Kapitel 20

Die Gefangenen der Splitterkrone


Rowarn schrie noch, als ihn ein eiskalter Schwall Wasser im Gesicht traf. Hustend und spuckend fuhr er auf und starrte auf Gonarg, der ihm eine kräftige Ohrfeige versetzte.

»Komm endlich zu dir, Schwachkopf!«, schnauzte der Verräter ihn an und schlug ein zweites Mal zu. »Du machst mir noch alle rebellisch mit deinem Geschrei!«

Rowarns Wangen brannten, und er hob die Hand, während er versuchte, weiteren Schlägen auszuweichen. »Aufhören!«, keuchte er erstickt. »Ich bin ... ich bin ruhig!«

»Na endlich«, brummte der einäugige Mann. »Ich bekomme noch Ärger mit Heriodon, immerhin muss ich für dich geradestehen.«

»Dann sollte ich doch weitermachen«, meinte Rowarn. Er richtete sich auf und sah sich um. Durch die Gitterstäbe sickerte der schwache Lichtschein eines neuen Morgens, und das Lager erwachte. Die Hammerschläge des Schmieds dröhnten, Reiter galoppierten vorüber, und Soldaten riefen sich Grüße und Anweisungen zu.

»Ist er endlich ruhig?«, rief ein Warine vom Eingang her. »Was für ein Schreihals. Hat Angst vor ein bisschen Dunkelheit! Seid ihr Menschen alle so verweichlicht?«

»Ich gewiss nicht«, antwortete Gonarg. »Aber der hier ist wie ein Zuckerpüppchen aufgewachsen.«

»Dann sollten wir ihn vielleicht ein bisschen erziehen?«

»Das ist allein General Heriodons Angelegenheit, der Knirps ist schließlich sein Knappe.« Gonarg zog Rowarn hoch und schubste ihn vor sich her. »Aber zuerst wirst du gründlich gereinigt, du stinkst wie ein mottenzerfressenes Bärenfell!«



In den nächsten Tagen bemerkte Rowarn eine Veränderung. Die Gefangenen wurden nicht mehr zur Arbeit abkommandiert, sondern neu eingekleidet und zu den Waffenmeistern geschickt. Das wäre die Gelegenheit, dachte der junge Nauraka bei sich, doch als er wiederum versuchte, mit einem der Gefangenen zu reden, war es inzwischen unmöglich geworden.

Sie hatten alle denselben leeren Blick, trüb, fast leblos. Als wäre ihr Bewusstsein aus ihnen gesaugt worden.

Und dann werden sie neu befüllt, begriff Rowarn entsetzt und spürte ein Würgen in der Kehle. Hier ist Magie am Werk. So also gedachte Heriodon, neue Rekruten zu bekommen! Und genau dasselbe Schicksal blühte auch Rowarn, da brauchte er sich nichts vorzumachen.

»Na, was siehst du da?«

Rowarn fuhr zusammen, als er eine bekannte Stimme hörte. Mit wildem Blick starrte er in Gaddos feixendes Gesicht. »Wo ist dein Kumpel Moneg?«, zischte er. »Das Schwein von Verräter? Ist er nicht deiner Schleimspur gefolgt?« Nein, diesen Mann würde er nicht schlagen. Das war bloß ein Mitläufer, der sich in Abhängigkeit des starken, aggressiven Moneg begeben hatte. Moneg und Gaddo, die Unzertrennlichen, der Schläger und sein Schatten. Gaddo besaß keinen eigenen Gedanken mehr und war sich wahrscheinlich nicht einmal bewusst, wie armselig er war. Dass er seinem Freund auch noch hierher gefolgt war, ins Lager des Feindes, konnte nur mit grenzenloser Dummheit erklärt werden. Dafür würde Rowarn sich keinen Ärger einhandeln.

»Mach dir lieber Sorgen um dich«, versetzte Gaddo. Er wies auf die Gefangenen, die an ihnen vorüberschlurften. »Das wird auch dir bald blühen.«

Rowarn lachte verächtlich. »Und dir, du Einfaltspinsel! Glaubst du ernsthaft, Heriodon lässt dir deinen Willen? Du bist doch bloß ein armseliger Mitläufer, der sein Fähnchen nach dem Wind dreht! Und deinen feinen Verräterfreund wird er ebenso willenlos machen, damit Moneg nicht bei nächster Gelegenheit ihn hintergeht.«

Gaddo wurde ein wenig blass, gab sich aber selbstbewusst. »Unsinn, Freiwillige sind davon ausgenommen. Und ich bin einer davon. Ich habe keinen Verrat begangen, das war Moneg allein. Wir haben den Eid bereits geleistet und sind an ihn gebunden.«

»So wie an den von Ardig Hall!«, rief Rowarn. »Wer einmal einen Eid bricht, hält sich danach an überhaupt keinen mehr. Das weiß auch der General!«

»Und was ist mit dir, Gonarg?«, fragte Gaddo, als der Einäugige hinzukam. »Du bist der schlimmste Verräter von allen.«

Gonarg grinste boshaft. »Gaddo, du bist wirklich ein hoffnungsloser Dummkopf. Natürlich kommt ihr auch an die Reihe. Alle, die einst zu Ardig Hall gehörten, werden bald echte Dubhani sein, Lichtlose, die nur noch Befehlen gehorchen, mit einer Ausnahme: mir. Denn ich habe den Auftrag, den Fürsten zu finden. Ich werde bald aufbrechen.« Er bohrte seinen Blick in Rowarn, ehe er weiterging.

»D-das kann er nicht machen«, stotterte Gaddo verstört.

»Verrat mir eins, Gaddo: Wieso bist du Soldat geworden?« Rowarn, der keine Antwort erwartete, wandte sich kopfschüttelnd von ihm ab und beachtete ihn nicht weiter, denn sein Herz sang. Noïrun war also immer noch frei und am Leben. Es gab doch Hoffnung!



Heriodon kümmerte sich persönlich um die Ausbildung der neuen Rekruten. Rowarn sah ihn dieser Tage nur selten, und wenn, dann in Gesellschaft eines kürzlich eingetroffenen großen, schwarzen Dämons mit Stierkopf und gewaltigen Hörnern. Der Dämon führte wohl im gleichen Rang die Aufsicht in diesem Lager, denn sobald er Befehle bellte, beeilten sich alle, sie auszuführen. Selbst Gonarg bewegte sich dann schneller und nicht mehr so selbstsicher. 

Rowarn beobachtete den Dämon eindringlich, versuchte, irgendetwas Vertrautes an ihm zu entdecken. War das möglicherweise Nachtfeuer? Sollte Rowarn seinem ersehnten Ziel endlich nahe kommen? Es schüttelte ihn bei dem Gedanken, dass diese Monstrosität sein Vater sein könnte. Nein, nicht darüber nachdenken. Es geht nur um Rache, nichts sonst. Eine andere Verbindung gibt es nicht.

Hoffentlich fand er noch heraus, um wen es sich bei dem Dämon handelte. Rowarn ließ keine Gelegenheit aus, den Stierköpfigen im Auge zu behalten, und sein Herz machte jedes Mal wilde Sätze, wie ein ungezähmtes Jungpferd.

Solange Heriodon mit den »Neuen« beschäftigt war, kümmerte er sich kaum um Rowarn. Der junge Nauraka durfte sich überall frei bewegen, ohne einen ständigen Begleiter bei sich zu haben. Dafür waren die Federschlangen allgegenwärtig. Ihre in vielen Farben schillernden dünnen, speerlangen Körper schwebten von Federschwingen getragen in einiger Höhe über der Schlucht und warfen kleine Schatten wie Pfeile herab. 

Rowarn sehnte sich immer dringlicher fort von diesen beengenden Steilwänden, wünschte sich, er könnte mit den Chalumi fliegen, hinaus aus der Schlucht. Er wollte wieder Weite sehen, Hügel und Wälder und freies, blühendes Land. Die jetzige Bewegungsfreiheit war zwar immer noch besser, als in seinem ersten winzigen Verlies dahinzuvegetieren, und er sollte wohl dankbar dafür sein. Trotzdem fühlte Rowarn sich deswegen nicht weniger gefangen, und das zermürbte ihn zunehmend. 

Tatsächlich hätte er inzwischen einiges darum gegeben, ins Übungsviereck steigen zu dürfen und wenigstens das Schwert zu führen, um zu wissen, dass er es noch konnte. Um sich vorzumachen, dass dies Teil seiner Ausbildung war und er nach Abschluss hier herausdurfte, zusammen mit Windstürmer. 

Dem kleinen Falben erging es nicht viel besser. Tag und Nacht war er angebunden und durfte sich nie frei bewegen. Wenn er überhaupt noch wieherte, waren es nur klägliche Laute, und sein Kopf hing traurig nach unten. In seine Augen war stumpfe Niedergeschlagenheit getreten. Er fing an, sich aufzugeben.

Wenn Rowarn also zu lange mit der Flucht wartete, war es bald zu spät für sie beide. Dann brachten sie den Willen nicht mehr auf. 

Ja, Heriodon wusste, was er tat.

Der Schmied erwartete Rowarn schon und schnauzte in seine Gedanken: »Wird Zeit, dass du kommst, Faulpelz! Hier, bring diese Waffen zu Heriodons Haus, dort werden sie schon erwartet. Pack dich, ich hab nich’ den ganzen Tag Zeit!«

Rowarn ächzte, als er schwer beladen wurde, und stolperte schwitzend zu dem Felsengebäude. Natürlich war keiner da, der ihn erwartet hätte, das war nicht das erste Mal. Trotz der strengen Disziplin tranken die Hochrangigen gern mal einen über den Durst und erschienen erst gegen Mittag zum Dienst. Aber Rowarn wagte nicht, auch nur ein kleines Messer zu stehlen. Das wäre zu plump und auffällig. 

Er musste es anders angehen. Was bedeutete, er brauchte einen Verbündeten. Das sollte nicht so schwierig sein, mochte man meinen. Er war schließlich nicht der einzige Gefangene, der für allerlei Tätigkeiten eingesetzt wurde. Als Heriodons Knappe hatte er regelmäßig die Sachen des Generals zu pflegen und Zugang zu fast allen Örtlichkeiten. Inzwischen schien man ihm auch weitgehend zu vertrauen. Möglicherweise, weil er bald dem magischen Einfluss ausgesetzt und umgewandelt werden sollte. Tatsächlich schien es so, als wäre jeder Einzelne hier überzeugt davon, dass eine Flucht unmöglich war.

Umso mehr klammerte Rowarn sich daran. Er sollte jemanden finden, den er irgendwie bestechen konnte. Rowarn hatte schon an eine der Dienstmägde oder Lustsklavinnen gedacht, es aber dann verworfen. Die Frauen hier in diesem Lager, wenn sie keine Soldatinnen waren, waren zwar genauso Gefangene wie er, aber eingeschüchterte, unterdrückte Kreaturen, die es nicht wagten, aufzubegehren. Ein zu hohes Risiko.

Rowarn vermutete ohnehin, dass nahezu alles, was ihm aufgetragen wurde, gleichzeitig dazu diente, um ihn zu studieren, herauszufordern. Festzustellen, wie weit er gehen würde. Wie lange er dieses Spiel durchhielt. Auch wenn Heriodon sich nicht unmittelbar mit ihm abgab, ließ er ihn doch nie aus den Augen. Und dann, wenn er es am wenigsten erwartete, wurde Rowarn plötzlich zum Gespräch geholt.

Einmal hatte Rowarn bei einem Gelage der Befehlshaber auftragen müssen. Ihm war fast schlecht geworden bei dem, was er da alles zu Gesicht bekommen hatte. Der Heermeister war der Einzige, der sich nicht daran beteiligte. Er saß abseits, mit einem Pokal Wein in der Hand, und beobachtete alles aus kalten Augen.

Schließlich wollten sie auch mit Rowarn einen Spaß veranstalten. Einer der Offiziere drängte ihm ein Mädchen auf. »Nimm sie dir, das ist ein Geschenk des Himmels! Ein gesunder junger Kerl wie du, und die ganze Zeit ohne jedes Vergnügen.« Natürlich wollten sie alle dabei zusehen und sich amüsieren, und wer wusste, was noch. Das Mädchen hatte Rowarn angefleht, das Spiel mitzumachen, aber er hatte sie gepackt, zu Heriodon gezerrt und ihm hingehalten. »Nach Euch, Herr«, sagte er. »In so einem Fall steht mir das Vorkosten nicht zu.« Die Offiziere hatten brüllend gelacht. Rowarn ließ das Mädchen los, das schluchzend flüchtete. Heriodon musterte Rowarn einen langen Augenblick, dann nickte er grinsend. »Du lernst dazu. Geh, dein Dienst ist beendet.«

Alles nur eine Prüfung, dachte der junge Ritter, während er scheppernd die Waffen und Schilde fallen ließ.

Und da kam auch schon Gonarg anstelle des Hauptmanns. Es war einfach unvermeidlich, ihm immer wieder zu begegnen.

Rowarn zeigte auf die Waffen. »Willst du sie zählen?«

Gonarg grinste. »Nicht nötig. So dumm bist du nicht. Außerdem geht mich das nichts an, ich bin nur der Lagermeister. Meinetwegen versteckst du eine ganze Rüstung unter deinem rissigen Hemd.« Er trug Rowarn auf, Essen an Gefangene zu verteilen, und zwar tiefer in den Felsen, wo er bisher noch nie gewesen war, weil der Zugang streng bewacht wurde. »Der Junge, der das bisher getan hat, ist auf unerklärliche Weise verschwunden.« Gonargs Auge glitzerte. »Er war beinah so hübsch wie du.«

Rowarn war schon aufgefallen, dass einige Offiziere eine Schwäche für Knaben hatten. Bei Heriodon war er sich nicht sicher, ob er überhaupt eine Schwäche für irgend etwas hatte. Der General war immer kalt und unnahbar. Ein grauer Stein.

»Ich habe noch eine Menge zu tun«, wandte er ein.

»Dann solltest du dich besser beeilen.«

Rowarn blieb nichts anderes übrig, als diese Aufgabe auch noch zu übernehmen. »Kann mir nicht wenigstens einer beim Tragen helfen?«, fragte er den Koch mürrisch, der ihm zwei schwere Töpfe an die Schultertrage hängte.

»Wird Zeit, dass du erwachsen wirst, Zuckerpüppchen«, gab der Zwerg zurück und drückte ihm den Brotkorb in die Hand.

Rowarn wankte an den beiden Wachen vorbei, die keinen Blick für ihn übrig hatten, und betrat einen stillen, langen, halbdunklen Gang. Von den meisten Gefangenen konnte er kaum etwas sehen, wenn er Schale und Wasserkrug durch das Gitter schob. Sie hielten sich in der Dunkelheit und rührten sich nicht; er konnte nicht erkennen, wer oder was sie waren. Schweigend arbeitete Rowarn sich Zelle für Zelle vor.

Und dann, im letzten vergitterten Raum, sah er endlich den Visionenritter wieder. Er kauerte wie die anderen fast im Dunkel auf einer Pritsche und regte sich nicht, aber Rowarn erkannte ihn sofort. Fast konnte er die Aura spüren. Der junge Ritter konnte sich kaum halten vor Freude, Angmor endlich anzutreffen. So lange schon hatte er herauszufinden versucht, wo der Held gefangen gehalten wurde. 

Heriodon hatte nicht gelogen, was dessen Behandlung betraf. Er hatte dem Visionenritter sogar die Rüstung gelassen, nur die Waffen fehlten. Auch der kostbare Helm mit den gebogenen Widderhörnern und der Gesichtsmaske war noch da, aber das war kein Wunder. Niemand außer Angmor selbst konnte den Helm abnehmen, er war durch einen Zauber fest mit dem Haupt verbunden. Ein Bann des Ordens, wie Olrig erzählt hatte; kein Visionenritter hatte je sein Gesicht offenbart. 

Und Angmor trug den Helm noch aus einem weiteren Grund: Sein Gesicht war durch einen Angriff von Femris furchtbar verunstaltet. Einst hatte eine neugierige Magd sich nicht zurückhalten können und Angmor heimlich beobachtet, als er sich allein wähnte und den Helm abnahm. Schreiend und dem Wahnsinn nah war sie davongelaufen. Olrig hatte ferner schaudernd von einem Moment während eines gemeinsamen abendlichen Spaziergangs berichtet, als Angmor sein Gesicht nur mit einer Kapuze verhüllt und der Zwerg einen Blick auf das vernarbte Kinn geworfen hatte.

Die Herkunft der Visionenritter war stets geheim gehalten worden. Es hieß, dass Angmor der Letzte von ihnen sei. In der kaum vergangenen Schlacht hatte er Femris beinahe überwunden. Beinahe.

Und nun war er dank Rowarn hier.

»Herr Angmor«, rief Rowarn leise.

Der Visionenritter drehte leicht den Kopf. »Rowarn? Bist du das, Junge?« Freude schwang in der tiefen Stimme mit. Angmor erhob sich und kam mit unsicheren, leicht schwankenden Schritten zur Gittertür. Rowarn wollte eine Warnung ausstoßen, als er sah, dass Angmor nicht rechtzeitig anhielt, doch zu spät. Der Visionenritter stieß an das Metall. Vorsichtig tastete er das Gitter ab, die Handschuhe hatte er abgelegt. Dann streckte er eine Hand hindurch.

»Große Götter«, stieß Rowarn erschüttert hervor und ergriff die suchende Hand. »Was haben die mit Euch gemacht ...«

»Nichts«, antwortete Angmor.

»Aber Ihr ... Ihr seid ...«

»Blind? Mach dir keine Sorgen. Das geht vorbei. Das ist Teil meiner Schwäche nach einer Schlacht wie dieser. Und ... nach einem Kampf gegen Femris. Ich werde mich schneller erholen als er.« Er tastete Rowarns Gesicht nun mit beiden Händen ab, und der junge Ritter fühlte die rauen, kühlen Finger über sich gleiten, die ihn zugleich seltsam wärmten. »Aber du«, fuhr Angmor fort. »Geht es dir gut? Zumindest dein Gesicht scheint unversehrt ... selbst in der Dunkelheit meines Geistes sehe ich dich schimmern ...«

»Ja, sie behandeln mich gut. Ich weiß nicht, warum.«

»Wissen sie, wer du bist?«

»Nein, Herr, ich habe nichts gesagt. Ich habe auch keine Fragen beantwortet«, gab Rowarn Auskunft. 

»Ich weiß nicht, wie lange wir schon hier sind, ich schwanke stets zwischen Licht und Dunkelheit. Es kommt mir fast wie eine Ewigkeit vor. Ich konnte nicht in Erfahrung bringen, wie es dir geht, daher bin ich froh, dich endlich wohlauf vorzufinden.«

»Herr Angmor, ich habe ver...«

Angmor zuckte plötzlich zurück, seine Hände fuhren an den Helm, und er stöhnte leise. Er drehte sich zur Seite und stützte sich mit der Schulter an der Tür ab. »Geh jetzt, Rowarn«, erklang seine gepresste Stimme. »Ich brauche Ruhe.«

»Was habt Ihr?«, flüsterte Rowarn tief beunruhigt. Diesen großen, mächtigen Mann so ... schwach zu erleben, ängstigte ihn mehr als alles andere.

»Es ist nichts weiter«, versuchte der Visionenritter herunterzuspielen. »Kaum von Bedeutung.«

»Ich werde etwas gegen Eure Schmerzen auftreiben«, sagte Rowarn verzweifelt. Er fühlte sich hilfloser und schuldiger denn je.

»Nichts an diesem Ort kann mir Linderung verschaffen«, murmelte Angmor müde. »Manchmal glaube ich, dass meine Kräfte zurückkehren, aber dann bin ich schwächer als zuvor ...« 

Rowarn legte die Hände ans Gitter und sah sich um. Die Wachen standen reglos vorn am Eingang und kümmerten sich nicht um ihn. Vielleicht war diese Begegnung Absicht gewesen und gehörte zu seiner »Erziehung«: zu sehen, dass Ardig Hall wirklich verloren war, weil auch der letzte Visionenritter gefallen war. Ein schwacher Gefangener, nutzlos und kraftlos. »Ich bringe Euch hier raus«, sagte Rowarn bitter. »Ich arbeite jeden Tag daran, Herr. Wir werden von hier entkommen, ich finde einen Weg, komme, was da wolle. Schließlich ist es meine Schuld, dass ...«

»Red keinen Unsinn, Kind«, unterbrach der Visionenritter mit gedämpfter Stimme. »Du trägst an nichts Schuld. Wir haben die Schlacht verloren, das ist alles. Es wird eine andere geben, die uns den Sieg bringt. So läuft das immer.« Die Kräfte verließen ihn endgültig, und er rutschte langsam an den Gitterstäben entlang zu Boden. Ein unterdrücktes Wimmern drang unter dem Helm hervor. 

Rowarn rüttelte an den Stäben. »Herr!« 

Eine der Wachen blickte nach dem lauten Ausruf her. »He, was treibst du da? Was brauchst du so lange? Komm zurück!«

»Du musst gehen, Rowarn«, sagte Angmor gepresst. »Wir sprechen uns ein andermal wieder.« Er stützte sich mit einem Arm auf, erhob sich und taumelte zurück in die Dunkelheit seines Verlieses.

Rowarn zitterte am ganzen Leib, den Mann so zu erleben. Die Verzweiflung drohte ihn zu überwältigen. Vielleicht sollte er sich endlich auf seine dämonische Natur besinnen und in seinem Inneren nach verborgenen Kräften suchen, die sie hier herausbrachten. Und das so schnell wie möglich. Wie es aussah, gab es überhaupt niemanden mehr, den er um Hilfe bitten, auf dessen Stärke er vertrauen konnte. Außer ihm selbst.



Als Rowarn nach draußen kam, erblickte er Moneg, zum ersten Mal seit seiner Gefangennahme. Ohne nachzudenken, ohne auch nur einen Lidschlag zu zögern, ließ er alles fallen und rannte los. Bedenkenlos gab er sich der Raserei hin, die in diesem Moment nur von Vorteil sein konnte.

Gaddo, der ein wenig hinter Moneg ging, bemerkte Rowarn als Erster und wollte dem Freund eine Warnung zurufen, doch es war bereits zu spät.

»Immer noch unaufmerksam und selbstbewusst?«, schrie Rowarn, während er wie ein Herbstgewitter über den überraschten Mann hereinbrach. »Nun wirst du bezahlen, Verräter!«

Er hatte kein Schwert, aber das brauchte er auch nicht. Er hatte gelernt, den ganzen Körper als Waffe einzusetzen. Und er war sehr schnell. 

Der erste Schlag traf mit Wucht die Wange, knapp über dem schon einmal gebrochenen Kiefer, der zweite ging in den Magen, und ein Fußtritt warf Moneg endgültig um. Umgehend waren Warinen zur Stelle, um Rowarn aufzuhalten, der den so lange aufgestauten Hass und Zorn hinausschrie, Moneg bespuckte und auf ihn eindrosch wie auf einen Sandsack. Zu viert mussten sie sich an Rowarn klammern, bis sie ihn endlich wegzerren konnten. Moneg lag zusammengekrümmt auf dem Boden, das Gesicht blutüberströmt, und an seinem Körper würden sich wahrscheinlich bald schwarz und blau verfärbte Schwellungen zeigen. 

Gaddo stellte sich schützend vor seinen Freund, als Rowarn, immer noch in der Raserei gefangen, sich mit unglaublicher Gewalt von den vier schweren Warinen losriss. Seine Augen verschossen blau glühende Blitze. »Hör auf!«, schrie der Soldat. »Bist du denn wahnsinnig geworden?«

»Weg von ihm!«, befahl der Warine, der sich als Erster wieder aufrappelte.

»Tod dem Verräter!«, schrie Rowarn mit sich überschlagender Stimme und deutete anklagend auf Moneg. »Wie könnt ihr einen Wurm verteidigen und am Leben lassen, der den Soldaten neben sich verrät, der Seite an Seite mit ihm gekämpft hat?«

Daraufhin zögerten die Warinen.

Rowarn schäumte fast wie ein tollwütiges Tier. »Er hat nicht Ardig Hall verraten, oder seinen Kriegsherrn, sondern mich, den Kampfgefährten! Nur durch ihn bin ich in Gefangenschaft geraten!«

Die Dämonenblütigen wandten sich Moneg zu. Gaddo umfasste in panischer Angst seine Schulter und zerrte ihn hoch. »Steh auf, bei allen Göttern, Moneg, stell dich aufrecht hin!«

»Schluss jetzt!«, donnerte eine Stimme dazwischen. Gonarg war eingetroffen, und hinter ihm näherten sich Heriodon und der schwarzhäutige Stierdämon. »Sofort auseinander, das gilt auch für euch!«, herrschte er die Warinen an.

»Wir haben sie getrennt«, sagte einer von ihnen. »Aber das war vielleicht ein Fehler.« Er spuckte Moneg vor die Füße. »Hoffe nicht mehr auf Unterstützung.« Damit ging er, und die anderen drei mit ihm.

Moneg hatte sich einigermaßen erholt, leicht gekrümmt stand er da und wischte sich das Blut aus dem Gesicht.

»Was geht hier vor?«, erklang Heriodons raue, harte Stimme.

»Nur eine kleine Auseinandersetzung unter Soldaten«, spielte Gonarg die Tatsachen herunter. »Rowarn ist wie jeder Knappe oft das Ziel von gutmütigem Spott, er fordert es geradezu heraus. Jetzt hat er beweisen wollen, dass er durchaus kämpfen kann.«

»So.« Der General musterte Rowarn durchbohrend.

Der junge Ritter wich dem Blick nicht aus, während er gleichzeitig die Augen des Dämons auf sich gerichtet fühlte. Dessen Nüstern kräuselten sich, als ob er witterte. Sollte er es ruhig spüren, die ganze Welt mochte es wissen, dass auch er einer von den Dämonen war. Ihm war jetzt alles egal.

»So etwas dulde ich nicht«, sagte Heriodon streng.

Gonarg meinte: »Ich glaube, Herr, Rowarn ist unterfordert. Er sollte bei den Kämpfen eingesetzt werden. Sonst kommt er nur auf dumme Gedanken.«

»Mag er sein hitziges Temperament an einem Dämon abkühlen«, schnaubte der schwarze Riese. Seine Stimme hallte geisterhaft. Spitze Reißzähne ragten ihm aus dem Maul, und seine Augen glühten gelb.

Rowarn wandte sich ihm mutig zu. Jetzt oder nie. »Seid Ihr Nachtfeuer?«

»Nein, ich bin Tracharh der Taur«, antwortete der Dämon.

Rowarn schüttelte den Kopf. »Dann habe ich kein Interesse an Euch und kämpfe nicht.«

Gonarg zeigte ein verblüfftes Gesicht. 

Tracharh fletschte die Zähne, augenscheinlich war er amüsiert über die Dreistigkeit des Winzlings vor ihm. Bevor Heriodon etwas sagen konnte, fragte er: »Weshalb interessiert ein Würmchen wie du sich ausgerechnet für Nachtfeuer?«

»Meine Angelegenheit«, knurrte Rowarn. Die Raserei kochte immer noch in ihm. Warum sollte er sich vor dem Taur fürchten? Er hatte nichts zu verlieren außer seinem Leben. Und an dem lag ihm im Moment nicht viel. Es wäre sowieso am besten, wenn es endlich vorbei wäre.

Der Stierköpfige, der ihn um mehr als halbe Mannslänge überragte, neigte den mächtigen Schädel zu ihm herab und blies ihm seinen feurigen Atem ins Gesicht. »Du weißt nicht, wer Nachtfeuer ist, nicht wahr? Sonst wärst du nicht so tollkühn, närrisches Bürschlein. Ich könnte dich mit meinem Atem umpusten, aber er bräuchte dich nur anzusehen, um dich zu töten. Du hast keinerlei Vorstellung, worauf du dich da einlassen willst.«

»Das ändert nichts«, beharrte Rowarn und weigerte sich, auf das warnende Stimmengeläut in seinem Inneren zu hören. Fashirh hatte ihn schon einmal gerügt, weil er Nachtfeuers Namen leichtfertig erwähnt hatte.

Der Gehörnte lachte hohl. Es klang, als ob man in eine bodenlose Schlucht riefe. »So wisse denn, Nachtfeuer wurde seit über siebenhundert Jahren nicht mehr in diesen Gefilden gesehen, weil er in seinem Reich gebraucht wird. Vorwitziger Narr! Er ist der Herrscher des Dämonenlands von Waldsee. Er gehört zu den Mächtigsten dieser Welt. Niemand wagt es, sich ihm in den Weg zu stellen oder ihn gar herauszufordern!«

Das hatte Fashirh ihm trotz seiner eindringlichen Warnung nicht gesagt. Natürlich, Rowarn hatte seinen Racheschwur nicht gegen irgendeinen Dämon geleistet; wie hätte es auch anders sein können. Das wäre ja zu einfach gewesen. Jedoch änderte es nichts, Rowarn musste zu seinem Schwur stehen, so oder so. Immerhin, dachte er bei sich, entstamme ich also in jeglicher Hinsicht königlichen Geblüts, und damit muss von der Macht meines Vaters auch etwas auf mich übergegangen sein. 

Doch eines konnte nicht stimmen, was Tracharh gesagt hatte. »Aber ich habe ihn gesehen, in der letzten Schlacht ... Er trug Femris vom Feld. Es war ein Zwielichtgänger, ich bin sicher!«

Heriodon und Tracharh wechselten einen Blick. »Unmöglich«, widersprach der Dämon. »Ich weiß nicht, wen du gesehen hast, aber Nachtfeuer war es nicht.« 

»Und wer, wenn nicht Nachtfeuer, hat dann Königin Ylwa von Ardig Hall umgebracht?«, fauchte Rowarn. »Wie soll ich mir das ausgedacht haben?«

»Da ist was dran«, meinte Tracharh, »doch geschah dies vor über einem Jahr. Möglicherweise war es nur ein Gefallen an Femris, denn danach muss Nachtfeuer sich wieder zurückgezogen haben. Er hielt sich seither nicht mehr im Heer auf, das weiß ich sicher. Denn ich bin froh darum wie so viele andere.« Er schob die lange Kralle seines Zeigefingers unter Rowarns Kinn und hob es zu sich an. Rowarn hatte das Gefühl, als würden sich die glühenden Augen auf den Grund seiner Seele brennen. »Interessantes, keckes Knäblein«, schnurrte er. »Dein Schüler sagst du, Heriodon?«

Rowarn konnte den Blick kaum ertragen. Seine Augen schienen zu schmelzen, aber er wich nicht aus. Der Schweiß rann ihm die Schläfen hinunter, und er schluckte krampfhaft. Was auch immer Dämonisches in ihm ruhen mochte, jetzt war davon nichts zu merken. Der schaurigen Ausstrahlung dieses riesigen schwarzen Geschöpfs ausgesetzt zu sein war schmerzhaft. Rowarn spürte keinerlei Verwandtschaft. Nichts, was es ihm leichter machte.

Doch auch Tracharh erkannte ihn nicht, begriff Rowarn verdutzt. Der Taur spürte zwar offensichtlich, dass in dem jungen Gefangenen etwas steckte, das nicht menschlich war, konnte es sich aber augenscheinlich nicht erklären. Er war interessiert, wollte auf magische Weise mehr herausfinden, doch so einfach schien es nicht zu sein.

»Allerdings«, antwortete der Heermeister ihm. »In den nächsten Tagen will ich mit seiner Ausbildung beginnen.«

»O ja ... das würde mir auch gefallen.« Der Taur ließ Rowarns Kinn los und richtete sich auf. »Komm, Heriodon, überlassen wir diese lächerliche Angelegenheit dem Lagermeister. Es gibt für uns Wichtigeres zu tun.«

Der General nickte. Doch beim Gehen sagte er leise zu Rowarn: »Wir sprechen uns noch.«

Als sie weit genug entfernt waren, wandte Gonarg sich Rowarn und Moneg zu. »Moneg, lass dich versorgen. Und du, Rowarn, für dich werde ich mir eine besondere Aufgabe ausdenken, sobald du wieder klar denken kannst. Einstweilen denk im Loch darüber nach, ob du noch einmal die Beherrschung verlieren willst.«

»Nur dir gegenüber«, knurrte Rowarn, der immer noch viel zu wütend war, um sich jetzt von einem gewöhnlichen Menschen einschüchtern zu lassen.

Gonarg winkte zwei Warinen herbei, die gerade vorbeikamen. »Du«, sagte er eindringlich zu Rowarn, »bist bald an der Reihe, ein Dubhani zu werden.« Er wandte sich Moneg und Gaddo zu. »Aber vorher seid ihr beide dran, das verspreche ich euch.«

Moneg spuckte einen blutigen Schleimbatzen aus. »Was muss man dafür tun, um mit Heriodon so gut zu stehen?«, fragte er mit schiefem und unverkennbar anzüglich gemeintem Grinsen.

Im nächsten Moment lag er wieder am Boden und spuckte den nächsten Zahn aus. Gonarg hatte blitzschnell zugeschlagen, und Moneg hatte Glück, dass der Kiefer auch diesmal hielt.

»Es kann von Vorteil sein, ein Gehirn zu besitzen«, sagte Gonarg ruhig. »Und jetzt verschwindet, ihr zwei, bevor ich euch ebenfalls einsperre.« Er nickte den beiden wartenden Warinen zu. »Schafft den jungen Idioten ins Loch, bis morgen früh.«

Rowarn ging gleichgültig mit.



Der junge Ritter verbrachte eine jämmerliche Nacht. Aus Angst vor der Eliaha tat er kein Auge zu, was alles nur noch schlimmer machte. Er befand sich wirklich in einem Loch, in die Erde gegraben und mit einer Platte verschlossen, die kein Licht hineinließ. Das poröse Gestein ließ wenigstens Luft hindurch, aber das war kaum ein Trost. Rowarn musste zusammengekauert ausharren, er konnte sich nicht bewegen, die Haltung verlagern oder die schmerzenden Beine ausstrecken. Seine Muskeln verkrampften sich, und auch das musste er reglos erdulden.

Es wäre stockdunkel gewesen, wenn Rowarn nicht von seinem Schimmer umgeben gewesen wäre. Aber was half ihm das?

Allerdings bereute er nichts. Er bedauerte lediglich, dass Moneg noch am Leben war. Das nächste Mal würde er ihn töten, bevor ihn jemand aufhalten konnte. Und danach war Gonarg an der Reihe.

Sich vorzustellen, was er mit jedem Einzelnen machte, lenkte Rowarn ab und ließ ihn sogar fast vergessen, in welcher Lage er sich befand.

So verging die Zeit, hin- und hergerissen zwischen Niedergeschlagenheit, körperlichem Schmerz und Wut.



Am nächsten Morgen holten sie ihn raus. Rowarns ohnehin lichtempfindliche Augen wurden nach der langen Dunkelheit vom plötzlichen grellen Licht gepeinigt, und er war völlig übermüdet, weil er immer nur kurz eingenickt war, um erschrocken wieder hochzufahren. 

Verkrümmt lag er auf dem staubigen Boden und presste die Augenlider fest aufeinander, hielt sich zudem die Ohren zu, weil auch die schwirrenden Geräusche nach der isolierten Stille zu viel für ihn waren.

»Der ist fertig«, hörte er gedämpft jemanden in seiner Nähe sagen. »Wenn ihn Heriodon erst in die Mangel genommen hat, gebe ich ihm höchstens noch ein oder zwei Tage; so wenig, wie an dem dran ist.«

Noch lange nicht, dachte Rowarn bebend. Er konnte sich kaum wach halten, aber vorerst durfte er nicht schlafen.

Es brauchte einige Zeit, bis er seine verkrampften Glieder entspannen, sich ausstrecken und langsam aufrichten konnte. Hohn und Spott der Dubhani interessierten ihn nicht, das konnte ihn nicht treffen. Welten lagen zwischen ihnen, und sie waren nur das Fußvolk des Feindes, von geringer Bedeutung. Vorsichtig öffnete er die Lider, gerade rechtzeitig, um einen Warinen kommen zu sehen, der ihn grob hochriss.

»Du hast Arbeit, Faulpelz!«, herrschte er ihn an. »Los, beweg dich!«

Er stieß Rowarn vor sich her, der halb blind über den Platz stolperte. Hunger und Durst bohrten in seinen Eingeweiden, und er wollte nicht wissen, wie er aussah.

»Augenblick.« Gonarg verstellte ihm den Weg. »So wird er seinen Knappendienst nicht verrichten. Der Heermeister duldet keine Nachlässigkeit und Verwahrlosung! Schleift ihn einmal durchs Wasser und gebt ihm etwas Frisches zum Anziehen.«

Die Warinen gehorchten dem Befehl mit Vergnügen. Sie tauchten und zogen Rowarn so lange durch eine Pferdetränke, bis er völlig durchweicht war, dann warfen sie ihm verschlissene, aber immerhin saubere Sachen hin. Wenigstens war er jetzt wieder einigermaßen wach. Das Wasser stammte aus einer Quelle unter den Felsen, die frisch und kalt im stetigen Strom die Tränken füllte.

Rowarn beeilte sich mit dem Knappendienst, damit er rechtzeitig zur Stelle war, wenn das Essen an die hochrangigen Gefangenen verteilt werden sollte.

Als er zu Angmors Zelle kam, erwartete ihn der Visionenritter bereits. Rowarn war freudig überrascht, dass er heute in gewohnter Stärke dastand, von der mächtigen Aura umgeben. Angmor konnte auch wieder sehen, wie der junge Mann an den Kopfbewegungen erkannte.

»Herr«, wisperte er selig. »Geht es Euch gut?«

»Ja«, antwortete der Visionenritter mit volltönendem Klang in der tiefen Stimme. »Ich werde mich bald wieder vollständig erholt haben. Gelegenheit dazu habe ich hier drin genug.«

»Heriodon rührt Euch nicht an, nicht wahr?«

»Natürlich nicht. Er weiß, dass ich Femris gehöre. Darüber ist er nicht besonders glücklich, denn zwischen uns besteht eine alte Fehde, die auch ich gern austragen würde. Aber darauf werden wir beide noch ein wenig warten müssen.«

Rowarn seufzte. »Ihr solltet gar nicht hier sein. Vielleicht, wenn Aschteufel Euch nicht im Stich gelassen hätte ...«

»Er hat mich nicht im Stich gelassen, Rowarn«, unterbrach Angmor. »Ich erteilte ihm den Befehl zu verschwinden, kurz bevor ich das Bewusstsein verlor, und gab ihm meine Waffen mit. Dazu ist er ausgebildet. Aschteufel weiß, was er zu tun hat, und er weiß auch, wo ich bin.«

Rowarn konnte es kaum glauben. Ob Windstürmer ebenfalls dazu fähig wäre? »Ich habe leider keine Ahnung, wo genau wir uns befinden.«

»Auf der Ostseite, jenseits des Goldflusses«, bestätigte Angmors Antwort Rowarns vage Vermutung. »Ungefähr zehn Tagesreisen von Ardig Hall.«

»So lange war ich bewusstlos?«

»So lange waren wir alle bewusstlos. Heriodon versteht sein Handwerk. Man nennt dieses Gebiet hier Sternfall, weil es nach dem Einschlag eines mächtigen Himmelskörpers geschaffen wurde, damals, im Krieg der Titanen von Waldsee. Rund um den Einschlag ist die Erde aufgerissen und hat nach einem Beben diese tiefe, vielfach verzweigte Schlucht geschaffen, die seit der Inbesitznahme durch Femris Splitterkrone genannt wird.«

»Gibt es eine Möglichkeit, hier herauszukommen?«, flüsterte Rowarn aufgeregt.

Angmor nickte. »Mehrere. Deine Aufgabe ist es, für genügend Ablenkung zu sorgen, sodass ich hier freikomme. Der Rest ist einfach.«

Es war seltsam, aber Rowarn glaubte ihm. Plötzlich wurde ihm ganz leicht zumute, und die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf.

Nach einer Weile sagte Angmor: »Du siehst furchtbar aus, Junge.«

»Ich bin nur völlig übermüdet, weil ich nicht geschlafen habe«, winkte Rowarn ab. »Macht Euch keine Gedanken um mich, Herr. Ich habe schon die ganze Zeit nach einem Weg gesucht, wie wir hier rauskönnen. Jetzt werde ich meine Bemühungen verdoppeln. Aber Heriodon scheint sich sehr sicher zu sein, wenn er mich zu Euch lässt ...«

»Keiner ist jemals von hier entkommen, Rowarn«, versetzte Angmor. »Zumindest hat Femris dieses Gerücht verbreitet. Aber er hatte noch nicht oft Mächtige in seinem Gewahrsam, und mich erst recht nicht.«

»Was ist mit den anderen Gefangenen hier?« Rowarn deutete um sich.

Angmor schüttelte den Kopf. »Vergiss die, wir können ihnen nicht helfen. Sie sind bereits halbe Dubhani, wie alle anderen Gefangenen Ardig Halls. Es geht nur um uns drei.«

»Drei?«, sagte Rowarn verdutzt.

»Ja. Tamron ist auch hier.«

Rowarn traf es fast wie ein Schlag. »Er lebt? Und ist hier?« Beinahe hätte er geschrien.

»Es gibt am Ende dieses Gangs, dort hinten«, Angmor deutete durch das Gitter in einen finsteren Bereich tief im Fels, »eine Kammer, und darin liegt Tamron. In tiefer Bewusstlosigkeit, wie ich mitbekam, und das schon seit seiner Gefangennahme.«

»Warum hat Heriodon Tamron nicht getötet?«

»Er kann ihn noch benutzen, Rowarn. Ein Unsterblicher verfügt über eine besondere Lebenskraft, die Heriodon dienlich ist.«

Rowarns Augen strahlten auf, und Angmor sagte hastig: »Wirst du dich wohl zurückhalten! Du stehst hier wie ein Leuchtfeuer auf den Klippen des Meeres.«

»Verzeihung.« Das war die Nacht im Loch, einfach alles, wert gewesen. Nun gab es keinen Zweifel mehr: Sie würden es schaffen! Dass der väterliche Freund Tamron noch lebte, erfüllte Rowarn so mit Zuversicht und Freude, dass er glaubte, sofort alles aus den Angeln heben zu können.

»Du musst gleich gehen, Rowarn, aber ich will dir zuvor noch etwas sagen.« Angmors Stimme klang sehr ernst. »Ich habe mir die größten Vorwürfe gemacht, weil ich dir die Wahrheit über Nachtfeuer offenbart habe, doch die Vision kam über mich und zwang mich zu sprechen. Ich konnte es nicht verhindern. Sag mir: Wie hast du das verkraftet?«

Rowarn blickte ihm ruhig in die starre Gesichtsmaske. Jetzt konnte ihn nichts mehr erschüttern. »Überhaupt nicht«, antwortete er aufrichtig. »Das werde ich nicht bis zu dem Tag, da ich meine Rache vollendet habe.« Er legte die Hand ans Gitter. »Wisst Ihr, dass sich hier ein Dämon aufhält?«

»Ja, Tracharh. Er und Fashirh haben dieselbe Mutter. Unser Freund wird nicht sehr erfreut sein zu erfahren, dass sein jüngerer Bruder sich Femris verpflichtet hat.«

»Er ist ein Scheusal, aber darum geht es mir nicht. Tracharh sagte mir, dass Nachtfeuer der Herrscher des Dämonenlands ist. Ist das wahr?«

»Allerdings«, bestätigte Angmor. »Aber darüber, und auch über deine Rache, sollten wir ein andermal sprechen.«

»Wenigstens bin ich von zweifach edler Herkunft«, sagte Rowarn bitter. »Und macht Euch keine Vorwürfe. Ich musste es erfahren. Und kein Zeitpunkt wäre dafür der Richtige gewesen.«

»Mag sein.« Angmor drehte den Kopf. »Geh jetzt, die Wache wird aufmerksam.«

»Wir werden bald frei sein«, flüsterte Rowarn und ging.