es den Berg und den Baum noch immer?«

»So sagt man, junger Rowarn. Genauso wie den Ewigen Krieg.« Der Zauberer leerte seinen Becher in einem Zug.

»Gibt es dann überhaupt je Hoffnung, dass er beendet werden könnte?«, flüsterte der junge Nauraka.

»Es gibt immer eine Hoffnung, Rowarn von Weideling. Es gab selbst dann noch eine, als die Schlafende Schlange das erste Mal erwachte.«

»Sie ... erwachte schon einmal?«

Halrid Falkon nickte. »Allerdings. Als aus der EINHEIT das GETEILTE wurde und das Gefüge aus dem Gleichgewicht geriet. Der Untergang konnte damals abgewendet werden. Wenn man einer sehr alten Legende glauben will, wird die Schlange erneut erwachen, aber der Untergang könnte ein weiteres Mal abgewendet werden. Und wenn man all die Artefakte betrachtet, die man überall seit einigen Jahrtausenden findet, wird es wohl so sein. Alles bereitet sich darauf vor.«

Rowarn rieb sich das Kinn und fasste sich ein Herz. »Vielleicht ... kann ich Euch überreden, mit uns nach Ardig Hall zu reiten?«, fragte er mutig, denn es war ziemlich überheblich, so etwas zu glauben. »Selbst Dämonen haben sich uns inzwischen angeschlossen, um Femris aufzuhalten. Es geht um das Schicksal von ganz Waldsee, so viel habe ich inzwischen begriffen.«

Er zuckte zusammen, als Halrid Falkon plötzlich seinen Arm packte und Rowarn zwang, den Blick mit ihm zu kreuzen. Seine Augen flammten wie schwarze Sonnen, als er seine Macht unverhüllt hervorbrechen ließ, und Rowarn konnte sich ihnen nicht entziehen. Hilflos ertrank er in den Untiefen dieses Blicks, getaucht in das schwarze Licht. Er wusste in diesem Moment, dass der Annatai ihn völlig durchschaute, nicht nur auf den Grund seiner Seele blickte, sondern viel, viel weiter. Er sah alles, seine Herkunft, sein Erbe und seine Bestimmung. Er sah sehr viel mehr, als Rowarn bisher selbst über sich wusste – und wahrscheinlich je erfahren würde.

»Du brauchst meine Hilfe nicht, Junge«, sagte er mit einem Nachhall in der Stimme, der ihn noch fremder und größer erscheinen ließ. Die Umgebung um sie herum schien zu einem bedeutungslosen kleinen Nichts zu schrumpfen, wie das ersterbende Licht einer heruntergebrannten Kerze. »Dies ist deine Aufgabe, nicht meine, und du wirst sie erfüllen.«

Rowarn gab immer noch nicht auf, obwohl ihm der Schweiß ausgebrochen war. Er erkannte, wie ernst es Halrid Falkon war, und wie viel der Zauberer in ihm sehen musste, aber nicht offenbaren wollte. »Und ... was ist mit dem Nichtigen?«, flüsterte er. Das war der letzte Rettungsanker, der ihm einfiel, und er war froh, dass Fashirh ihm bereitwillig so viel gesagt hatte. »Er ist von Eurem Volk und dient der Finsternis ...«

»Ich hörte von ihm.« Endlich entließ der Annatai Rowarn aus seinem Blick und zog seine Hand zurück. Normalität kehrte wieder ein, alles war an seinem Platz, und das gedämpfte Gemurmel schwang beruhigend im Hintergrund.

»Ist er wirklich so mächtig?«

»Noch viel mächtiger.«

Rowarn spürte, wie ihm die Brust eng wurde. Er begriff, dass eine Entscheidung vor ihm lag. Die Geschichte, in die er geraten war, war weitaus größer, als er bisher wahrhaben wollte. Und er konnte sich nicht abwenden, denn das Blut der Nauraka floss in ihm. Er war der Letzte jener Sippe, die einst das Unglück heraufbeschworen hatte. Es gab immer noch eine Schuld abzutragen, und es lag nunmehr an ihm, bis zum Ende zu gehen, auch wenn es so nie geplant gewesen sein mochte. Aber letztendlich hatte er keine Wahl, dafür war es zu spät, seit er den Weg gewählt hatte. »Kennt ... Ihr das Geheimnis des Tabernakels?«

»Nein. Ich kann nur Vermutungen anstellen, wie jeder andere. Erenatar hat das Geheimnis gut verborgen.« Der Zauberer blies Rauchwölkchen in die Luft zwischen ihnen. »Vielleicht ist es genau der Zweck des Tabernakels, zu verhindern, dass der Nichtige sein finsteres Auge auf diese Welt richtet. Es braucht schon ein gewaltiges Machtmittel, um ihn am Betreten zu hindern. In Femris' Händen würde es folglich das Gegenteil bedeuten, und dann wäre Waldsee tatsächlich dem Untergang geweiht. Nicht auszudenken, was für eine Erschütterung im Gleichgewicht das hervorrufen würde ... ein Beben, das an der Schlafenden Schlange rüttelt, darauf möchte ich wetten.«

»Ihr wärt umso mehr ein bedeutender und mächtiger Verbündeter«, murmelte Rowarn.

Halrid Falkon lächelte und entblößte dabei perfekte weiße Zähne. »Ardig Hall hat viele mächtige Verbündete. Mehr, als du ahnst«, sagte er freundlich, doch unterschwellig war seine Ablehnung deutlich herauszuhören. »Und ich leiste meinen Beitrag ohnehin, indem ich euch meinen Vater vom Hals halte. Das kostet Kraft genug. Den Rest muss ich dafür aufwenden, um meine Insel aus der Ferne zu schützen.« 

Rowarn schwieg. Er sah ein, dass der Zauberer seine Meinung nicht ändern würde. Nach einer Weile setzte er scheu an: »Eine ... Frage habe ich noch, wenn Ihr erlaubt. Es ist unbedeutend, denn es betrifft nur mich selbst, aber es ... beschäftigt mich.«

Der Zauberer wandte ihm das Haupt zu, und Rowarn las in seinen tiefschwarzen Augen, dass er die Frage bereits kannte. »Sie hat dich gesehen, Junge«, antwortete er. »Sie wird niemals aufhören, dich zu suchen. Das ist leider mit den Totengeistern so. Auch ich kann dir nicht dabei helfen, so gern ich es möchte.«

Niedergeschlagen nickte Rowarn. »Dann wird sie also jede Nacht meinen Schlaf heimsuchen?«

»Nein«, sagte Halrid Falkon sanft. »Du kannst es nicht verhindern, dass sie nach dir sucht. Aber du kannst aufhören, sie zu sehen. In dieser Welt, Rowarn, kann sie dich niemals finden, auch nicht in deinen Träumen. Du müsstest dich von neuem in das einsame Zwischenreich der Eliaha begeben, damit sie deiner habhaft werden könnte. Kehre also den Spieß um und verbanne sie aus deinem Geist, sobald ihr Bild sich formt. Du wirst sehen, dass es geht. Sei geduldig und gib nicht nach. Lass dich nicht von ihr beherrschen. Eines Tages ist sie dann einfach fort aus deinen Gedanken.« Er klopfte die Pfeife aus und erhob sich. Falkon war wirklich der größte wie ein Mensch aussehende Mann, den Rowarn je gesehen hatte. »Komm mit, Rowarn. Ich möchte dir noch etwas zeigen.«

Er führte den jungen Ritter über eine verwirrende Vielzahl von Gängen, Übergängen und Stufen, bis er in einen schmalen, halbdunklen Korridor trat, an dessen Ende eine Tür lag. Als er sie öffnete, strahlte ein weißgoldenes Licht heraus, das Rowarn blendete, und er hob schützend die Hand vor Augen.

»Geh unbesorgt hinein«, forderte der Zauberer ihn auf.

Rowarn betrat etwas ... nein, keinen Raum, sondern eine riesige Halle, die sich unmöglich im Freien Haus befinden konnte, es sei denn, dies war ein nach hinten gelegener Anbau. Dann stockte ihm der Atem, das Herz rutschte ihm in die Knie, und der Unterkiefer klappte herunter.

In dieser Halle kauerte ein Drache, ein gewaltiges Geschöpf in Weiß und Gold, wie ein Stern mit Zacken und Strahlen und irisierenden Rubinaugen.

»Das ... das ...«, stotterte Rowarn fassungslos. Natürlich gab es viele Geschichten über Drachen, die seine Muhmen ihm erzählt hatten, und einige dieser einzigartigen Geschöpfe lebten auch noch verstreut auf Waldsee, aber sehr zurückgezogen und verborgen. Er wusste ebenso von Fashirh, dass Halrid Falkon mit einem Drachen durch die Lande zog, aber einmal leibhaftig einem so unglaublichen, gewaltigen Wesen gegenüberzustehen, hätte er nie für möglich gehalten.

Der Annatai lächelte.

»Fylang grüßt dich, Junge«, schnarrte der Drache und wackelte mit den zierlichen Hautflügeln. »Ich hoffe, mein grimmiger Freund hat dir keine Schauergeschichten erzählt. Das ist nämlich seine liebste Beschäftigung, wie ein Prophet des Untergangs aufzutreten und andere zu Tode zu erschrecken.«

Rowarn blinzelte verblüfft, und Fylang lachte krächzend.

»Habe ich soeben einen erhabenen Moment zerstört? Ich bedaure. Ich bin nicht das, was man allgemein als furchterregenden, aber ehrwürdigen Drachen bezeichnet.«

»Er ist ziemlich jung«, fügte Halrid Falkon an. »Er hat seine vorlaute Jugendzeit noch nicht hinter sich.«

Der Drache kicherte. »Er ist nur neidisch, weil er nie eine unbeschwerte Jugendzeit hatte. Und dennoch«, er richtete die glühenden Augen auf Rowarn, »bin ich weise durch meine bewahrten Erinnerungen, junger Freund, und ich erkenne den Nauraka in dir, dessen du dir selbst bewusst bist. Und ich sehe noch viel mehr, was du noch nicht erfahren hast. Ich könnte dir eine Menge sagen über dich, ebenso wie Halrid. Aber du musst es selbst herausfinden, verstehst du? Alles, was ich dir sagen kann, ist folgendes: Vertrau dir. Und vertraue den Mächten in dir. Du bist auf einem großen Weg, und im Grunde sind es die anderen, die dich begleiten, nicht umgekehrt.«

»Ginge es nicht einfach mal weniger kryptisch?«, murmelte Rowarn.

Nun lachte selbst der dunkle Zauberer. »Willkommen in der Welt der Mächtigen«, sagte er freundlich. »Die uneinsichtigen, ihr Glück verweigernden Menschen glauben immer, dass Macht sie befreit, und beschreiten deswegen schreckliche Wege unter großen Opfern und Kriegen. Dabei ist es umgekehrt: Die Macht ist es, die uns gefangen nimmt. Wir müssen Regeln befolgen, Rowarn, sonst gerät das Gleichgewicht aus den Fugen. Und die Regeln sind sehr streng. Macht hält unser Universum zusammen, aber das ist ein sehr fragiles Gebilde.«

Rowarn sah ein, dass er dies noch lernen musste. Der Zeitpunkt der Entscheidung rückte näher. »Ich danke Euch«, sagte er leise. Er wandte sich zum Gehen, dann drehte er sich noch einmal um. »Werde ich Euch wiedersehen?«

»Valia ist ein schönes Land«, gurrte der Drache, und Halrid Falkon lächelte. »Alles ist möglich.«

Rowarn hob die Hand zum Gruß, dann drehte er um und kehrte in die große Schankstube zurück, die er zu seiner Überraschung ohne weitere Umwege und Suche fand. Er entdeckte Noïrun am selben Platz, wo er ruhig dasaß, rauchte und ab und zu aus seinem Krug trank. Er lauschte weder den Geschichten der anderen, noch beteiligte er sich an einem der beliebten Würfelspiele. 

Der Fürst wandte den Kopf, als Rowarn sich zu ihm setzte.

»War es das?«, fragte Rowarn.

Noïrun nickte. Er hob die Hand, bevor Rowarn weitersprechen konnte. »Dies ist deine Geschichte, Rowarn. Nur für dich.« Er wies um sich. »Jeder hier war eines Tages zum ersten Mal in einem Freien Haus, aus den unterschiedlichsten Gründen. Manchmal erscheint es wie ein normales Gasthaus, in dem man zusammensitzt, isst und trinkt und Neuigkeiten tauscht. Aber manchmal führen die Türen auch woandershin, und das wollte ich dir zeigen.«

»Warum tust du das alles?«, fragte Rowarn leise. »Ich meine, du hast mich als deinen Knappen angenommen, was mich von Anfang an über die anderen gestellt hat, aber das hier ...«

Der Fürst lächelte. »Was denkst du, wie ich zu dem wurde, der ich bin? Oder Olrig? Wir haben besondere Talente, Rowarn, und eines Tages hat sie jemand erkannt, der uns ausbildete und schließlich hierher führte. Jeder, der nicht so ist wie die anderen, der sich durch etwas Besonderes auszeichnet, durchschreitet irgendwann die Tür eines Freien Hauses, die nicht der einfache Eingang ist. Ich habe dir lediglich den Weg hierher gewiesen, alles andere oblag dir.« Er erhob sich. »Und dies war also der Abschluss, mein junger Freund. Jetzt reiten wir nach Ardig Hall und fegen Femris von dem heiligen Boden der Stätte des Friedens.«

Rowarn verharrte für einen Moment verwirrt, dann folgte er dem Fürsten hastig. »Was meinst du mit Abschluss, Noïrun? Ich meine, ich bin zwar zum Ritter geschlagen, aber ...«

»Deine Ausbildung ist beendet.« Der Fürst wandte sich ihm zu. »Mehr kann ich dir nicht beibringen. Nun kannst du alles durch Übungen und Ernsthaftigkeit vertiefen und vervollkommnen, doch dies ist allein dir überlassen.«

»So schnell?«, sagte Rowarn verblüfft.

»So schnell«, sagte Noïrun ruhig.

Er strebte auf eine Tür zu, die allerdings nicht jene war, durch die sie hereingekommen waren. Aber Rowarn lag es inzwischen fern, den Fürsten auf derlei hinzuweisen. 

Er war daher kaum überrascht, als sie in das erstrahlende Licht eines gerade angebrochenen Morgens traten und Olrig sie erwartete, mit Windstürmer und dem Kupferfuchs zusammen neben seinem Schimmel am Zügel. Der Zwerg – überglücklich, Rowarn so munter und weitgehend unversehrt wiederzusehen – umarmte ihn und klopfte ihm auf die Schulter. Rowarn schwang sich dann auf Windstürmers Rücken, der zärtlich schnaubte.

»Jetzt ist es nur noch ein Tagesritt«, sagte der Fürst. »Heute Abend schon wirst du die Ruinen von Ardig Hall in der Ferne leuchten sehen.«

»Die anderen dürften inzwischen angekommen sein«, berichtete der Kriegskönig, während sie die Pferde antrieben. »Wir haben die Freie Straße unbehelligt erreicht, und ich konnte sie beruhigt unter Morwens Führung weiterschicken.«

»Gut«, brummte der Fürst Ohneland zufrieden und lenkte den Kupferhengst von der Freien Straße ab quer über einen Hügel, wo er ihm die Zügel freigab.