Kapitel 6

Die Bestien


Die Versammlung fand noch am selben Abend statt, auf dem geräumten Marktplatz, damit auch die Velerii dabei sein konnten. Ihre mächtigen Leiber hätten in kein Haus gepasst.

Fast die ganze Stadt war anwesend, sodass dichtes Gedränge herrschte. Daru, trotz seiner Trauer um Anini immer noch aufs Geld bedacht, sorgte für ausreichende Bewirtung mit Speck, Brot und Bier; immerhin zum vergünstigten Preis. Auch seine Frau Hallim war anwesend, bleich und abgezehrt, doch sie ließ sich nichts anmerken.

Im Zentrum des Platzes waren Stühle aufgestellt. Larkim der Strenge bekam den Ehrensitz mit hoher Lehne in der Mitte des Rundes, zu beiden Seiten saßen die Stadtväter sowie die Familien der anderen ermordeten Mädchen. Fürst Noïrun stand vor ihnen. Hinter ihm hatten sich Schneemond und Schattenläufer niedergelassen, zusammen mit Rowarn, Olrig und Morwen. Die übrige Schar stand verteilt in der Menge.

Die Dämmerung setzte bereits ein, und Fackeln und Öllampen wurden entzündet. Der Abend war mild, aber in der Ferne rückten langsam Wolken heran, die nahenden Regen ankündigten. Und das wurde auch Zeit, wie ein Bauer bemerkte, die Aussaat benötigte dringend Wasser. Der Boden war trocken, an einigen Stellen hatten sich schon Risse gebildet. Für die Jagd hingegen war Regen weniger vorteilhaft, stellten sein Nachbar fest.

In der Menge brodelte eine ständige Bewegung. Manche schoben sich weiter nach vorn, um eine bessere Sicht zu bekommen; andere, die sich lange nicht gesehen hatten und zufällig erblickten, drängelten sich in Wiedersehensfreude rücksichtslos aufeinander zu. Namen wurden wie Bälle über die Köpfe geworfen und weitergegeben, prallten von den Häuserwänden ab, bis sie den richtigen Empfänger fanden. 

Mehrere junge Leute nutzten den Moment, um sich in dunkle Winkel der angrenzenden Gassen zurückzuziehen, für flüsternde Zwiesprache und heimliche Küsse. Auch vorwitzige Kinder ergriffen die Gelegenheit und wuselten zwischen den Beinen der Erwachsenen hindurch, um Fangen zu spielen oder sich zu kleinen Tauschgeschäften außerhalb der strengen Augen der Eltern zu treffen. Lautstarke Beschwerden machten die Runde, als aus einem angrenzenden Gatter eine Muttersau mit ihren fünfzehn quirligen, fröhlich quiekenden Ferkeln ausbrach, was wiederum in mehreren Hunden die Wolfsnatur weckte. Lärmendes Chaos war die Folge, bis einige Soldaten aus Fürst Noïruns Schar unter Gelächter eingriffen und der Jagd ein schnelles Ende bereiteten.

Dies alles geschah jedoch eher am Rande. Zur Mitte hin wurde es ruhiger, fast bis zum Stillstand.

Die Häuser erhoben sich in unverrückbarer Ruhe gegen den trüber werdenden Himmel. Außerhalb des Lichtscheins der Lampen und Fackeln warfen die Bauwerke lange Schatten, die jedoch nichts Bedrohliches hatten, sondern die tagsichtigen Menschen allmählich zum Innehalten brachten. Die Blicke richteten sich zusehends aufmerksam zur hell erleuchteten Mitte des Platzes, und der Ausschank wurde eingestellt.

Rowarn spürte fast körperlich die merkwürdige Stimmung, die nun über der Stadt lag. Nur sehr selten kamen alle Bürger Madins, die Einwohner von Weideling und auch der Fischer und der Köhler samt Familienangehörigen auf diese Weise zusammen. Entsprechend verunsichert waren die Menschen. Was von dieser Versammlung zu halten war, wusste niemand so recht, und was zu erwarten war, noch weniger. 

Die Blicke, die man dem Fürsten zuwarf, waren größtenteils misstrauisch und besorgt. Immerhin kam es nicht alle Tage vor, dass eine schlagkräftige Kriegertruppe hier auftauchte und plötzlich die Dinge in die Hand nahm. Und nicht nur das: Überall war die Kunde verbreitet worden, dass Rekruten gesucht wurden, um als Streiter für den Regenbogen im Land Valia zu dienen.

Lediglich die beiden Velerii wirkten so entspannt wie immer. Aber das war auch kein Wunder. Nach dem Wenigen, was Rowarn mit der Zeit über sie erfahren hatte, mussten sie annähernd zweitausend Jahre alt sein, wenn nicht mehr. In einer derart langen Zeitspanne hatten sie so viel erlebt, dass sie vermutlich nichts mehr überraschen konnte, geschweige denn aus dem Gleichgewicht bringen.

Und wahrscheinlich hatten sie sich vor dem Aufbruch hierher einige Zeit im gestreckten Galopp über die Hügel ausgetobt.

Rowarns Blicke suchten und fanden Rubin und Malani in der Menge. Einen kurzen Moment zögerten alle drei, dann winkten sie sich gegenseitig zu, und die beiden Mädchen lächelten. Rowarn spürte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel. Diese beiden glaubten nach wie vor an ihn. Auf einmal fühlte er sich fast befreit.

Morwen, die neben ihm stand, stieß ihn leicht in die Seite. »Schwerenöter«, zischelte sie leise, über beide Ohren grinsend.

»Mumpitz«, gab Rowarn errötend zurück. »Außerdem geht dich das gar nichts an.«

»Dem stimme ich zu. Was sollte ich mit einem um so viel jüngeren Grünling wie dir auch anfangen?«

»Klappe.«

»He, ihr zwei«, fauchte Olrig dazwischen. »Schluss mit dem Geplänkel, hier geht es um ernste Dinge.«

Morwen zuckte die Achseln, verschränkte die Arme vor der Brust und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Fürsten. Rowarn wich Olrigs funkelndem Blick aus und tat es ihr gleich.



Fürst Noïrun begann eine allgemein gehaltene Ansprache, in der er sich für die Gastfreundschaft bedankte und für die Neuigkeit, dass die ersten Rekruten bereits hierher unterwegs waren. Um die Versammelten von vornherein zu beruhigen, kündigte er an, schon in wenigen Tagen wieder abzureisen. Sollte später noch jemand beschließen, nach Valia zu gehen, würde er der Schar folgen müssen. Ardig Hall war kaum zu verfehlen, denn es lag fast im Zentrum von Valia.

Tatsächlich zeigte sich Erleichterung auf einigen Gesichtern. Sollte der Krieg dort bleiben, wo er hingehörte: möglichst weit weg von Inniu. Rowarn konnte es den Leuten nicht verdenken; dies war einer der Gründe, warum sie in dem abgeschiedenen Tal lebten, von dem kaum jemand wusste.

Doch ganz verschließen durfte man die Augen auch nicht. Das hatte sich in diesem Frühjahr deutlich gezeigt.

Rowarn zuckte zusammen, als er plötzlich seinen Namen hörte. Der Fürst hatte sich ihm zugewandt und winkte ihm. »Komm her, Rowarn.«

Er beeilte sich, der Aufforderung nachzukommen, und fühlte viele Blicke auf sich gerichtet, als er neben den Fürsten trat, der ihm die Hand auf die Schulter legte.

»Ich weiß, was die braven Bürger Madins in den letzten Wochen durchgemacht haben«, sprach Noïrun laut und vernehmlich in die Runde, wobei er sich leicht drehte. »Und ich weiß auch, dass man einen Schuldigen am ehesten unter denjenigen sucht, die man am wenigsten kennt, und die unter geheimnisvollen Umständen ein Teil der Gemeinschaft geworden sind.«

Gemurmel kam auf, Unwilligkeit zeigte sich auf vielen Gesichtern. Andere machten deutlich, dass sie Rowarn für schuldig hielten, auch wenn nun ein Fremder für ihn eintrat.

Rowarn blickte Rayem fest ins Gesicht. In den Augen des Wirtssohnes loderte der Hass, doch der junge Nauraka hatte alle Furcht und Unsicherheit verloren. Er wusste jetzt, dass er unschuldig war, und er würde sich von niemandem mehr anklagen lassen. Dennoch fühlte Rowarn sich nach wie vor verantwortlich für Aninis Tod. Diese Selbstvorwürfe würde er wahrscheinlich sein ganzes Leben lang mit sich herumtragen müssen, auch wenn die Vernunft ihm sagte, dass er es nicht hätte verhindern können. Aber wäre er mit ihr gar nicht erst hinausgegangen …

»Wir haben uns die Spuren genau angesehen«, fuhr Fürst Noïrun fort. »Und es gibt überhaupt keinen Zweifel daran, dass Rowarn unschuldig ist!«

Daraufhin erstarben alle Geräusche, nicht einmal mehr ein Kind plärrte, und es zeigte sich Staunen, Widerwillen und Unglauben auf den Gesichtern.

Rayem, dem diese Offenbarung wahrscheinlich am wenigsten gefiel, rief laut: »Könnt Ihr das beweisen?«

Zustimmung wurde laut, doch das anschwellende Geschwätz erstarb schnell, als der Fürst die rechte Hand hob. Die Linke ruhte nach wie vor auf Rowarns Schulter, der plötzlich innerlich zu zittern anfing, als ihm klar wurde, dass hier ein fremder Mann des Hochadels, ein Herrscher für ihn eintrat, ohne ihn und vor allem ohne seine Herkunft zu kennen.

»Ja«, sagte Noïrun ruhig. »Indem wir euch die wahren Schuldigen bringen.«

Als erneut Unruhe aufkam, zischte Larkim der Strenge und pochte mit seinem Gehstock auf den Boden. Kurz darauf herrschte wieder respektvolles Schweigen. »Kühne Worte«, erhob der Älteste seine Stimme. »Ihr, Fürst Noïrun, wollt an einem Nachmittag erreicht haben, was uns in den vergangenen Tagen nicht gelang? Trotz der Hilfe der Velerii?«

»Weiser Larkim, wir haben Euch bereits auf die vielen fremden Spuren hingewiesen und unsere Vermutungen geäußert, doch Ihr habt dies als leeren Verdacht von Euch gewiesen. Ihr habt Euch geweigert, uns zuzuhören, obwohl Ihr uns vorher um Hilfe gebeten hattet«, warf Schneemond ein, wohl wissend, dass sie den alten Mann damit vor aller Augen lächerlich machte. Doch die Pferdfrau war schonungslos, wie wusste jeder wusste und die meisten schon zu spüren bekommen hatten; das war mit ein Grund, warum sie ebenso gefürchtet war wie ihre Heilkunst geschätzt.

»Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es sich um ein Ritual handelt«, sagte Noïrun. »Durchgeführt von Wesen, die daraus Lebenskraft ziehen wollen: Bestien sind in Inniu eingefallen und wollen sich hier niederlassen.«

Rowarn sah, wie angespannt Daru und Hallim waren. Und doch ... auf dem Gesicht von Aninis Mutter lag zum ersten Mal seit dem Tod der Tochter ein zaghafter Hoffnungsschimmer. Als sie Rowarns Blick bemerkte, nickte sie ihm zu und lächelte leicht. Er schluckte trocken und neigte den Kopf.

Der Fürst hatte inzwischen weitergesprochen: »Noch wissen wir nicht, um welche Bestien es sich handelt, aber ohne jeden Zweifel wollen sie das Tal für sich beanspruchen.Vielleicht haben sie sogar den Auftrag, einen Stützpunkt für die Anhänger der Finsternis zu schaffen. Um das zu erreichen, und weil sie in der Minderzahl sind, führen sie ein magisches Ritual durch, das seine Fortsetzung finden wird, sobald der Mond sich wieder gefüllt hat.«

»Ich glaube Euch kein Wort!«, schrie Rayem verzweifelt.

»Halt den Mund, Dummkopf!«, herrschte sein Vater ihn an und hob die Hand, als wolle er ihn schlagen. »Hast du nicht schon genug Unheil angerichtet? Wie oft willst du die Großzügigkeit dieses hohen Edelmannes noch herausfordern?«

»Es ist nur meinetwegen«, hörte Rowarn sich zu seiner eigenen Überraschung sagen. Entsetzt wollte er sich zum Schweigen bringen, aber zu spät. »Rayem hasst mich, weil Anini mit mir redete«, fuhr er tapfer fort und sah ihren Eltern ohne Scheu ins Gesicht. »Und ich, das habe ich Euch bereits gesagt, hätte ihr niemals etwas antun können, das ihr schadete. Anini war eine wunderschöne junge Frau, klug und bodenständig. Sie wusste, was sie tat, und sie war vielen überlegen – auch mir. Ich habe sie in Ehren gehalten.«

»Wärst du bereit, dafür zu kämpfen?«, fauchte Rayem, bevor sein Vater ihm erneut Einhalt gebieten konnte.

»Ich habe einen besseren Vorschlag«, gab Rowarn kühl zurück. »Du wirst mit mir zusammen auf die Jagd nach den Bestien gehen, und wir werden gemeinsam Aninis Tod an ihnen rächen.«

»Wir können jede Unterstützung brauchen, selbst einen hirnlosen Hitzkopf wie diesen«, sprach der Fürst trocken dazwischen und wies auf Rayem. »Wenn Rowarn bereit ist, für ihn einzustehen, dass er uns nicht im Weg ist und tut, was man ihm sagt, und wenn Rowarn uns ferner zusichert, dass der Wirtssohn kein Feigling ist, so mag er willkommen sein in der Schar und morgen früh bei Tagesanbruch mit auf die Jagd gehen.«

»Ich stehe für ihn ein!« Hallim erhob sich. »Das wird er, bei Lúvenors Güte«, erklärte sie fast feierlich. »Ich stehe tief in Eurer Schuld, mein Fürst, und niemand will den Tod meiner Tochter schneller aufgeklärt und gerächt haben als ihre Eltern.«

»Gut, wir sind uns also einig«, sagte Noïrun zufrieden. »Dann lasst uns klären, wer sich noch an der Jagd beteiligen wird, und wie wir vorgehen werden.«



Später, als die Versammlung aufgelöst war, verließ Rowarn neben Noïrun den Platz. Inzwischen herrschte tiefe, wolkenverhangene Dunkelheit außerhalb der erleuchteten Straßen, Gassen und Häuser. Am auffälligsten lockte Darus Gasthaus mit dem großen, ausgestanzten und gold lackierten Metallschild eines Baumes, in dessen Zweigen brennende Fackeln steckten, mit einem rauchenden Kamin, dessen Düfte von frischem Braten kündeten, sowie vielen erleuchteten Fenstern. »Ich danke Euch«, sagte er leise.

»Ich bin eine Verpflichtung eingegangen, und die muss ich erfüllen.« Der Fürst winkte ab. »Als mein Knappe stehst du unter meinem Schutz. Und danke mir nicht mit leeren Worten, sondern mit Gehorsam, Fleiß und deiner Hände Arbeit, damit ist mir mehr gedient.«

»N-natürlich, Herr«, murmelte Rowarn eingeschüchtert.

»Sei pünktlich morgen«, befahl Noïrun. »Und sorge dafür, dass dieser Hohlkopf von Wirtssohn nicht aus der Reihe tanzt.« Ohne eine Antwort abzuwarten, beschleunigte er seinen Schritt auf den Goldenen Baum zu.

»Habe ich es dir nicht gesagt?«, gluckste Olrig hinter Rowarn.

»Ja«, sagte Rowarn begeistert und blieb abrupt stehen, als er merkte, dass er in die verkehrte Richtung ging. Er war einfach zuerst dem Fürsten, dann der großen Masse gefolgt, die zum Wirtshaus strebte, um bei Bier und Wein über die Versammlung und die vielen unerhörten Geschehnisse zu reden, die ganz Madin in Atem hielten. Doch das war nicht sein Weg, hier gehörte er nicht her.

»Ach du lieber Himmel«, rief Morwen, die gerade von irgendwoher auftauchte, und verdrehte die Augen. »Er genießt es auch noch!« Kopfschüttelnd hakte sie bei dem Zwerg unter. »Komm, wir haben uns einen anständigen Schluck verdient, bevor wir uns morgen im Schlamm wälzen und ich Spuren suchen muss, die unter Massen von Wasser und Dreck vergraben sind.«

»Lass uns um die erste Runde würfeln!«, schlug Olrig vor. Seine weiteren Worte verloren sich bald auf dem Weg, da sie sich schnell entfernten, um noch einen guten Platz zu bekommen.

Ja, ich genieße es, dachte Rowarn zuversichtlich. Ich bin unschuldig, Aninis Tod wird gerächt, und Fürst Noïrun hat mich in seine Dienste genommen. Und nicht nur das, er ist für mich eingetreten. Ich habe nun einen Platz, wo ich hingehöre, wo ich lernen und mich beweisen kann. Um gewappnet zu sein für meine Rache.

Er drehte sich um und schlug den Weg zu seinen Muhmen ein, die ihn auf der anderen Seite des Platzes geduldig erwarteten. Schneemond lächelte ihm zu, doch sie konnte die Trauer in ihren Augen nicht verbergen.



In der Nacht kam Regen auf und rauschte auch am Morgen noch unvermindert aus grauem Himmel herab. Die Bäche schwollen an, Wege und Wiesen verwandelten sich in wenigen Stunden in Matsch. Die Luft kühlte rasch aus.

Kein Tier ließ sich blicken oder auch nur hören, als Rowarn aus der Tür trat. Er trug über den normalen Sachen einen weiten Ledermantel mit Kapuze, der vorn am Saum herab mit Schlingen und Knebeln geschlossen werden konnte, und an dem weite Ärmel angenäht waren. Die Stiefel hatte er fest verschnürt und mit einem Lederschutz versehen, damit sie nicht so schnell durchweichten. Im Taillengürtel steckte ein langes Jagdmesser, das er manchmal beim Fischer oder Köhler benutzt hatte, wenn sie frisches Wildbret oder Fisch auf den Tisch bringen wollten. Sonst besaß er keine Waffe. Er hatte den Umgang damit auch nicht gelernt.

Seine Muhmen erwarteten ihn vor dem Astvorhang. Die Krone der Königsweide war so dicht, dass der Moosteppich hier trotz des pausenlos strömenden Regens gerade mal leicht angefeuchtet war. Aber die ersten Tropfen stahlen sich jetzt zwischen den Blättern hindurch und rollten über die Zweige hinab. Die Tiere, die sich in den Schutz des Baumes geflüchtet hatten, mussten sich bald Höhlen suchen – oder das Unwetter in stoischer Duldsamkeit ertragen und von sonnigen Tagen träumen.

»Bist du bereit?«, fragte Schattenläufer.

Rowarn nickte. »Ich finde den Tag sehr passend«, sagte er. »Im heiteren Frühlingssonnenschein sollten solche Dinge nicht erledigt werden.«

»Da gebe ich dir Recht.« Schneemond prüfte den Sitz seiner Kleidung, eine überaus mütterliche Geste, aus der ihr Ziehsohn längst herausgewachsen war. »Rowarn ...«, fuhr sie dann zögernd fort. »Ich wünschte mir, du würdest nur mitgehen, weil du helfen möchtest, und nicht aus Rachedurst. Die unweigerliche Gewalt, die das mit sich bringen wird, gefällt mir nicht. Du bist zu jung dafür.«

»Ich weiß.« Er wusste auch, wie seine Zieheltern zu Waffen und Töten standen. Er schämte sich, weil er sie in dieser Hinsicht enttäuschte, denn er fühlte sehr wohl den Drang zu töten in sich. Aninis Mörder musste bestraft werden, und es gab nur ein Urteil dafür. »Ich werde auf mich aufpassen und nicht allein handeln, das verspreche ich.« Er schwang sich auf Schattenläufers Rücken und zog den Kopf ein, als ihn ein fallender Tropfen traf. Hastig streifte er die Kapuze über, schlug den Kragen nach oben und verschloss ihn an den Schlaufen. Nun konnten ihm weder Wind noch Regen etwas anhaben. »Ich bin so weit.«

Seine Muhmen trugen ebenfalls schützende Lederkleidung an ihren menschlichen Oberkörpern. Die Mähnen hatten sie geflochten und unter den Jacken verstaut. Allerdings trugen sie keine Kapuzen. Die dichte Kopfmähne sollte ausreichend Schutz sein, wie sie fanden: Ein wenig Regen habe noch niemandem geschadet. »Dann lasst uns aufbrechen. Der Fürst wird uns schon erwarten«, sagte Schneemond, und sie trabten über die Hügel zum nördlichen Wald, wo der vereinbarte Treffpunkt lag.

»Erstaunlich«, stellte Schattenläufer beeindruckt fest, als sie vom Hügel hinabblickten. »Ich hätte nicht gedacht, dass bei diesem Wetter so viele kommen.«

Die Schar von Ardig Hall war bereits anwesend, und aus Madin strömten fast ununterbrochen dick vermummte Bürger herbei, manche mit Forke, Sense und Heugabel bewaffnet, andere mit langen Messern, Äxten, Beilen und sogar Schwertern. Diesmal waren sie zu allem entschlossen. Rowarns Herz pochte laut. »Das hat der Fürst bewirkt«, stieß er aufgeregt hervor. »Wir werden sie kriegen!«

Sie galoppierten hinunter und begrüßten den Fürsten, der bereits die Einteilung der Gruppen vornahm. Eine solche Treibjagd sollte Inniu zum ersten Mal erleben, und damit rechneten sicherlich auch die Bestien nicht.

»Was für ein Glücksfall, dass Ihr gerade jetzt eingetroffen seid«, bemerkte ein Knecht, und die Erleichterung, dass jemand die Verantwortung übernahm, der sich in diesen Dingen auskannte, war deutlich zu hören.

»Das wird sich noch herausstellen«, meinte der Fürst. »Wo ist dieser junge Tölpel mit dem vorlauten Mundwerk?«

Eine tropfnasse, kräftige und große Gestalt trat heran. »Ich bin hier, Herr, und mein Name lautet Rayem.«

»Wie auch immer. Du hältst dich an Rowarn, er hat die Verantwortung für dich übernommen. Rowarn, du schließt dich Morwen und den Treibern an. Ihr habt den Auftrag, die Bestien aufzuscheuchen, aber den Kampf überlasst ihr uns, verstanden?« Noïrun fixierte die junge Frau mit strengem Blick. »Das gilt auch und vor allem für dich!«

»Hab verstanden«, sagte Morwen und nahm Haltung an.

»Das genügt mir nicht.« Der Fürst hob auffordernd die Hand.

»Ich verspreche, mein Fürst und Kriegsherr, dass ich nur nach Befehl handeln werde«, fügte sie förmlich hinzu.

»Gut«, brummte er deutlich zufriedener und wandte sich an Rayem. »Deine hauptsächliche Aufgabe ist es, den Rücken der Fährtensucher und Treiber zu decken und auf Angriffe aus dem Hinterhalt zu achten. Du bist kräftig, und du kannst ein Messer zumindest richtig herum halten.« 

Dann blickte er in die Runde und erhob die Stimme, damit sie ihn alle hören konnten. »Das gilt für euch alle: Nehmt dies nicht als Spiel! Wir haben es mit sehr gefährlichen, starken Wesen zu tun, die blutgierig sind, keine Gnade kennen und nicht zögern zu töten, selbst wenn sie dabei auch umkommen. Sie werden bis zum letzten Atemzug kämpfen. Deshalb ist Töten unsere einzige Möglichkeit – und wir müssen dabei gründlich und schnell sein, denn sie sind nicht so leicht umzubringen. 

Solange wir nicht wissen, welche Bestien es sind, kennen wir ihre Schwachstellen nicht. Also seid ständig auf der Hut, und fangt nicht an, laut pfeifend umherzuspazieren, weil ihr eine Pause für nötig haltet!«

Gemurmel antwortete ihm, das im Regenrauschen unterging. Rowarn hatte den Eindruck, als ob der Fürst seufzte. Dann hob er beide Arme. »Also, die Jagd beginnt! Jede Gruppe hat einen Hornbläser bei sich, der umgehend Signal gibt, sobald der Feind gestellt ist. Und jetzt los, verteilt euch, die Späher zuerst!«

»Er meint uns«, sagte Morwen und stieß Rowarn an. Leichtfüßig lief sie los, ihre Füße schienen kaum im Matsch zu versinken, und nur wenig Schlamm spritzte auf. Bald war sie hinter dem dichten Regenvorhang verschwunden, und Rowarn beeilte sich, ihr zu folgen. »Komm schon!«, rief er Rayem zu.

Die übrigen Fährtensucher und der Hornbläser hatten sie inzwischen ebenfalls überholt. Die beiden jungen Männer passten sich dem schnellen Trab an und tauchten im nassen Blättervorhang des Waldes unter.

Rowarn verharrte einen Augenblick und lauschte dem Prasseln und Plätschern des Regens, der hier heftiger klang, obwohl die Baumdächer einiges davon abhielten. »Das ist gut«, stellte er leise fest. »So hören sie uns nicht so schnell kommen.«

»Umgekehrt genauso«, bemerkte Morwen, die sich gründlich umsah und dann die Richtung bestimmte. 

Und weiter ging es, immer tiefer in den Wald hinein. Rayem ging bald der Atem aus. Er schnaufte und prustete, und Rowarn musste immer öfter auf ihn warten, was ihn zutiefst verärgerte. Er war froh, als Morwen auf einer Lichtung anhalten ließ. »Hier entscheidet es sich«, sagte sie. »Rowarn, wohin führen diese Wege?«

Es waren keine Karrenwege mehr, sondern Wanderpfade, die auch von Tieren gern benutzt wurden. Vier führten von der Lichtung aus weiter. »Alle gehen tiefer in den Wald, größtenteils in nördlicher Richtung«, antwortete er. »Diesen ganz rechts können wir allerdings ausschließen, denn er trifft mit einem Weg aus Osten zusammen, der zu nah an Weidelings Machtbereich vorbeiführt.«

»Bleiben noch drei.« Morwen inspizierte die Pfade nacheinander. Sie führten wie schmale Gassen durch wild wuchernden Wald und konnten nicht weit eingesehen werden.

»Ich bin keinem davon weit genug gefolgt, um sagen zu können, wo genau sie hinführen.« Rowarn schritt ebenfalls die Abzweigungen der Reihe nach ab. Der Boden war hier weich, von verrottendem Laub bedeckt, auf das schwere Tropfen herabplatschten. Er untersuchte die Äste.

»Was ist, wenn sie nicht auf den Wegen gehen?«, warf ein Späher ein.

Morwen schüttelte den Kopf. »Zu anstrengend. Das sind große, schwere Geschöpfe, die sich nicht so leicht durchs Dickicht schlagen können.«

»Morwen!« Rowarn winkte sie heran und deutete auf einen gerade daumengroßen Abdruck am Rand des Weges, zwischen beiseitegeschobenen Blättern verborgen. »Wofür hältst du das?«

Morwen schob die Blätter weiter auseinander, doch mehr war nicht zu sehen. »Sag du es mir«, forderte sie ihn auf.

»Eine Kralle, die nicht eingezogen werden kann«, antwortete Rowarn. »Also keine Katze. Der Größe nach würde ich sagen, von einem Hinterfuß – und der Tiefe nach, denke ich, von einem Zweibeiner. Einer von denen, die keine Schuhe zur Tarnung tragen. Oder sie haben sie hier drin alle ausgezogen, weil sie schneller vorankommen wollten und das ihre natürliche Bewegungsweise ist. Die Schuhe dienten also der Verstellung.«

Morwen bedachte ihn mit einem langen, kritischen Blick. »Du kannst Fährtenlesen«, sagte sie schließlich.

»Nur ein bisschen.« Rowarn hob die Schultern. »Als Junge habe ich mir einen Spaß daraus gemacht, die Spuren von Tieren zu erraten. Eine ähnliche wie diese habe ich erst einmal gesehen, nämlich gestern, und meine Schlüsse ziehe ich aus dem, was du auf dem Hügel gesagt hast.«

»Du lernst schnell, und du hast ein scharfes Auge.« Täuschte er sich, oder klang so etwas wie Anerkennung in ihrer Stimme? Morwen wandte sich um. »Also gut, dies ist der Weg. Tarro, gib ein kurzes Signal, wenn wir außer Sicht sind, und hinterlasse ein Zeichen für die anderen, dann folge uns.«

Rowarn ging zu Rayem, der bisher vornübergebeugt dagestanden hatte, die Hände auf die Oberschenkel gestützt und nach Luft schnappend. »Vielleicht ist es besser, wenn du hier auf die anderen wartest«, schlug er vor.

Rayem funkelte ihn wütend an. »Das könnte dir so passen«, zischte er.

Rowarn zuckte gleichgültig die Achseln. »Ich meinte ja nur.« Er schloss zu Morwen auf, die gerade loslief, und Rayem blieb nichts anders übrig, als hastig hinterher zu keuchen.



Je weiter sie vordrangen, desto düsterer wurde der Wald. Nadelgehölz übernahm die Herrschaft. Die Wege waren mit abgestorbenen Nadeln statt mit Blättern bedeckt, der Boden war weich und nachgiebig und weniger rutschig. Dafür sanken sie tiefer ein. Morwen entdeckte bald weitere verräterische Spuren. »Sie haben sich zusehends sicherer gefühlt und sind nachlässig geworden«, merkte sie Rowarn gegenüber an.

»Mich wundert, dass sie ihre Spuren überhaupt so gut verwischen konnten«, versetzte er. »Hast du schon eine Vorstellung, um welche Bestien es sich handelt?«

»Es gibt mehrere Möglichkeiten«, sagte Morwen ausweichend. »Und was denkst du?«

»Ich habe keine Ahnung«, gab er aufrichtig zu. »Solche Geschichten haben mir meine Muhmen nie erzählt. Ich wusste nicht einmal, dass es so etwas wie Bestien gibt.«

»Unschuldiges, glückliches Kind, du«, murmelte sie, und er hörte Neid in ihrer Stimme.

In diesem Moment vernahm Rowarn einen nur allzu vertrauten Laut und fasste Morwen am Arm. »Still!«, zischte er und bedeutete dem Rest der Gruppe, stehen zu bleiben. »Elenki!«

Es war nur ein kurzer, dumpfer Ton gewesen, aber einem jungen Mann, der als unbedarftes Kind beinahe von dem Geweih eines Riesenhirsches aufgespießt worden wäre, nur zu beängstigend in Erinnerung.

Ausnahmsweise begriff und akzeptierte Rayem sofort den Ernst der Lage und zückte sein Messer, während er rings um sich spähte.

Die Fährtensucher und Morwen wirkten erstaunt, doch sie waren gut ausgebildet und stellten keine unnötigen Fragen, wenn eine Warnung ausgesprochen wurde.

Und gleich darauf begriffen sie Rowarns Vorsicht.

Um sie herum röhrten die Hirsche, dass es durch Mark und Bein ging, und dumpfes Trommeln auf dem weichen Waldboden, splitterndes Krachen, Prasseln und Bersten von Holz kündigten eine ganze Gruppe der Riesenhirsche an. Rowarn deutete nach rechts, wo die ersten braunen Leiber in einer wogenden Masse schon sichtbar wurden. Es war rätselhaft, wie sie es schafften, in der Enge eines Waldes mit den weit ausladenden Schaufelgeweihen so schnell und elegant durchs Unterholz zu springen.

Unwillkürlich rückten die Menschen auf dem Weg zusammen, als links und rechts um sie die Elenki aus dem Unterholz hervorbrachen, um sie herumströmten und den Weg entlangdonnerten. Aus der entgegengesetzten Richtung erklang nur noch ein einziger, röhrender Schrei, der weit durch den Wald schallte.

Dann tauchte der Herrscher des Waldes auf, der größte Elenki, den Rowarn je gesehen hatte, größer noch als seine Muhmen und mindestens genauso schwer. Er hatte einen langen grauen Bart; seine Halsmähne wallte an ihm herab, und das Rückenfell glänzte in einem silbernen Streifen. Er konnte sich nicht mehr schnell bewegen, nicht bei der Größe des gewaltigen Geweihs, mit dem er zehn nebeneinander stehende Männer gleichzeitig hätte angehen können. Aber er musste auch nicht schnell sein. Seine dunklen Augen glühten in einem wilden Feuer, als er auf den Weg trat, mit dem Körper fast dessen ganze Breite einnahm und sich selbstbewusst der Menschengruppe näherte.

»Rayem, tu dein Messer weg, tritt dicht ans Dickicht beiseite und rühr dich nicht mehr!«, zischte Rowarn. »Das gilt für euch alle: Macht bloß keine Dummheiten!«

Sie alle kamen umgehend der Aufforderung nach und stellten sich in einer Reihe auf, wie zu einer Parade. Langsam kam der alte Riesenhirsch heran. Sein Atem dampfte, als er ihn schnaubend aus den Nüstern blies. Rowarn schluckte und fühlte dieselbe Todesangst wie einst als Kind. 

Er stellte sich dem Elenki entgegen und streckte die leere Hand aus. Die Augen zu Boden gerichtet, sang er leise eine Melodie, die er von seinen Muhmen gelernt hatte, um wild gewordene, zum Angriff entschlossene Hengste zu beruhigen. Eigentlich war es ein Schlaflied, das Mütter am Abend für ihre Kleinen sangen, doch es verfehlte seine Wirkung auch auf Tiere nicht.


»Sei nur ruhig, mein kleiner Schatz,

dein Vater kommt bald heim.

Dunkel wird der Himmel schon,

die Hütte glänzt im Kerzenschein.

Denk an mich, die ganze Nacht,

ich sing für dich und halte Wacht.

Weine nicht, mein kleiner Schatz,

die Jagd war gut, der Beutel voll,

dein Vater kommt bald heim.

Keine Angst, mein kleiner Schatz,

siehst du dort den ersten Stern?

Das Mondlicht scheint ihm seinen Weg,

der Vater ist nicht fern.

Schließ die Äuglein, träume fein,

der Tisch wird reich gedeckt uns sein.«


Der Elenki verharrte. Er wirkte unschlüssig, sein Kopf mit den auf die Menschen gerichteten Geweihspitzen hob sich leicht.

»Ehrwürdiger Alter«, flüsterte Rowarn. »Verzeih, dass wir deinen Weg vertraten. Wir sind nur Gäste, die um freien Durchgang bitten, eine kleine Weile nur, dann verlassen wir dein Reich wieder.«

Seine linke Hand kramte in einer Tasche unter dem Mantel, dann förderte sie zwischen den Fingerspitzen etwas zutage, das er auf die nach wie vor ausgestreckte rechte Hand legte. Er wagte einen Schritt auf den Hirsch zu.

Die schmale, dunkle Lippe zuckte. Der alte Elenki machte zwei Schritte auf den jungen Mann zu, reckte den Hals und leckte schließlich mit langer Zunge die Hand aus. Dann schritt er würdevoll und hoch erhobenen Hauptes an den Menschen vorüber, ohne sie weiter zu beachten, und verschwand bald darauf im trüben Nass des Waldes.

Rowarn wandte sich aufatmend Morwen zu. Auf seiner Stirn glänzten feine Schweißperlen. »Das war knapp«, stieß er hervor. »Ich habe keine Ahnung, was wir von Bestien zu erwarten haben – aber hier im Wald ist der Elenki das mächtigste und gefährlichste Geschöpf, das selbst große Katzen meiden.«

Morwen nickte. Sie war ein wenig blass geworden. »Ich habe bisher nur von den Elenki gehört, und es ist etwas anderes, ihnen leibhaftig zu begegnen. Was hast du dem Platzhirsch gegeben?«

»Salz. Habe ich immer bei mir. Allerdings nicht mehr lange, wenn es weiter so regnet.«

»Bei den Feuern in meines Vaters Küche«, seufzte Rayem. »Was wäre das für ein Braten gewesen!«

»Ein zäher und stinkender, zweifelsohne«, bemerkte der Hornbläser trocken. »Mir steht der Sinn mehr nach zartem Kalb, wenn du mich fragst.« Unwillkürlich schmatzte er.

»Vergiss das ganz schnell wieder«, sagte Morwen streng. »Los, weiter, der Tag zieht sich für uns nicht in die Länge.« Unterwegs bemerkte sie zu Rowarn: »Das war gut.«

Er grinste erfreut. Wie es aussah, war er doch nicht ganz nutzlos und musste sich vielleicht nicht allzu sehr schämen, seine Dienste dem Fürsten angeboten zu haben.



Sie erreichten den Felsenwald gegen Mittag, immer auf den Spuren der Bestien, von denen es inzwischen genug Hinweise gab. Kurze Hornsignale aus der Entfernung gaben Aufschluss, dass der Rest der Truppe inzwischen auf breiter Front heranrückte und langsam den Ring um das ausgewählte Gebiet enger zog.

»Denkt ihr, dass wir sie bald aufgestöbert haben?«, richtete Rowarn eine Frage in die Runde.

»Es kann nicht mehr lange dauern«, versetzte Morwen. Sie verhielt vor den sich zusehends auftürmenden Felsen. »Sind hier die Höhlen?«

»Ja. Sehr unübersichtliches Gelände. Schwer zum Anschleichen, gut zum Verteidigen«, antwortete Rowarn. »Ich bin mal über einen anderen Weg hierhergekommen, in einem größeren Bogen über die Wiesen, als ich ... ähm ... von zu Hause weggelaufen war.«

»Tut das nicht jeder irgendwann einmal?«, murmelte Morwen abwesend, während sie alles genau untersuchte.

»Ich hatte vor, mich hier niederzulassen und ab sofort mein eigenes Leben zu führen«, fuhr Rowarn fort. »Hier sind jede Menge Höhlen, die einiges in dieser Hinsicht zu bieten haben.«

»Und wie alt warst du?«

»Erwachsene fünf. Oder vielleicht auch schon sechs.« Rowarn grinste. »Ich habe einen halben Tag gebraucht, um den Entschluss zu bereuen, und den Rest und einen weiteren Tag, bis ich endlich heimgefunden hatte.«

»Eine weite Strecke für ein Kind. Furchtlos bist du, das muss man dir lassen.«

»Ganz im Gegenteil. Ich kann nur einfach nicht aufhören, egal wie viel Angst ich habe.«

Er fing einen Blick Rayems auf, der die Augen verdrehte. Nachdem Aninis Bruder einen Großteil des Weges genug damit zu tun gehabt hatte, bei der Gruppe zu bleiben und nach Luft zu schnappen, erholte er sich nun zusehends.

»Also, was machen wir jetzt?«, fragte der Hornbläser.

»Die Felsen sind zu kahl, und der Regen dauert schon zu lange. Ich kann keine Spuren entdecken, die uns weiterhelfen können«, sagte Morwen. »Es sind zu viele. Alte und neue, sie verteilen sich hier überall, keine eindeutige Richtung. Wir müssen ausschwärmen, eine Kette bilden und auf Rufweite bleiben. Keine Alleingänge, verstanden? Achtet gegenseitig auf euch und bleibt immer in Deckung. Den Kampf überlassen wir den anderen, die bald zu uns stoßen werden. Rowarn, du nimmst mit Rayem den westlichen Weg, wie du damals als Kind gelaufen bist. Da findest du dich am leichtesten zurecht.« 

Morwen teilte den Rest ein, hinterließ für die nachrückenden Truppen entsprechende Markierungen mit Ästen und Zweigen, und dann bildeten sie eine Kette, um den Bestien keine Durchschlupfmöglichkeiten zu bieten. Die Wesen hatten die Wahl: Entweder griffen sie an, oder sie zogen sich weiter zurück.



»Das ist doch alles Zeitverschwendung«, maulte Rayem unterwegs. »Wir werden hier gar nichts finden!« Und so ging es die ganze Zeit weiter. Es war ihm zu nass – was Rowarn ihm einigermaßen nachfühlen konnte, denn inzwischen weichte auch bei ihm alles durch, seine Finger waren klamm, und ihn fröstelte. Und es stimmte auch, dass die Felsen glitschig und kalt waren. Sie waren beide schon einige Male abgerutscht und hatten sich Prellungen und Abschürfungen geholt. Die Höhlen waren dunkel, zugig und feucht, manchmal stank es auch bestialisch, wenn sie ein altes Bärenlager aufstöberten. 

Der Tag schritt voran, und sie fanden keine Spur der Bestien. Auch die anderen hatten nichts Neues zu berichten, immer nur hieß es durch das gleichmäßige Rauschen des Regens hindurch: »Imrick, klar! – Glattfus, klar!«, bis die ganze Kette durch war. Im unübersichtlichen Gelände hatten sie längst keinen Sichtkontakt mehr, abgesehen von sich bewegenden Ästen oder einem Stein, der von einem Felsen herabrollte. Bei jedem Ruf wartete Rowarn hoffnungsvoll auf eine wichtige Fährte, und musste dann enttäuscht »Rowarn und Rayem, klar!« antworten, was vermutlich für die anderen ebenfalls entmutigend war. 

Von den nachfolgenden Truppen war nichts mehr zu vernehmen. Morwen hatte einmal kurz bemerkt, dass notfalls sofort Hilfe da wäre, aber jeder trotzdem umgehend in Deckung gehen sollte, sobald ein Angriff erfolgte. Mit dem ewig nörgelnden Rayem im Schlepptau hatte Rowarn gar keine Zeit, über die Gefahr nachzudenken.

Die Tiere, die sie vielleicht aus geschützten Löchern und Nestern beobachteten, schütteten sich wahrscheinlich aus vor Lachen über die dummen Menschen, die mit unzureichendem Schutz und ohne Fell bei diesem Wetter draußen herumstapften.

Rayem hatte ständig irgendetwas. Hunger, dann Durst, und er war müde, alles tat ihm weh. Er fand an allem und jedem etwas auszusetzen, angefangen bei dem Fürsten, über Morwen bis hin zu Rowarn.

Schließlich platzte dem Nauraka der Kragen. Er blieb stehen und drehte sich zu Aninis Bruder um. 

»Sag mal, was willst du eigentlich?«, fuhr er Rayem wütend an. »Ich dachte, wir sind hier, um Anini zu rächen! Wie hast du dir das denn vorgestellt? Wolltest du in der Kaminstube am behaglichen Feuer sitzen, bis der Mörder hereinkommt und demütig sein Haupt neigt, damit du es ihm abschlagen kannst?«

»Als ob du wüsstest, was Arbeit ist!«, gab Rayem gereizt zurück.

Rowarn stieß einen verächtlichen Laut aus. »Es ist wahr, ich bin behütet und sorglos aufgewachsen. Aber im Gegensatz zu dir weiß ich, dass dies eine Gnade war, und dass ich keinerlei Anspruch auf irgendwelche Vergünstigungen habe! Du aber hast nur eine große Klappe, ansonsten bist du ein Drückeberger! Das einzige, was du kannst, ist Federnrupfen!« 

»So lasse ich mich nicht ...«

»Ich bin noch nicht fertig! Du jammerst wie ein verzogenes kleines Mädchen, dem man die Puppe weggenommen hat! Ich habe deine ständige Übellaunigkeit satt, und noch mehr dein Gemaule, und ich frage mich ernsthaft, wen von uns beiden der Fürst mehr bestrafen wollte, als er uns zusammen losschickte!« Er stieß den um einiges kräftigeren Burschen beiseite. »Und jetzt geh mir aus dem Weg! Ich lasse mir irgendeine Ausrede für den Fürsten einfallen, dann verlieren wir beide wenigstens nicht das Gesicht. Geh heim, Rayem, wärm dich am Feuer und lass dir von deiner Mutter einen Becher heiße Milch bringen. Ich kann keine Fährte suchen und gleichzeitig auf dich aufpassen.« Damit ließ er Rayem stehen und ging weiter.

Als er eine Bewegung hinter seinem Rücken spürte, sagte er, ohne sich umzudrehen: »Nicht mal du kannst so dumm sein, Rayem. Jeder weiß, dass wir zusammen unterwegs sind, und wenn mir was passiert, bist du dran. Der Fürst hat ohnehin schon genug Grund, dich zu töten. Geschweige denn, was meine Muhmen mit dir machen würden. Das willst du besser nicht wissen.«

»Ich könnte sagen, dass es eine Bestie war«, erklang Rayems verbissene Stimme.

Rowarn lachte. »Klar, mit einem Messer. Und kannst du die Bestie auch wahrheitsgemäß beschreiben?« Kopfschüttelnd setzte er den Weg fort. Er krallte seine Finger in die nächste Felswand und zog sich auf einen Überhang, um von dort aus über einen schmalen Pfad die nächste Höhle zu erreichen. Sich anzuschleichen war sinnlos, den Streit hatte man vermutlich durch den halben Wald gehört. Wahrscheinlich würden die Bestien jeden Moment über sie herfallen. Aber das war Rowarn in diesem Moment völlig egal, so aufgebracht war er.

Nach einer Weile holte Rayem zu ihm auf, und sie setzten den Weg schweigend fort.

Immerhin riss Aninis Bruder sich nun so weit zusammen, dass er Rowarn endlich unterstützte. Er suchte nach Spuren, beobachtete immer wieder die Umgegend und schlug mit stummen Gesten vor, wohin sie als nächstes gehen sollten.

Ungefähr eine Stunde später, als sie nach der letzten Rufmeldung eine kurze Verschnaufpause einlegten, flüsterte Rayem: »Sind wir vom Weg abgekommen? Ist verflixt still hier.« Sie befanden sich mitten zwischen Geröll und Felsungetümen; selbst von hier oben hatten sie kaum einen Überblick. Schwarz und spitz ragten die Nadelbäume um sie herum auf, mit langen, nach unten gebogenen Ästen, deren dicht bewachsene Zweige wie Vorhänge herabhingen. Der Himmel hing bleiern über ihnen, alles war grau und nass.

Rowarn nickte. Er zog aus einer Innentasche seines Mantels einen kleinen Beutel mit Brot und Speck und bot Rayem davon an. Der zögerte erst, stürzte sich dann aber mit aufleuchtenden Augen darauf und kaute mit halb geschlossenen Augen. Olrig hatte Rowarn den Beutel heute Morgen mit einem Augenzwinkern gegeben, wohlweislich in ausreichender Entfernung zu den Velerii: »Damit du unterwegs was Anständiges zu essen hast, Junge, und bei Kräften bleibst.«

Es stimmte, es war äußerst still. Immer noch regnete es, aber längst nicht mehr so stark. Das Rauschen war zu einem leisen Säuseln herabgesunken, ansonsten gab es kein Geräusch, nicht ein leises Knacken oder das Rascheln eines Astes. Es war völlig windstill, der Regen fiel senkrecht herunter. Die Rufe der anderen klangen wie aus weiter Ferne, und Rowarn hatte beim Antworten das Gefühl, seine Stimme würde von den Felsen verschluckt.

»Irgendwie unheimlich«, bemerkte er leise. »Alle Tiere haben sich verzogen. Das ist nicht normal. So viele Stunden, wie hier schon hundert Menschen herumstapfen, hätten sie sich längst daran gewöhnt. Tiere begreifen schnell, wenn die Jagd nicht ihnen gilt, und gehen dann ihrer üblichen Beschäftigung nach.«

Rayem unterbrach plötzlich das Kauen und starrte Rowarn an. »Denkst du ... denkst du ... die Bestien ...«

Rowarn hob unbehaglich die Schultern. »Ich hoffe doch, dass die Häher sie rechtzeitig melden. Sie fliegen normalerweise bei jedem Zucken eines Raubtiers auf und zetern, und das bekommt man sehr weit mit.«

Rayem schluckte hörbar unter Schwierigkeiten. »Leg es mir als Genörgel aus, aber ich habe ein ganz mieses Gefühl.«

Rowarn wollte sich nicht davon anstecken lassen, aber er konnte nichts dagegen machen. Er musste Rayem Recht geben. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. In einer plötzlichen Eingebung sagte er: »Komm.«

»Was? Was ist jetzt schon wieder los?« Rayem blickte ihm entgeistert nach, als Rowarn den Weg zurückeilte, den sie gerade zurückgelegt hatten, und sich anschickte, wieder hinunterzuklettern. »Du bist irre, weißt du das? Wirklich wahr. Wie hat meine Schwester es nur mit dir ausgehalten?«

»Sie hat es nicht mit mir ausgehalten«, erwiderte Rowarn und klammerte sich ächzend fest, als seine Füße auf dem glatten Gestein wegrutschten und er abzustürzen drohte. Seine Fingerknöchel traten weiß hervor, während er sich in den Felsen krallte und seine strampelnden Beine einen neuen Halt suchten. Schließlich fand eine Stiefelspitze Widerstand, und er entspannte sich etwas und atmete keuchend. Sein anderer Fuß tastete nach dem nächsten Halt, und dann setzte er den Abstieg fort.

»Was?«, rief Rayem.

Rowarn verdrehte die Augen. »Was? Was? Schlimmer als ein Spottvogel! Sind das alle Worte, die du gelernt hast?«, gab er nach oben zurück. Er war fast unten, übersprang die letzten zwei Meter und stemmte die Arme in die Seiten. »Jetzt komm schon, du Watfüßer!«

Rayem kam endlich unten an, völlig außer Atem und erschöpft, seine Hände zitterten, und er war blass. »Ich habe gefragt ...«

»Ich weiß, was du gefragt hast«, unterbrach Rowarn. Er atmete einmal tief durch, dann fuhr er fort: »In Ordnung. Reden wir darüber, hier und jetzt, und dann ist die Sache erledigt, ein für alle Mal. Einverstanden?«

Rayem verschränkte die Arme vor der Brust. »Einverstanden«, sagte er mit finsterem Gesicht.

»Also gut. Damit du es weißt: Deine Schwester und ich, wir waren nur ein einziges Mal zusammen, in jener furchtbaren Nacht. Ich war auf dem Fest, aber ich habe mich immer ganz am Rand gehalten. Doch irgendwann, die meisten waren schon gegangen, kam sie zu mir, und sie begleitete mich Richtung Weideling. Ich wusste nicht, warum sie das tat, ich hätte nie von mir aus gewagt, mich ihr zu nähern. Aber ich war glücklich darüber und habe nicht einen einzigen Gedanken daran verschwendet, sie abzuweisen. Niemand, der bei Verstand gewesen wäre, hätte das an meiner Stelle getan.«

»Habt ihr auch ...«

»Was bedeutet das jetzt noch?« Rowarn winkte errötend ab und fuhr hastig fort: »Dann kamen die Bestien und betäubten mich. Ich kam neben ihr zu mir, als es vorbei war. Ich hatte keine Erinnerung mehr, und fast ... glaubte ich, dass es meine Tat war, bis Morwen anhand der Spuren die richtigen Schlüsse zog. Und das ist alles, verstanden? Ich habe ihr keine Schande bereitet. Anini ist zu mir gekommen, und auch, wenn ich mir immer Vorwürfe deswegen machen werde, so trage ich keine unmittelbare Schuld an ihrem Tod. Nur in der Hinsicht, dass ich kein ausgebildeter Kämpfer bin und nicht mit einem Angriff von Bestien rechnete. 

Ich habe sie nicht ausreichend beschützt, das ist wahr. Aber deswegen bin ich hier, um diese Schuld jetzt gutzumachen, und um dadurch wenigstens ihren Tod zu ehren.« Er machte eine abschließende Geste. »Ende der Geschichte und Erklärungen.« Er nickte Rayem kurz zu und lief dann über einen schmalen Tierpfad Richtung Waldrand, ohne weiter auf ihn zu achten.

Wie zuvor auch, kam Rayem nach, und er schwieg. Vermutlich musste er erst einmal über Rowarns Worte nachdenken, um sie richtig zu verstehen. Er war nicht dumm, aber sein Verstand ungeübt und dementsprechend träge. Rayem stampfte ungelenk durch den Matsch und fluchte leise, als der Dreck bis zu seinem Gesicht hochspritzte. Er schien es gründlich satt zu haben. 

»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind? Ich kann die anderen nicht mehr hören. Was hast du vor?«, fragte er, als Rowarn scheinbar ziellos am Buschwerk entlanglief, immer wieder innehielt, Äste und Boden untersuchte und den Weg fortsetzte.

»Nur so ein blöder Gedanke«, antwortete Rowarn. »Was ist, wenn die Bestien längst wussten, dass wir kommen? Wenn sie uns schon seit Tagen beobachtet und nur auf diesen Moment gewartet haben?«

»Um was zu tun?«, fragte Rayem verständnislos. Dann dämmerte es ihm, und er starrte Rowarn erschrocken ins Gesicht. »Götter«, stieß er bleich hervor. »Du meinst, sie ...«

Rowarn nickte heftig. Er schien auf dem richtigen Weg zu sein, wenn selbst Rayem so schnell begriff. »Madin ist nahezu ungeschützt, die meisten sind auf der Jagd unterwegs. Die Bestien können den Weg über die Wiesen genommen haben, wie ich damals. Vielleicht schon gestern Nacht, und sie haben am Morgen in Ruhe abgewartet, bis alle abgezogen waren.«

»Sie haben uns reingelegt ...«, flüsterte Aninis Bruder. Er packte Rowarns Arm. »Aber das würde bedeuten ... meine Mutter ... Vater ...«

»Ich weiß nicht, es ist nur ein Gedanke«, meinte Rowarn. »Ich finde hier keine Spuren, deshalb sollten wir ...«

»Nein!«, unterbrach Rayem ihn panisch. »Nein, wir haben schon genug Zeit vergeudet! Bleib hier oder komm mit, aber ich muss sofort nach Hause!« Und damit rannte er los, alle Erschöpfung und Atemlosigkeit vergessend.

Diesmal folgte Rowarn ihm ohne weitere Einwände. Er achtete nicht mehr auf das Wetter und dachte auch nicht mehr an Morwens strenge Ermahnung, sich nicht ohne Rücksprache zu entfernen. Ohne Pause rannten die beiden jungen Männer über die matschigen, rutschigen Wiesenhügel Richtung Madin, von wachsender Sorge getrieben.



In Madin war es still, die Straßen völlig ausgestorben. Nur der Rauch aus den Kaminen, der umgehend vom Regen zersprengt wurde, zeugte davon, dass sich Bewohner in den Häusern aufhielten.

Die beiden jungen Männer schlichen sich von hinten an den Goldenen Baum heran und nahmen einen Seiteneingang in den langen, leeren Stall, in dem sich nicht ein einziges Pferd aufhielt.

»Wir sollten uns ein bisschen besser bewaffnen«, wisperte Rayem und griff nach einer Sense. Rowarn suchte sich eine Heugabel mit langen Zinken aus, die gut in der Hand lag.

Im trüben Licht huschten sie zum Hauseingang, drückten die Ohren an die Tür und lauschten mit angehaltenem Atem.

Rowarn merkte, dass er in eine Pfütze getreten war, und wich zurück. Dann besah er sich den dunklen Fleck genauer und fühlte, wie sich sein Magen verkrampfte. Er stieß Rayem leicht an, legte den Finger an die Lippen und deutete auf das Blutrinnsal, das unter der Tür herausgetreten war und sich hier zu einer Lache gesammelt hatte.

Sie starrten einander an. Beide waren leichenblass geworden. Rowarn hatte recht gehabt. Die Bestien waren hier. Was sollten sie nun tun?

Rowarn sah die Angst auf Rayems Gesicht, aber nicht um sich, sondern um seine Eltern. War es vielleicht seines Vaters Blut, das ...? Er legte eine Hand auf Rayems Arm und sah ihn bittend an, nichts Voreiliges zu tun. Er spürte die kräftigen Muskeln unter seinen Fingern, die sich steinhart angespannt hatten, und befürchtete das Schlimmste. Doch dann stieß Rayem den angehaltenen Atem aus und nickte langsam. Er bedeutete Rowarn, sich zu ducken und leicht in die Knie zu gehen, so wie er selbst, und die Heugabel bereitzuhalten. Dann öffnete er langsam und vorsichtig die Tür.

Sie zuckten beide zurück, als sie dabei eine Leiche beiseiteschoben – ein für ihn Unbekannter, wie Rowarn in schuldbewusster Erleichterung erkannte. Dann erhaschten sie einen Blick auf den Innenraum der Gaststube. Rowarn entdeckte Rayems Vater Daru in der Nähe des Tresens, und nicht weit von ihm entfernt einige ängstlich zusammengedrängte Menschen: zwei Greise, ein kleiner Junge und eine ältere Frau.

Und dann sah er Hallim, in den Klauen eines ... Wesens. Es hatte den Rücken zum Stall gewandt, was ein Glück für die beiden war. Ein Bär, dachte Rowarn zuerst. Das Wesen stand aufrecht, und es hatte die Statur, die Größe und die Masse eines ausgewachsenen Braunbärs, allerdings längere, stämmige Beine, die ein dauerhaft aufrechtes Gehen erlaubten.

Rayem schlüpfte durch den Türspalt und suchte rechts Deckung hinter einem Fass neben dem Tresen. Rowarn folgte ihm nach einer Weile, versteckte sich jedoch auf der anderen Seite hinter einem umgestürzten Tisch.

Der ganze Raum war verwüstet. Zersplitterte Stühle, Tische, Krüge und Teller waren durcheinandergeworfen, und dazwischen lagen blutüberströmte, entstellte Leichen.

Die Bestie hielt Hallim mit einer krallenbewehrten Klaue am Hals fest und zischte Daru heiser an, mit schrecklich fremder und kaum verständlicher Stimme, wobei sie die Silben seltsam betonte: »Wän duu veernünpftig biist, wirrd iher nichttss geschehhenn ... nochh nichtt.«

»Tu – es – nicht ...«, stieß Hallim abgehackt hervor und rang pfeifend nach Luft. »Sie ... töten uns ... sowieso alle ...«

»Lass sie frei!«, flehte Daru. »Ich tue alles, was du verlangst, aber verschone sie!«

Rowarn hatte genug gehört, und er erinnerte sich nur zu deutlich an die warnenden Worte des Fürsten. Er warf einen Blick zu Rayem, der bereits zu ihm herüberblickte, und war erstaunt, ihn völlig verändert zu sehen. Die stumpfsinnige Angriffslust war wie weggewischt, die Augen blitzten klar und zornig, seine Miene zeigte Entschlossenheit. Er bewegte leicht den Kopf Richtung Bestie und zeigte Rowarn mit Gesten an, dass sie gemeinsam angreifen sollten.

Rowarn nickte, und Rayem hob drei Finger. Seine Lippen formten stumm die Zahlen, als er einen Finger knickte, dann den zweiten, den dritten ...

Unter lautem Gebrüll stürmten sie von zwei Seiten auf die Bestie zu. Rayem schwang die Sense, und Rowarn hielt die Heugabel wie eine Lanze vor sich.

Die Bestie ließ Hallim los und fuhr zu ihnen herum, und Rowarn hätte beinahe gestockt. Dies war nicht der Kopf eines Bären, oder überhaupt eines Tieres. Das flache, breite Gesicht war vollkommen haarlos. Starke Brauen wölbten sich über zwei überproportional großen, rotbraunen Augen mit geschlitzten Pupillen; die Nase war stumpf und breit wie bei einer Katze, und das Maul ... reichte fast von einem Ohr zum anderen, besetzt mit drei Reihen messerscharfer, spitzer Zähne. 

Die Bestie stieß ein donnerndes Gebrüll aus und hob die fellbedeckten, muskulösen langen Arme, doch in diesem Moment waren die beiden jungen Männer schon bei ihr. Ohne nachzudenken, rammte Rowarn ihr, immer noch schreiend, die drei Zinken der Gabel in den Bauch, während Rayem ihr von der anderen Seite, nicht minder brüllend, die Sense in die Lende trieb.

Die Wucht des Aufpralls riss Rowarn von den Beinen, ebenso Rayem, der die Sense loslassen musste. Blut spritzte aus den Wunden hervor, und Rowarn war sicher, dass die Bestie damit dem Ende nahe war.

Doch weit gefehlt. Der Fürst hatte sie nicht umsonst eindringlich gewarnt. Die Bestie stieß einen knurrenden, schmerzlichen Laut aus und schüttelte sich unwillig. Dann packte sie Heugabel und Sense und riss sie aus sich heraus, ohne auf die klaffenden Wunden, aus denen Blut hervorsprudekte, zu achten, die unter dem durchlöcherten Fell sichtbar wurden. Rowarn hatte gerade noch Zeit, sich hinter einen Tisch zu flüchten, als der hölzerne Stab der Heugabel krachend auf den Boden schlug und zersplitterte, während die Sense gleichzeitig um Haaresbreite über Rayems Kopf hinwegsauste. Aninis Bruder sprang auf und hechtete hinter den Tresen zu seinem Vater.

Rowarn hatte nicht vor, hinter dem Tisch zu sterben. Er kroch unter den zupackenden Armen der Bestie hindurch, packte den Stumpf mit der Heugabel und stieß ein zweites Mal zu, verfehlte diesmal aber. Die Bestie war beängstigend schnell, wich seinem Stoß aus, kam dabei jedoch dem Tresen näher. Rowarn hatte Daru und Rayem genug Zeit verschafft, sich mit mächtigen Schlachtermessern zu bewaffnen. Gemeinsam sprangen sie über die Holzplatte und trieben die scharfen Klingen in die Schultern des Wesens.

Diesmal brüllte die Bestie vor Schmerz und Wut auf, wirbelte herum und fegte die beiden Menschen mit einem einzigen Armschlenkern quer durch den Raum bis zur Wand, wo sie ächzend aufprallten und übereinander zu Boden stürzten.

Rowarn war jedoch noch da, und er rannte, den Stumpf der Gabel immer noch wie eine Lanze angelegt, seitlich in die Bestie hinein. Diesmal schaffte er es, mit aller Kraft zuzustoßen, bevor auch ihn ein gewaltiger Hieb wie ein welkes Blatt durch die Luft schleuderte. Er krachte in eine zusammengestürzte Tischgruppe, schlug sich den Kopf an einer Kante und blieb benommen auf dem Rücken liegen.

Die Bestie war deutlich langsamer geworden, was bei den schweren Verletzungen kein Wunder war. Aber noch brach sie nicht zusammen. Das Blut strömte aus vielen Wunden, und blutiger Schaum quoll aus ihrem Maul. Doch dazwischen blitzten scharfe Zähne, als sie auf Rowarn zuwalzte.

Der junge Nauraka versuchte, sich zu bewegen, sich irgendwie hinter den Trümmern zu verkriechen, aber ihm schwindelte zu sehr, und er konnte seine Arme und Beine nicht sortieren. Hilflos blieb er liegen und starrte auf den herannahenden Tod.

Da zerriss ein polterndes Bersten und Krachen die lähmende Stille. Rowarn sah verschwommen, wie die große, massive und schwere Gasthaustür aus den Angeln flog, als hätte jemand mit dem Finger ein Staubkorn weggeschnippt. Er bemerkte ein Paar wirbelnde, schwarze Hufe, während ein Ruf ertönte, und dann sah er etwas durch die Luft kreiseln.

Die Bestie blieb abrupt stehen, als wäre sie gegen eine Wand gerannt. Genau zwischen den Augen steckte mehr als fingertief eine funkelnde Kriegsaxt. Ein Stöhnen drang aus der Kehle des Wesens, dann kippte es wie ein gefällter Baum auf den Rücken, riss dabei einen weiteren Tisch um und regte sich nicht mehr.

Ein großes Durcheinander brach um ihn herum aus, doch Rowarn nahm alles nur wie durch Watte und Nebel wahr. Er sah, wie Hallim zu Daru und Rayem stürzte und hörte sie weinend nach ihnen rufen. Eine Menge Menschen strömten herein, und alle redeten oder schrien durcheinander, fingen an, die Trümmer beiseitezuschieben und die Leichen aufzusammeln.

Dann beugte sich jemand über Rowarn, und er erkannte das bärtige, ergrauende Haupt von Olrig, dessen blaue Augen erfreut aufleuchteten. »Na also, Junge, du bist ja doch noch bei uns«, brummte er, und Rowarn musste sich anstrengen, um ihn zu verstehen. Er wollte etwas sagen, aber seine Zunge gehorchte nicht. Der Zwerg berührte seine Haare, betrachtete dann besorgt seine Finger, lächelte in gütiger Hast. »Das kriegen wir schnell wieder hin, Kleiner.«

Rowarn merkte, wie Olrig die Arme unter ihn schob und ihn dann mühelos hochhob, sorgfältig und behutsam, wie er mit einem vollen Bierkrug umzugehen pflegte. Der Kriegskönig trug ihn nach draußen auf die Straße, wo im Gegensatz zu vorher lebhaftes Treiben herrschte. Dann erblickte Rowarn Schneemonds lichtes Gesicht, als sie sich über ihn beugte, und gleich darauf lag er in ihren starken Armen, wie einst als Kind, völlig geborgen.

Endlich gehorchte ihm auch seine Zunge. »Der ... der Regen hat aufgehört«, stieß er hervor.

Schneemond lächelte. »Ja«, sagte sie. »Das ist mir auch schon aufgefallen.«

Rowarn grinste sie an. Ihre Mähne war tropfnass und hing in Strähnen an ihr herunter, und ein heller Lichterkranz erstrahlte um ihr Haupt, als die untergehende Sonne hinter ihr durch die Wolken brach. »Schön ...«, murmelte er.

»Das war gut, Junge«, sagte Olrig neben ihm und tätschelte seinen Arm. »Wirklich, verdammt gut gemacht. Aber jetzt darfst du in Ohnmacht fallen, ich werd's auch keinem verraten.«

Rowarn gehorchte. Er konnte gar nicht mehr anders.



Als Rowarn zu sich kam, war es immer noch Tag, wenngleich später. Sonnenlicht fiel in schrägen Strahlen durch feine Lücken und Spalten im Dach und den Wänden und verbreitete eine tröstliche Atmosphäre. Er fand sich auf einem Strohlager im Stall des Goldenen Baums wieder. Vorsichtig richtete er sich leicht auf und tastete nach seinem Hinterkopf, in dem jemand dumpf auf Trommeln einzuschlagen schien. 

Rowarn trug einen Verband, und auf der Kopfwunde hinten waren Blätter und eine Salbe aufgetragen. Er fühlte die lindernde Kühle, und als er langsam den Kopf zur Seite bewegte, ließ der Schwindel rasch nach. Neben ihm lag Rayem, dann dessen Vater, gefolgt von weiteren Verletzten. Hallim kauerte zwischen ihrem Sohn und ihrem Ehemann. Sie hatte aufgehört zu weinen und hielt die Augen geschlossen, in ein stilles Gebet versunken.

Rayem schlug die Augen auf, als Rowarn ihn leicht anstieß, und zeigte dann ein ungewohnt schüchternes Lächeln. »He«, wisperte er.

»He«, gab Rowarn flüsternd zurück. »Geht’s wieder?«

»Mhmm. Und du?«

»Ein bisschen Kopfweh. Und meine Muskeln fühlen sich an, als hätte einer mit einem Hammer daraufgehauen.«

»Geht mir ähnlich.«

Sie setzten sich auf und erblickten Schneemonds hell schimmernde Gestalt, die langsam die Reihen abschritt und sorgfältig alles kontrollierte. Als sie merkte, dass die beiden jungen Männer bei Bewusstsein waren, kam sie auf leisem Hufschlag rasch näher. »Wie fühlt ihr euch?«

»Bestens«, antwortete Rowarn.

»Wie neugeboren«, behauptete Rayem.

Die Heilerin musterte sie prüfend; ihrem scharfen Blick konnte man nichts vormachen. Aber sie nickte lächelnd. »Was ihr jetzt noch spürt, kann ich euch nicht nehmen. Das ist der Tribut, den ihr für Überanstrengung zahlen müsst. Aber ihr könnt aufstehen, wenn ihr wollt. Die anderen warten draußen schon auf euch. Und ihr wollt sicher wissen, was passiert ist.«

»Allerdings«, stimmte Rowarn zu und fühlte sich nun wirklich viel besser.

»Kann's kaum erwarten«, bestätigte Rayem.

Ächzend und sich gegenseitig stützend kämpften sie sich auf die Beine und stolperten zum Ausgang. Unterwegs stieß Rayem Rowarn leicht an und sagte: »Das macht uns aber noch lange nicht zu Freunden, klar?«

»Freunde, wir? Niemals!«, wehrte Rowarn entsetzt ab.

»Gut, dann sind wir uns ja einig«, brummte Aninis Bruder. »Wollte ich nur geklärt haben.«

»Das war gut so. Dann gibt’s später kein Missverständnis.«

Draußen stand Kriegskönig Olrig, auf eine mächtige Streitaxt gestützt. Rowarn erkannte sie wieder, zuletzt hatte sie in der Stirn einer Bestie gesteckt. Olrigs Gesicht hellte sich auf, als er Rowarn sah. »Hast du dich wieder erholt?«

»Einigermaßen.« Rowarn drückte die Hand des Zwerges.

»Dann kommt, ihr sollt alles erfahren«, forderte Olrig sie auf, und sie schlugen den kurzen Weg zum Marktplatz ein. Unterwegs erklärte er: »Der Fürst kam auf einmal auf den Gedanken, dass die Bestien den Spieß umdrehen könnten. Ich bin mit Schneemond, Schattenläufer und der Hälfte der Leute umgekehrt, aber wie es scheint, wart ihr beide Schlauköpfe schon vor uns hier und habt gerade rechtzeitig eingegriffen.«

»Eher seid Ihr noch im rechten Moment gekommen, denn dieses Mistvieh wollte einfach nicht verrecken«, warf Rayem ein. »Es war dabei, uns fertigzumachen, nicht umgekehrt.«

»Wer weiß.« Olrig schmunzelte vergnügt. »Um es kurz zu machen: Es waren fünf, wie Morwen vermutet hatte. In Madin waren drei von ihnen, die wir alle nahezu gleichzeitig erledigt haben. Das Weibchen mit den Jungen hat Noïrun in ihrer Höhle erwischt, und vor etwa einer Stunde hat Schattenläufer den Anführer gefunden.«

»Was sind das nur für Wesen ...«, fragte Rowarn.

»Grimwari, mein junger Freund«, antwortete Olrig. »Und dort«, er streckte die Hand aus und deutete auf die Mitte des Platzes, »ist Grimwar selbst.«

Die halbe Stadt war versammelt. Rowarn entdeckte die Schar, die mit erhobenen Waffen den Fürsten umringte. Ihre angespannte Haltung zeigte deutlich, dass sie auf alles gefasst waren und sofort handeln würden.

Der Grund dafür stand in der Mitte des Kreises, und Rowarn lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter, als er die riesige Bestie sah. Noch größer als das Untier im Goldenen Baum, noch mehr Masse, und das grausame Gesicht ... voller Wut und Hass, gleichzeitig voller ungezügelter Wildheit und ... noch mehr, viel mehr. Rotbraune Augen, die voller Leben waren, wissend, hellwach und alt. Uralt. Dieses Wesen war mehr als nur eine Bestie, erkannte Rowarn erschrocken. Es gehörte zu den Alten Völkern.

Die Bestie war in mächtige Ketten gewickelt, mit schweren Ringen und Schlössern gesichert; sie konnte sich kaum rühren.

»Bei Lúvenors Licht«, flüsterte Rowarn. »Das ... hätte ich nie erwartet. Was wird der Fürst mit ihm tun?«

»Komm«, sagte Olrig. Er bahnte sich seinen Weg auf den Fürsten zu, und die beiden jungen Männer folgten dem Kriegskönig. Sie wurden aufgehalten, als Morwen sie entdeckte und sich zu ihnen durchdrängelte.

»Rowarn! Rayem! Das war wirklich gut!« Sie klopfte beiden auf die Schulter. »Hätte ich nicht gedacht, wirklich. Hat sogar dem Fürsten so was wie ein Lächeln abgerungen, nachdem er sich wieder beruhigt hatte.«

»Beruhigt?«

Sie grinste. »Er war ziemlich außer sich, dass ich nicht besser auf euch aufgepasst habe, weil ihr auf einmal nicht mehr auffindbar wart, und ... nun ja, den Rest weißt du besser als ich.« Sie winkte Rayem. »Komm besser mit mir. Der Fürst ist immer noch nicht sonderlich gut auf dich zu sprechen. Zumindest hat er mir gesagt, dass er nur Rowarn sehen will.«

»Ist mir recht«, brummte Rayem. »Ich komme mit hochgestellten Persönlichkeiten sowieso nicht zurecht.«

Rowarn verzog keine Miene, als er sich Olrig wieder anschloss. Dieser führte ihn durch den Kreis zu Noïrun und hielt dabei respektvollen Abstand zur Bestie. Larkim der Strenge kauerte, flankiert von zwei Stadtvätern, auf einem wackligen Stuhl neben dem Fürsten.

»Noïrun, schau, wen ich dir bringe«, verkündete Olrig. »In einem Stück und noch alles dran, was keine schlechte Leistung ist für’s erste Mal.«

Der Fürst wandte sich ihnen zu, und für einen Moment ruhten seine grünen Augen auf Rowarn, mit einem Ausdruck, den der junge Nauraka nicht deuten konnte. »Sieh ihn dir an, Junge«, sagte er und wies auf die Bestie. »Die Ursache deines Leids – und des Leids, das über diesen Ort hereingebrochen ist.«

Rowarn zögerte, er wollte diesem Untier nicht zu nahe kommen.

»Keine Sorge, er ist gut bewacht.« Noïrun zeigte zu Schattenläufer, der nicht weit entfernt mit vor der Brust verschränkten Armen dastand, und den Rowarn erst jetzt bemerkte. »Stelle dich Grimwar, denn dies war es doch, wonach du verlangtest. Rache, richtig?«

Rowarn presste die Lippen aufeinander. Der kritische Tonfall entging ihm nicht, und er dachte bei sich, dass es ihm in Wirklichkeit um eine ganz andere Rache ging, aber dass dies … doch ähnlich war und wohl die Reifeprüfung dafür darstellte. Ein Moment der Entscheidung, der Scheideweg zu seinem künftigen Leben.

Langsam näherte sich Rowarn der Bestie, bis zu dem Punkt, wo er sich noch weit genug entfernt glaubte, um sicher zu sein, es aber trotzdem schien, als wären sie beide allein und unter sich.

Das Geschöpf überragte den hochgewachsenen jungen Mann um mehr als zwei Haupteslängen. Sein Fell war von einem dunklen Goldbraun, an den Rändern um sein Gesicht jedoch wies es einen Kranz grauer Haare auf.

»Du warst es also ...«, flüsterte Rowarn. Er konnte die schreckliche Aura spüren, die von diesem Wesen ausstrahlte, und plötzlich bemerkte er etwas an seinem Hals, einen kurzen Druck. Seine Hand zuckte hoch, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne, als ihm bewusst wurde, dass es nur eine Erinnerung war.

»Der Junge. Du.« Die Stimme der Bestie klang rau und heiser, von einem tiefen, grollenden Unterton begleitet. Sie sprach zwar mit einem fremden Akzent, aber gut verständlich und deutlich, anders als ihr Untergebener im Gasthaus. »Das Leuchten in der Nacht. Ich verschonte dich. Du wirst es deshalb nicht zulassen.«

»Wer bist du?«, fuhr Rowarn leise fort, ohne auf den letzten Satz einzugehen.

»Ich bin Grimwar«, antwortete die Bestie. »Der Mondwandler.«

Rowarn verstand. »Deshalb konnte ich euch nicht bemerken. Dun und die Deinen, die unter deinem Schutz standen, im Einflussbereich deiner Aura - ihr wart nicht mehr als flüchtige Schemen, die zwischen Licht und Schatten fließen.« 

Grimwar fragte leise: »Sie sind tot, nicht wahr?«

Rowarn blickte zu dem Fürsten, der nah genug war, um die Frage hören zu können. Er wusste, wen Grimwar meinte. Nicht die Grimwari, seine plumpen Anhänger. Auch Noïrun begriff es, denn er nickte Rowarn bestätigend zu. Wieder sah der junge Nauraka dem monströsen Geschöpf in die uralten, klugen Augen. »Ja.«

Ein Laut entfuhr Grimwar, wie ein tiefer Schmerz, und er ließ das riesige, schwere Haupt sinken. »Blattwisper war meine Gefährtin seit über dreitausend Jahren«, keuchte er. »Dies war unsere erste Brut seit langer Zeit.«

So alt wurden diese Wesen? Selbst für ein Altes Volk war das ungewöhnlich. Rowarn begriff Grimwars Schmerz, doch er empfand nur Wut.

Er ballte die Fäuste und näherte sich der Bestie. Die Brut war nur deswegen möglich gewesen, weil Grimwar die Mädchenherzen verschlungen hatte, sie hatten ihn mit der nötigen Lebenskraft und Fortpflanzungsfähigkeit ausgestattet. Die Bestie war alt und verzweifelt, das war deutlich zu erkennen, hatte keinen anderen Ausweg gesehen, um wieder zu Nachkommen und Macht zu gelangen, aber ... »Nicht zu diesem Preis«, stieß Rowarn hasserfüllt hervor. »Dafür kann es niemals eine Rechtfertigung geben, noch kann es durch Reue oder Bedauern gutgemacht werden. Ihr habt alle bekommen, was ihr verdient habt.«

»Hältst du dies für gerecht?«

»Du wagst es, das zu fragen?« Rowarn konnte sich kaum mehr zurückhalten. Er wandte sich ab, und der Fürst gab ein Zeichen, woraufhin die Schar ihre Waffen bereit machte.

Rowarn hörte, wie Schattenläufer scharf einatmete. 

Für einen Augenblick kam ihm dieses Geschehen dadurch auf einmal sehr unwirklich vor, wie ein Nebel ferner Vergangenheit. 

Die Sonne war fast untergegangen und schickte ihre letzten Strahlen über den Platz. Die feuchte Luft flirrte, und die regennassen Dächer glitzerten und glänzten. Vor dem tiefen Lichtstrahl hoben sich nur noch Schatten ab, gesichtslose Schemen, keine Menschen mehr, die er kannte.

Aber Grimwar war wirklich, wie er dort stand, von rotem Licht übergossen, die Fratze wieder stolz erhoben, dennoch in Ketten gebunden. Ein Geschöpf Lúvenors.

»Nein!«, rief Rowarn.

Die Soldaten hielten verblüfft inne. Fürst Noïrun legte den Kopf leicht schief, die Lider schlossen sich halb über das tiefe Grün.

»Nein«, wiederholte Rowarn. »Grimwar hat recht, ich werde es nicht zulassen.« Sein Hass war zerstoben, Mitleid erfüllte ihn stattdessen, und das nur, weil er den Atemzug seines Muhmen gehört hatte, in dem … eine Bitte gelegen war. Rowarn war seinen Zieheltern so innig verbunden, dass es keiner Worte bedurfte, um Schattenläufer zu vestehen, zu erkennen, was ihn bewegte. Und er begriff, was diese beiden Geschöpfe der Alten Völker miteinander verband. 

Er drehte den Kopf zu dem Velerii, dessen Blick unverwandt auf Grimwar gerichtet war. »Diese Bestie ist einer der Alten«, fuhr Rowarn fort und wies auf Schattenläufer. »Sie ist von ähnlicher Art wie mein Vater, ein Geschöpf Lúvenors aus alter Zeit, als es noch keine Menschen in diesem Land gab. Nur Schattenläufer hat das Recht, über Grimwar zu urteilen und ihn zu bestrafen. Wir hingegen können es nicht tun.« 

Mutig stellte er sich erst dem eisklirrenden Blick Larkims, dann dem Fürsten. »Wir dürfen es nicht tun. Er ist gebrochen, und er ist allein. Vielleicht ist er sogar der Letzte, wer weiß? Er ist alt, seht Ihr das nicht? Er kann uns nicht mehr schaden. Deshalb kam er hierher in dieses Tal, weil es keinen anderen Platz mehr für ihn gibt. Er träumte von einem neuen Anfang.« 

Rowarn versuchte, seine Gedanken in die richtigen Worte zu fassen. »Was Grimwar tat, war unvergleichlich grausam. Doch es kann nicht durch seinen gewaltsamen Tod gesühnt werden. Wir können durch seine Hinrichtung diese schrecklichen Untaten nicht ungeschehen machen oder vergelten. Er ist einer der Alten, und wir ... sollten Gnade erweisen. Schickt ihn ins Exil, in die einsame Verbannung für den Rest seines Lebens, wo er jeden Tag und jede Nacht daran erinnert wird, was er getan und was er verloren hat. 

Wir haben schon ein Blutgericht gehalten, indem wir seine Frau und seine Kinder getötet haben. Nun muss Grimwar denselben Schmerz durchleiden wie wir. Das mag eine schlimmere Strafe sein als der Tod, der für ihn wahrscheinlich eher Erlösung wäre. Wir aber sollten Großmut zeigen und uns damit zufriedengeben.« 

Rowarn blickte den Fürsten bittend an. »Und ... er verschonte mich. Das ... schulde ich ihm: mein Leben für seines.« Es war eine Sache der Ehre, die war oder nicht. So hatten es ihn seine Muhmen gelehrt.

Der Fürst musterte Rowarn durchbohrend. Dann blickte er zu Schattenläufer, der ihn ansah und auf dessen Gesicht die stumme Bitte lag. Noïruns Augenbrauen zogen sich finster zusammen, und er rieb sich den Bart, während er nachdachte.

»Nehmt ihn«, sagte er schließlich zu Schattenläufer. »Unter der Bedingung, dass er niemals mehr anderen Schaden zufügen kann, und er darf auch nie wieder frei durch die Lande ziehen. Er muss an einem sicheren Ort in Inniu verwahrt werden, wo ihn niemand finden kann, wo er sein Dasein bis zu seinem Ende allein und völlig abgeschieden fristen soll. Das müsst Ihr mir schwören.«

»Bei allen Kindern Lúvenors, das schwöre ich bei meinem Leben«, antwortete Schattenläufer, und die Erleichterung in seiner Stimme war deutlich zu hören. Er öffnete die Arme und zog an dem Ende der Kette, das er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, ohne dass es jemandem aufgefallen war. »Gehen wir, alter Mann, und schnell, denn die Kurzlebigen haben keine Geduld, und ich kann sie in diesem Fall verstehen.«

Grimwar sprach kein Wort mehr. Widerstandslos folgte er dem Pferdmann in mühsamen, hoppelnden Schritten, unter dem demütigenden Hohngelächter der Stadtleute, die auf diese Weise ihre Angst und die Anspannung verloren.

Madin war von einem bösen Fluch befreit, und sonnigere Tage sollten folgen, ohne den düsteren Schatten einer Erinnerung voller Angst und Schrecken.

Ohne auf die enttäuschten und verständnislosen Gesichter seiner Schar zu achten, rief der Fürst: »Ein gutes Ende für diesen Tag, und Lúvenor selbst schickt uns sein Wohlwollen durch sein sanftes Licht nach all der Nässe! Dies soll gefeiert werden, und auch wenn die Gaststube heute nicht mehr so gemütlich sein mag wie gestern noch, so sollen doch alle einen Platz darin finden! Wirtssohn, wo steckst du?«

Rayem schob sich mit besorgter Miene nach vorn. »Ich bin Rayem, Herr«, sagte er und versuchte, seine arg mitgenommene Kleidung in Ordnung zu bringen und einigermaßen Haltung anzunehmen.

»Wie auch immer«, sagte Noïrun. »Sorge dafür, dass die Leute irgendwie sitzen können, schenke Bier aus und verteile Brot und Speck. Die ganze Stadt war heute beteiligt, und alle waren gleichermaßen tapfer und standen treu zueinander. Wenn dein Vater die Hälfte übernimmt, so trage ich mit Freuden die andere Hälfte der Zeche. Denn dies haben sich alle verdient, und der Schrecken sollte mit einer Feier beendet werden!«

Ein vielfacher Jubelschrei folgte dieser Ansprache, und Rayem beeilte sich, dass er ins Gasthaus kam, um die Anweisungen zu befolgen und seinerseits Anordnungen zu geben. Innerhalb weniger Augenblicke war der Platz leer, auch die Schar war in den Goldenen Baum gestürmt. Larkim wurde von den beiden Stadtvätern langsam hinterhergeführt. Er würdigte weder Rowarn noch Noïrun eines Blickes, murmelte aber etwas von einem Krug Bier, den er sich durchaus verdient hätte, auf Kosten des Fürsten.

Lediglich Olrig wartete noch, die Hand auf dem Axtgriff ruhend.

Rowarn blieb stehen, schüchtern und mit hochgezogenen Schultern, als sich der Fürst ihm näherte, den Blick jedoch nicht auf ihn, sondern in weite Ferne gerichtet.

»Je mehr ich dich kennenlerne, junger Rowarn«, sagte er langsam, »umso weniger weiß ich, was ich von dir zu halten habe.«

»Ich bitte um Vergebung, mein Herr«, murmelte Rowarn und starrte auf seine Stiefelspitzen. Aus dem Gasthaus drang Gesang und fröhliches Gelächter, was Rowarn so fern lag wie ein Stern am Himmel.

Der Fürst fuhr fort: »Ich erhielt Kunde, dass ab morgen neue Rekruten hier eintreffen. In zwei Tagen werden wir aufbrechen. Bis dahin entscheide dich, und bedenke wohl: Danach gibt es kein Zurück mehr, egal was du wählst.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte er sich ab und steuerte auf das Gasthaus zu. Olrig beobachtete Rowarn, der unruhig verharrte.

»Kommst du mit, Junge?«, fragte der Zwerg freundlich.

Rowarn dachte an Schattenläufer und Grimwar, die irgendwo zwischen den Hügeln unterwegs waren, Angehörige der Alten Völker, wie es nicht mehr viele gab auf dieser Welt. Sie alle trugen eine schwere Last auf den Schultern. Er beneidete seinen Muhmen nicht um das, was er entscheiden musste, und er wusste, er würde niemals fragen, wie Schattenläufer letztendlich mit der Bestie verfahren war. Ob lebend oder tot, von Grimwar würde niemand mehr etwas erfahren, so viel jedenfalls war sicher.

Und er dachte an Schneemond, die im Stall mit der Kraft der Alten die Wunden heilte, und an seine eigene Entscheidung, die neu zu fällen ihm der Fürst gewährt hatte, aus welchem Grund auch immer.

Er schüttelte den Kopf. »Geht nur«, antwortete er. »Ich werde meiner Mutter helfen, sie wartet bestimmt schon auf mich.«

Olrig strich sich den Bart. »Sicher«, sagte er. »Ich wünsche dir eine ruhige Nacht ohne Träume, Rowarn, und Frieden mit dir selbst. Wir sehen uns morgen.«

Rowarn sah ihm nach, bis Olrig durch die zerbrochene Tür getreten war, und hörte das laute Hallo zu seinem Empfang.

Dann machte er sich auf den Weg zum Stall.